Freitag, 29. Mai 2020

Man wird nicht bestraft, weil man Scheiße baut, sondern weil man keine Ausrede hat

Deswegen ist es ratsam, ein wenig Zeit vergehen zu lassen, ehe man den Eltern von seinen Jugendstreichen erzählt. Oder man lässt es bleiben, sofern den Eltern der Humor fehlt. Mir fällt übrigens auf, dass das hier schon die zweite Weisheit in Folge ist, die ein böses Wort beinhaltet. Das erinnert mich an meinen Physiklehrer aus dem zehnten Schuljahr, von dem ich mich bis heute frage, wie man den auf junge, unfertige Menschen loslassen konnte - selbst wenn er, was den Schutz der Jugend vor bösen Einflüssen angeht, doch ziemlich rigoros war. So erinnere ich mich, dass wir ihn einmal kurz vor den Weihnachtsferien, als es im Unterricht nicht mehr so viel zu tun gab, überreden konnten, einen Film anzusehen. Damals gab es in den Schulen diese "Medienkästen" - Rollschränke, die man von Klassenzimmer zu Klassenzimmer schob und die einen Röhrenfernseher mit Videorecorder enthielten. Eigentlich waren sie dazu da, um (meist veraltete) Lehrfilme zu sehen, aber manchmal benutzten wir sie auch in Freistunden oder eben kurz vor den Ferien, um uns Spielfilme oder auch eigens geschaffene Erzeugnisse kreativer Mitschüler anzusehen. Damals überredeten wir den Physiklehrer, dass wir uns Halloween H20 ansehen durften. Ich bemerkte, dass er schon skeptisch war, bevor der Film anfing, und sobald es losging, fing er schon an, mitzuzählen, wie oft in den Dialogen das Wort "Scheiße" vorkam. Bei der Szene, in der ein Jugendlicher in einem Stuhl sitzend mit den Kufen seiner Eishockeyschuhe im Gesicht aufgefunden wurde, schaltete er dann ab. Ein Freund von mir war zwei Klassen unter mir und hatte denselben Lehrer - er zeigte einmal in dessen Stunde einen selbst kreierten Film mit Actionfiguren, den dieser jedoch abschaltete, als in einer Szene eine selbst gebastelte Tonfigur zerhackt wurde. Heute ist jener Freund Filmregisseur und Drehbuchautor. So kann es gehen!

Nun, ihr wisst ja, dass hierzulande der American Way of Life großen Einfluss hat - so wie überall auf der Welt. China ist zwar bereits im Begriff, sich als zweite Wirtschaftsmacht zu etablieren, aber die amerikanische Popkultur steht nach wie vor auf der ganzen Welt, auch dort, unangefochten an der Spitze. Der Kabarettist Lukas Resitarits meinte einst, die Sowjetunion hätte sich unter anderem deswegen aufgelöst, weil selbst in kommunistischen Ländern das Anglo-Amerikanische als viel cooler galt als das Russische - und das, obwohl Ost-Produkte damals bereits besser waren als ihr Ruf. Aber selbst wenn man in den Sechzigern weder Jewgeni Jewtuschenko noch Bob Dylan nicht verstanden hat, so hat Letzterer wenigstens auf Englisch unverständlich gesungen. Man muss dazu allerdings auch sagen, dass Englisch weitaus leichter zu lernen ist als Russisch. Und der Einfluss des Amerikanischen macht sich nicht nur in Mode, Musik und Filmen bemerkbar - auch die amerikanisierten Formen von Halloween, dem Valentinstag und dem Weihnachtsmann haben wir bereits aus den USA übernommen. Und auch unsere Sprache ist immer mehr von Anglizismen geprägt - in der Weltmetropole Berlin etabliert sie sich beispielsweise immer mehr, ob als Verkehrssprache oder im beruflichen Alltag, es gibt sogar ganze Studiengänge auf Englisch. Klar ist es ein wenig schade, dass die sprachliche Vielfalt in Europa immer mehr in den Hintergrund gedrängt wird - aber das ist, wie gesagt, der Preis dafür, dass wir näher zusammenrücken, und überdies ist Sprache ohnehin dem stetigen Wandel unterworfen, weshalb ich das jetzt nicht so schrecklich finde wie vielleicht manch anderer. Es ist eben wichtig, sich untereinander zu verstehen.

Die englische Sprache ist im gesamten deutschsprachigen Raum natürlich in der IT-Branche sehr präsent, auch wenn englische Worte hier mitunter etwas eingedeutscht werden, wie etwa "downloaden". Mein Bruder und ich haben uns eine Zeit lang den Spaß gemacht, Computerbegriffe übersetzt zu verwenden, was zu so schönen Worten wie "Heimseite" und "Winzigweich-Fenster" führte. Für Facebook gibt es ja bis heute die abwertende Bezeichung "Fratzenbuch". Und auch in der Jugendsprache sind Anglizismen schon seit mehreren Generationen präsent - man denke etwa an das Wort "cool", das in den 80ern und 90ern seinen Siegeszug feierte und bis heute gebräuchlich ist. Da es inzwischen jedoch auch von Älteren benutzt wird und deshalb nicht mehr dazu dient, sich von den Erwachsenen abzugrenzen, ist es inzwischen kein reines Jugendwort mehr - auch wenn es nach wie vor eher in einem jugendlichen, modernen Kontext angewendet wird. Und es gibt Anglizismen, die so, wie sie im Deutschen angewendet werden, im Englischen nicht korrekt sind - weshalb sie in der Sprachwissenschaft auch als Schein- oder Pseudoanglizismen bezeichnet werden. Und über diese möchte ich heute mal sprechen.

Ich erinnere mich noch, als man vor etwa 20 Jahren anfing, vom Handy-Bildschirm als "Display" zu sprechen - heute sagt man ja eher "Screen", durch die neue Funktion auch "Touchscreen". Mir fiel damals jedoch auch auf, dass besonders ältere Semester, die noch nicht so umfangreich in Englisch unterrichtet worden waren, das Wort als "Displee" mit Betonung auf die letzte Silbe aussprachen. Ich fand das ärgerlich und lustig zugleich - allerdings noch, ohne zu bedenken, dass auch das Wort "Handy" für ein Mobiltelefon ein Scheinanglizismus ist. Handy bedeutet im Englischen soviel wie "praktisch" bzw. "handlich" - was natürlich bereits zeigt, wie das Mobiltelefon zu seinem Namen gekommen ist. Der Begriff "Handy" für Mobiltelefon etablierte sich Anfang der 1990er Jahre, aber woher er kommt, ist umstritten - man nimmt unter anderem an, dass es sich um eine Produktbezeichnung handelt, die damals von der Elektronik-Firma Motorola geprägt wurde. Ähnlich, wie auch Tesa bzw. Tixo, Maggi oder Uhu ja eigentlich Produktbezeichnungen sind. In England wird das Handy übrigens mobile phone, in Amerika cell phone genannt. In Singapur sagt man übrigens handphone - Scheinanglizismen sind also nicht nur im Deutschen zu finden.
Schon in meiner Zeit in England ist mir aufgefallen, dass das Wort chips im kulinarischen Bereich dort anders verwendet wird als bei uns. Als "Chips" bezeichnet man bei uns hauptsächlich Kartoffelchips, also dünne, frittierte oder gebackene Kartoffelscheiben, die mit Salz und manchmal auch noch mit anderen Gewürzen wie Paprikapulver oder Rosmarin bestreut werden. Während man diese in den USA ebenfalls als potato chips bezeichnet werden, sind chips in England das, was bei uns Pommes Frites sind - man denke nur an den dort so beliebten Snack fish and chips. Unsere Chips werden dort als crisps bezeichnet, während Pommes in Amerika french fries oder auch einfach nur fries heißen. Obwohl sie ja eigentlich aus Belgien und nicht aus Frankreich stammen. Natürlich haben wir auch andere Chips - ich mochte als Kind beispielsweise die Hummerchips im China-Restaurant sehr gern, sie so komisch auf der Zunge zwicken.
Dahingehend könnte das Wort Shooting im englischsprachigen Raum über Leben und Tod entscheiden - denn das, was man bei uns damit meint, nämlich einen Termin, um Fotos zu machen, wird dort als shoot bezeichnet. Ein shooting ist im Englischen die Bezeichnung für eine Schießerei - also nichts, was man unbedingt erlebt haben will, sofern man noch ganz richtig im Kopf ist. Entsprechend ist auch das Wort "Shooting Star" das, was im Englischunterricht häufig als false friend bezeichnet wird - bei uns wird jemand, der buchstäblich über Nacht ein Star geworden ist, so bezeichnet. Im Englischen sagt man dazu eher rising star oder highflyer - ein shooting star ist dort eine Sternschnuppe. Auch die Bezeichnung "Public Viewing" ist im deutschsprachigen Raum weitaus harmloser als im englischsprachigen - hier werden als solche Sportveranstaltungen bezeichnet, die via Bildschirm in Lokalen oder auch im Freien übertragen werden. Auf Englisch bedeutet public viewing soviel wie Leichenschau, man kann jedoch auch - weitaus harmloser - den Tag der offenen Tür so bezeichnen. Trotzdem ist es wohl eher unangebracht, in England oder Amerika von public viewing zu sprechen, wenn man Sportübertragungen meint.
Das Drive-in bezeichnet im deutschsprachigen Raum ja bekanntlich die Möglichkeit, Essen per Auto in bestimmten Restaurants, hauptsächlich McDonald's, zu bestellen und abzuholen. Im englischsprachigen Raum wird dies als drive-thru bezeichnet. Möglich, dass man bei uns deswegen "Drive-In" sagt, weil die Laute th und r für viele deutsche Muttersprachler schwer auszusprechen sind, vor allem, wenn sie aufeinander folgen. Ähnlich wie bei dem Song The Lion Sleeps Tonight, in dem das Zulu-Wort mbube aus dem südafrikanischen Original zu "Wimowe" abgewandelt wurde, weil englische Muttersprachler Schwierigkeiten hatten, es auszusprechen. Allerdings frage ich mich, warum dann das Wort "Thriller" auch im Deutschen gebräuchlich ist - wobei vor allem viele Ältere sowieso eher "Sriller" sagen. Wahrscheinlich würden sie das Drive-in dann wohl einfach als "draif-sru" bezeichnen. Drive-in bezeichnet im Englischen übrigens das Autokino, was man häufig bereits als Kind durch die Fernsehserie The Flintstones (Familie Feuerstein) lernte.
In der Kosmetik gibt es ebenfalls mehrere dieser false friends - beispielsweise wird beim Schminken die Grundierung oft schon als "Make-up" bezeichnet. Im Englischen ist das Wort make up für Schminke zwar auch gebräuchlich, aber die Grundierung heißt hier foundation. Dieses Wort hat sich durch die YouTube-Schmink-Videos allerdings auch bei uns schon etabliert. Ein anderes missverständliches Wort ist Peeling, die englische Bezeichnung für "Schälen". Im Deutschen wird hier der Vorgang bezeichnet, mit dem die abgestorbene Hautschicht mechanisch oder chemisch vom Körper abgetragen wird - im Englischen, je nach Anwendung, face scrub oder body scrub. Auch die Damenunterwäsche kann zu Missverständnissen führen - denn Slips sind im Englischen etwa panties, briefs oder knickers. Das Wort slip hat vielerlei Bedeutung, beispielsweise "gleiten" oder "rutschen", aber keine davon hat mit unseren Unterpumpeln zu tun. Auch der String, der bei uns als Kürzel für den "String Tanga" verwendet wird, bezeichnet im Englischen eine Schnur - der String Tanga selbst heißt in dieser Sprache thong.
Aber auch bei den Küchengeräten kann man ab und an auf "falsche Freunde" treffen - so ist das, was wir hierzulande als "Mixer" bezeichnen, im englischsprachigen Raum ein blender. Der Oldtimer ist im Englischen ebenfalls nicht dasselbe wie im Deutschen. Während wir damit ein altes Automodell meinen, also das, was im Englischen classic car oder vintage car heißt, ist ein oldtimer dort ein alter Mann. Missverständlich ist auch das Wort Beamer, bei uns die Bezeichnung für einen Projektor. Auf Englisch wird dieser also video projector oder digital projector genannt. Beamer ist in Nordamerika ein Slang-Ausdruck für BMW, in Großbritannien wird jedoch auch ein bestimmter Wurf beim Cricket als beamer bezeichnet - oder auch der Kettenschärer in der Weberei. Letzteres könnt ihr übrigens jetzt schön selbst googeln, hihihihihi! Ein sehr beliebter Anglizismus ist ja in Zeiten der Corona-Krise das Wort "Homeoffice" für Schreibarbeiten, die von zu Hause aus erledigt werden können. Das home office ist in Großbritannien das Innenministerium - gearbeitet wird dort from home oder remotely, man sagt aber auch remote working. Mir ist aufgefallen, dass auch in der heutigen Jugendsprache einige Scheinanglizismen herumgeistern - das Wort safe, das im Englischen "sicher" bedeutet, wird hier auch als Synonym für "garantiert" verwendet.
Und es gibt einige konstruierte Anglizismen, die es im Englischen gar nicht gibt. Dazu gehört beispielsweise der Hometrainer, ein Trainingsgerät für den Hausgebrauch, der auf Englisch exercise bike genannt wird. Oder auch der Streetworker, der im englischsprachigen Raum schlicht als social worker bezeichnet wird. Ein relativ neuer Scheinanglizismus ist der Shitstorm, der schon wieder ganz gut zu der Weisheit dieses Artikels passt, ist es doch wörtlich übersetzt ein "Sturm aus Scheiße" - bei uns bekanntlich ein Sturm aus Entrüstung, dem virtuell Ausdruck verliehen wird. Auch das Wort Castingshow gibt es nur im deutschsprachigen Raum. Der Begriff "Casting" hat sich bei uns ja schon seit längerer Zeit für den Auswahlprozess von Darstellern wie Schauspielern, Sängern, Tänzern oder Models für entsprechende Aufnahmen und Inszenierungen etabliert - als solcher wird er auch im Englischen genutzt. Die aus England stammende Castingshow wird in ihrem Mutterland allerdings als talent show bezeichnet - auch wenn letztendlich nicht unbedingt in allen dieser Shows die Talentiertesten das Rennen machen.
Scheinanglizismen gibt es natürlich, wie schon gesagt, nicht nur im Deutschen. Ich erinnere mich etwa an das Französisch-Lehrbuch, das wir im Unterricht am Gymnasium verwendet haben - dort war ein ganzes Kapitel dem "tattoo" gewidmet, ein Wort, das bei uns ja für "Tätowierung" genutzt wird. In Frankreich bezeichnete es aber offenbar ein Personenfunkgerät, also das, was man bei uns wohl als "Pager" bezeichnen würde. Der Pager hat sich in Österreich nicht durchgesetzt, aber wir kennen ihn aus amerikanischen Filmen und Serien, wo er in der Zeit, kurz bevor sich jeder ein Handy leisten konnte, offenbar von Personen jeder Altersklasse verwendet wurde, etwa, wenn jemand telefonisch nicht erreichbar war.

Die Liste ist natürlich noch lange fortzusetzen, aber allgemein kann man sagen, dass Scheinanglizismen, auch wenn viele sie als Gefahr für die deutsche Sprache sehen, andererseits auch beweisen, wie flexibel und lebendig Sprache sein kann. Ich erinnere in diesem Zusammenhang auch an das französischsprachige Kanada - die Franzosen machen sich oft über die Franko-Kanadier lustig, weil ihr Französisch sich anders entwickelt hat als das des Mutterlands. Andererseits ist das amerikanische Englisch ja bekanntermaßen auch in vieler Hinsicht anders als das britische, und auch in anderen englischsprachigen Ländern haben sich inzwischen eigene Varietäten entwickelt. Ich denke, es ist durchaus nicht falsch, über den eigenen Tellerrand zu schauen, anstatt zu glauben, dass die eigene Ansicht die einzig richtige ist. Bon voyage!

vousvoyez

Mittwoch, 27. Mai 2020

Tausende Fliegen können sich nicht irren, wenn es sich um Scheiße handelt!

Und Scheiße haben wir ja in letzter Zeit genug gehört - inzwischen werden die Maßnahmen ja immer mehr gelockert, was das "Diktatur"-Geschrei der Rechtsgestrickten und Aluhüte noch lächerlicher erscheinen lässt, und auch meine unfreiwilligen "Corona-Ferien" sind mittlerweile zu Ende. Da ich mich jedoch in letzter Zeit ausreichend mit den "Aufgewachten" beschäftigt habe, will ich heute mal wieder was anderes erzählen. Und deshalb möchte ich diesen Artikel einem Medium widmen, das heute ein Symbol für Vintage ist, dessen Bedeutung aber, wie ich glaube, in der Vergangenheit stets unterschätzt wurde.

Wie die meisten von euch wissen, bin ich in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts geboren - damals, als Madonna und Michael Jackson die Charts stürmten, Rap noch der neue heiße Scheiß war und noch nicht jeder Haushalt mit einem Computer ausgestattet war. Und es natürlich auch noch kein Internet gab. Was bedeutete, man musste seine Musik noch vorwiegend analog konsumieren - über Radio, Fernsehen oder Tonträger. Die Compact Disc wurde damals noch als neumodische Kuriosität betrachtet, weshalb die Schallplatte nach wie vor das vorherrschende Audio-Medium war. Erst in den Neunzigern wurde das gute alte Vinyl allmählich von den silbernen Polycarbonat-Scheiben abgelöst, und als ich Teenager war, hätte sich niemand mehr mit den viel zu großen, unhandlichen und furchtbar empfindlichen Platten abgegeben - bis auf Dicjockeys sowie ein paar ältere HiFi-Freaks, die stolz auf jeden Kratzer in der schwarzen PVC-Scheibe waren, da er der Beweis dafür war, dass man dieses oder jenes Album schon kurz nach seiner Entstehung besessen und nicht erst viel später gekauft hatte, und die die bessere Klangleistung der CD wegwerfend als "steril" und "unpersönlich" abtaten. Zu Beginn der 2000er Jahre waren CD-Brenner auch für Privathaushalte erschwinglich, so dass ein regelrechter Hype um selbst gebrannte Silberscheiben ausbrach. Nachdem jedoch bereits damals die ersten MP3-Player auf den Markt kamen und damit das Online-Streaming von Musik immer beliebter wurde, war bereits zu dieser Zeit abzusehen, dass auch die Compact Disc irgendwann einmal überholt sein würde.

Was mich betrifft, ich habe das Zeitalter der Schallplatte eher als Zuschauerin erlebt, denn ich war viel zu klein, um den Plattenspieler im Wohnzimmer bedienen zu können, der Bestandteil des damals üblichen HiFi-Turms war - eine Stereoanlage, bestehend aus den Einzelelementen Radio, CD-Player, Kassettenrecorder und Plattenspieler, die übereinander gestapelt waren, oft in einem HiFi-Rack, einem speziellen Regal, das in unserem Fall aus durchsichtigem Plexiglas bestand. Und ich konnte als kleines Kind gerade mal den Kassettenrecorder bedienen, nicht aber den höher stehenden Plattenspieler. Zudem waren die Erwachsenen natürlich auch nicht so begeistert, wenn so ein Zwerg mit seinen schmierigen Patschhändchen die teuren Scheiben begrapschte. Und so war das Audio-Medium meiner Kindheit weder CD noch Schallplatte, sondern die Kassette.

Die Tonbandkassette, in den frühen 1960er Jahren von Philips auf den Markt gebracht, begann in den Siebzigern ihren Siegeszug bei der Jugend und war spätestens in den Achtzigern aus keinem Kinderzimmer mehr wegzudenken. Kassetten waren handlich und robust, und Kassettenrecorder waren im wahrsten Sinne des Wortes kinderleicht zu bedienen - und so wurden die Eltern tagaus, tagein mit den Titelmelodien von Pumuckl, Benjamin Blümchen, TKKG, Bronti Supersaurier oder Bibi Blocksberg genervt. Noch als Teenager saßen meine älteren Geschwister in meinem Zimmer, um Lego zu spielen und ihre alten Pumuckl-Kassetten, die sie mir vererbt hatten, zu hören. Natürlich hatte die Kassette auch den ein oder anderen Nachteil - beispielsweise nutzte sich das Magnetband mit der Zeit ab, und manchmal verließ es auch sein Gehäuse, was zum sogenannten "Bandsalat" führte. Diesem konnte man aber zumindest durch Drehen der Zuführspule mittels eines Bleistifts oder auch des kleinen Fingers manchmal noch Herr werden. Beliebt ist ja das Meme mit dem Bleistift und der Kassette nebst der Erklärung, dass Jugendliche von heute den Zusammenhang nicht kapieren würden - allerdings dürften sie es inzwischen alle schon wissen, da dieses Bildchen schon oft genug geteilt wurde. Und es war auch, zugegeben, etwas mühsam, immer wieder vor- oder zurückspulen zu müssen, wenn man einen bestimmten Song hören wollte.

Auch wenn es vielen nicht bewusst war, so hat die Kompaktkassette doch eine nicht unerhebliche Bedeutung in der Geschichte der Audio-Medien. Während für CDs ein portables Abspielgerät, genannt "Discman", entwickelt werden konnte - der sich großer Beliebtheit erfreute, auch wenn er in keine Hosentasche von normaler Größe passte (hatten die Dickies-Jeans deshalb so übergroße Taschen?) -, konnte man schlecht mit einem laufenden Schallplattenspieler auf der Straße herumlaufen. Es war die Kassette, die der erste mobile Tonträger war - durch Autoradios mit Kassettendeck, durch portable Kassettenrecorder (in Österreich "Kassettinger" genannt) und nicht zu vergessen durch den Walkman, 1979 von Sony auf den Markt gebracht und binnen kürzester Zeit der letzte Schrei unter Jugendlichen.  Darüber hinaus eröffnete die Kassette die Möglichkeit, Töne nicht nur wiederzugeben, sondern auch aufzunehmen. Als Kinder liebten wir es eine Zeit lang, unsere Stimmen auf Kassette aufzunehmen und abzuspielen. Im Volksschulalter fanden wir es cool, alle Schimpfwörter zu krähen, die uns einfielen. Außerdem konnte man Schallplatten, CDs oder auch andere Kassetten auf diese Weise ganz einfach kopieren. Das Kassettendeck gehörte praktisch zu jeder Stereoanlage, es gab Radios mit Kassettendeck, es gab Kassettenrecorder mit zwei Decks und es gab Kassettenrecorder für Kinder mit Handmikrophon. Technische Neuerungen erlaubten es, Kassetten zu kopieren oder Radiosendungen aufzunehmen, die nicht von Nebengeräuschen beeinflusst waren. Meine Großmutter mütterlicherseits nahm Sendungen anfangs noch auf, indem sie Radio und Kassettenrecorder aneinanderstellte, so dass man im Hintergrund immer ihre Schritte hören konnte oder wie sie die Sendung kommentierte.

Beliebt bei Kindern und Jugendlichen war vor allem auch das Aufnehmen von Songs aus dem Radio. Das war natürlich ein riskantes Unterfangen - oftmals lassen Radiosender ja die letzten Takte eines Songs weg, oder der Moderator spricht noch, während das Lied schon anfängt, oder er beginnt schon zu sprechen, wenn es noch nicht zu Ende ist, oder - Katastrophe! - der Song wird vom Verkehrsfunk unterbrochen. Da hat man es heute natürlich wesentlich leichter; früher musste man, sobald einem ein aktueller Hit gefiel, entweder vor dem Radiorecorder lauern oder eine ganze Sample-CD kaufen, meist in Form einer Doppel-CD wie den Bravo-Hits, die jeweils etwa 60 Songs enthielt, von denen einen gerade mal drei interessierten. (Trotzdem kaufte man natürlich jedes Mal die neue.) Ein guter Grund, warum ich dieser Zeit nicht unbedingt nachweine. Dennoch möchte ich euch noch eine kleine Geschichte erzählen, die ihren Ursprung genau in jener Zeit hat: Die Geschichte eines Songs, der in den Achtzigern aus dem Radio auf Kassette aufgenommen wurde und der heute ein Internet-Phänomen ist.

Wenn man sich den Song so anhört, kann man sich kaum vorstellen, dass um ihn ein solcher Hype entstanden ist - er klingt wie zahlreiche andere New-Wave-Songs, die in den Achtzigern zu hören waren. Und durch die alte Aufnahme ist der Text trotz digitaler Optimierung auch noch kaum verständlich. Vielleicht ist aber gerade das auch der Grund, warum die Faszination dafür so groß ist - er klingt vertraut, wie ein Lied, das man kennt, dessen Namen einem jedoch nicht einfällt. Und die Missverständlichkeit des Textes erinnert daran, dass man auch die eigenen Lieblingssongs oft jahrelang falsch verstanden hat. Trotzdem war dieser Song eines der heißesten Online-Themen im letzten Sommer - hauptsächlich deshalb, weil bis heute keiner weiß, von wem er stammt. Der beliebteste öffentlich-rechtliche Radiosender in Österreich bei der Jugend war früher Hitradio Ö3. In Deutschland war es in den Achtzigern der Sender Musik für junge Leute auf NDR 1 mit dem aus Großbritannien stammenden DJ und Musikexperten Paul Baskerville, der vor allem von der Jugend im Nordwesten des Landes sehr oft gehört wurde. In dieser Sendung wurde, vermutlich im Jahr 1984, jenes Lied gespielt, das heute als Most Mysterious Song in the Internet bekannt ist, und von einem ihrer Hörer neben zahlreichen anderen Liedern auf Kassette aufgenommen. Etwa zwanzig Jahre später packte dessen Schwester die Neugier, und nachdem sie jahrelang erfolglos im Internet nach der Identität des Songs gesucht hatte, veröffentlichte sie 2007 einen digitalisierten Ausschnitt auf einer deutschen Website, die auf den Synthie-Pop der Achtziger spezialisiert war, sowie auf einer kanadischen Musikseite, auf der obskure Songs zu Identifikationszwecken hochgeladen werden können. Aber niemand konnte sagen, was das für ein Song war, und als der Ausschnitt 2011 auf YouTube hochgeladen wurde, schien es niemanden zu interessieren.

Erst im letzten Jahr erlangte der Most Mysterious Song die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit - nämlich durch einen sechzehnjährigen Schüler aus São Paulo, der trotz seines jungen Alters Gefallen an dem Sound der Post-Punk-Ära gefunden hatte. Über YouTube stieß er auf das unbekannte Song-Segment, und auch er war neugierig, was die Hintergründe dieses Liedes wohl sein könnten. Er lud den Ausschnitt auf seinem eigenen YouTube-Kanal sowie in mehreren Reddit-Communities hoch, in der Hoffnung, das Geheimnis endlich zu lüften. So entspann sich eine angeregte Diskussion auf Reddit und Discord, einer beliebten Chatroom-Seite für Gamer, und mehrere tausend User begannen, sich auf die Suche nach Anhaltspunkten zu machen. Aber selbst Rückfragen an Baskerville kamen zu keinem Ergebnis - er erklärte, dass der Song sich möglicherweise in seiner Sammlung aus mehr als 10.000 Platten befinden könnte, aber diese alle durchzuhören, würde natürlich Jahre dauern, und zudem ist Baskerville auch noch immer berufstätig. Neben diesen Platten spielte er allerdings auch Kassetten von Underground-Bands aus Osteuropa, die über die Berliner Mauer an ihn geschickt worden waren - es könnte also durchaus möglich sein, dass auch dieser Song von einer Ostband stammt. Das wenige, was von dem Text noch zu erahnen ist, klingt nach dem schlechten Englisch, das von Deutschen gesungen werden könnte, es kann aber ebenso sein, dass die Band aus Österreich oder auch aus Polen oder Russland stammt. Manche halten es auch für möglich, dass der Sänger ein Amerikaner ist, der versucht, britisch zu klingen.

Im Laufe des letzten Sommers sind auf verschiedenen Social-Media-Plattformen zahlreiche Hinweise und Spuren aufgetaucht, die jedoch alle ins Leere führten - und das, obwohl sehr viele oft noch sehr junge Leute akribisch Recherche betrieben haben. Und es spinnen sich natürlich auch zahlreiche Legenden um den Song, den keiner kennt - etwa, dass die Mitglieder der Band, die ihn gespielt hat, bei der Flucht über den Eisernen Vorhang alle erschossen wurden. Oder auch, dass der Song aus einem Paralleluniversum oder gar von Außerirdischen stammen soll - das funktioniert aber nur, wenn man an eine dieser beiden Möglichkeiten glaubt, und natürlich stellt sich auch die Frage, warum die Musik von Außerirdischen ausgerechnet wie mittelmäßiger Synthie-Pop klingen soll. Das erinnert mich an die Geschichte des amerikanischen Sängers Sixto Rodriguez, dessen beide Alben ohne sein Wissen in Südafrika bekannt wurden (im Gegensatz zu seiner Heimat), wo das Gerücht kursierte, der mysteriöse Musiker, der auf den Platten zu hören ist, habe sich auf offener Bühne umgebracht. Der Unterschied zu dem Most Mysterious Song ist allerdings, dass Rodriguez selbst schon eine interessante Persönlichkeit ist und musikalisch sicherlich weitaus mehr Talent hat als die unbekannten Interpreten des mysteriösen Liedes.

Ob die Identität des Most Mysterious Song jemals gelüftet werden wird, vermag heute noch keiner zu sagen. Fest steht, dass die Faszination, wie schon gesagt, nicht in dem Inhalt besteht, sondern darin, dass es in Zeiten wie diesen, in denen praktisch alles via Internet erfahrbar ist, noch etwas gibt, das man offenbar nicht herausfinden kann. Und sicher macht auch das Spiel des Rätselratens selbst noch einen zusätzlichen Reiz aus. Ich fürchte allerdings, sollte dieses Rätsel jemals gelöst werden, wird es für viele wohl eine bittere Enttäuschung sein - denn wahrscheinlich ist die Geschichte dahinter weitaus weniger spektakulär als die Legenden, die von den Suchenden gesponnen wurden. Möglicherweise hat die Band nur ein paar wenige einigermaßen hörenswerte Demos zustande gebracht und ist dann in der Versenkung verschwunden. Und auch, wenn das für viele kaum verständlich ist - es gibt Leute, die gar nicht reich und berühmt sein wollen. Es könnte genauso gut sein, dass die Musiker aus irgendeinem Grund gar nicht erkannt werden wollen. Und obwohl ich auf der anderen Seite ebenfalls neugierig bin, wer hinter diesem Rätsel eigentlich steckt, hegt ein Teil von mir tatsächlich den Wunsch, dieses Rätsel möge eines der wenigen ewig ungelösten bleiben, die es noch gibt - denn auch wenn das Leben mitunter spannende Geschichten schreibt, ist nichts so fesselnd wie die eigene Phantasie, meint ihr nicht auch? Bon voyage!

vousvoyez

Montag, 18. Mai 2020

Wer gesund ist, ist nur nicht richtig untersucht

Dieser Kommentar fiel vor wenigen Jahren einmal bei einer Unterhaltung über Zusatzversicherungen innerhalb meiner Familie. Obwohl ich bei meinem letzten Krankenhausaufenthalt vor vielen Jahren so den Eindruck hatte, dass Zusatzversicherungen auch Vorteile bringen - beispielsweise hatte man zumindest vor 15 Jahren noch freien Zugang zu einem Fernsehgerät. Das war allerdings noch vor der Erfindung von Smartphone, Tablet & Co. Heute würde das bei den meisten wohl nur noch ein müdes Lächeln hervorrufen.

Wie ich schon öfter bemerkt habe, sind es die neuen Medien, die im wesentlichen dazu beitragen, eine Zeit wie diese erträglich zu machen. Dennoch ist diese Krise für sehr viele eine Katastrophe - beispielsweise für Kunst- und Kulturschaffende, die etwa zwei Monate lang nahezu ignoriert wurden. Die Kritik an dieser Herangehensweise führte unter anderem zum Rücktritt der Kulturstaatssekretärin, von der sich alle einig sind, dass sie die Verantwortung übernommen hat für ein Berufsfeld, von dem sie nichts bzw. zu wenig versteht. Lukas Resitarits ging sogar so weit, zu erklären, dass eine Staatssekretärin überflüssig sei in einer Regierung, die diesen Posten nicht zu besetzen wisse. Dazu möchte ich mich allerdings nicht weiter äußern - ich möchte diesen Artikel lieber dazu nutzen, um über die Bedeutung von Kunst und Kultur im Allgemeinen zu sprechen.

Nun, die Kunst ist einer der Bereiche, bei denen ich es schon einige Male mit dem Dunning-Kruger-Effekt zu tun hatte - je weniger Ahnung jemand hat, desto eher glaubt er, sich ein Urteil darüber erlauben zu können, was Kunst ist und was nicht. Nun, ich kann verstehen, dass nicht jeder was mit scheinbar willkürlichen Klecksen auf einem Stück Leinwand anfangen kann, sofern er sich nicht mit den Hintergründen auseinandergesetzt hat. Aber gerade jenen, die glauben, als "Kunst" könne man ausschließlich Dinge betrachten, die wahnsinnig aufwändig sind, sei gesagt, dass "Kunst" nicht gleich "Handwerk" ist. Dieser Irrglaube ist beispielsweise auch dafür verantwortlich, dass viele Leute häufig der Ansicht sind, Fotografie könne niemals Kunst sein. Nun, Fotografie ist ein Handwerk, genauso wie Malerei und Bildhauerei zuallererst mal ein Handwerk ist - ob es zu Kunst wird, hängt immer ganz davon ab, was man daraus macht. Viele Leute hängen der Vorstellung an, Kunst hieße, etwas zu schaffen, von dem man denkt: "Das könnte ich nie." Und da seit Erfindung der handlichen Kamera jedes Kind fotografieren kann, kann das ja auch keine Kunst sein. Ebenso, wie ein paar einfache Formen niemals ein Kunstwerk sein können, weil die Tochter des Nachbarn sowas in ihrem Wochenend-Malkurs ja auch zustande bringt.

Nun ja - aber kann jedes Kind Fotografien schaffen, die einer Inge Morath, Astrid Kirchherr oder eines Man Ray würdig sind? Kann jeder Tölpel das Farb- und Formempfinden eines Wassily Kandinsky nachvollziehen? Wäre auch der Dümmste noch imstande, revolutionäre Ideen wie das Shreddern des eigenen Bildes als Protest gegen die überteuerten Kunstpreise oder ein Konzept wie den Dadaismus als Gegenbewegung zum Ideal der Kunst zu entwickeln? Ist die Tochter des Nachbarn auch dazu in der Lage, revolutionäre Ideen zu entwickeln, die Zeichen der Zeit auf noch nie dagewesene Art und Weise zum Ausdruck zu bringen, nicht nur von, sondern auch für ihre Kunst zu leben? Und wenn das alles keine Rolle spielt - was spricht dann dagegen, jeden Dahergelaufenen unterrichten zu lassen, da immerhin jeder schon mal in der Schule war? Wozu braucht ein Jugendsozialarbeiter eine Ausbildung, wenn er ohnehin nichts anderes tut, als mit Teenagern Fußball zu spielen? Warum lassen wir nicht jeden X-Beliebigen als Tierpfleger arbeiten, da er ohnehin nichts anderes zu tun hat, als Hunde und Katzen zu streicheln? Warum bitten wir nicht unseren Nachbarn, uns den Blinddarm herauszunehmen - immerhin hat er schon einmal in einer Fleischerei gearbeitet?

Die überwältigende Mehrheit der Cleveren unter euch *Schleim vom Bildschirm abwisch* hat bestimmt schon begriffen, was ich damit sagen will: Nicht alles, was einfach aussieht, ist auch einfach. Und auch der Kunstbegriff ist nicht einfach zu definieren - nicht umsonst wird in jedem Studium darüber diskutiert, das auch nur im entferntesten Sinne damit zu tun hat, egal ob auf praktischer oder auch nur auf wissenschaftlicher Ebene. Und ein Stück weit hängt es natürlich auch vom subjektiven Empfinden ab. Ich persönlich begreife eine kreative Tätigkeit beispielsweise als eine neue Art und Weise, an ein Problem heranzugehen - deswegen kann ich auch in Bereichen, die auf den ersten Blick überhaupt nichts mit Kreativität zu tun haben, wie beispielsweise der Mathematik, auch kreative Prozesse entdecken. Und auch wenn es vor allem kulturaffinen Menschen wie mir widerstrebt, das zuzugeben - am Ende des Tages sind auch Personen wie Helene Fischer "Künstler", wenn auch keine Angehörigen der "Hochkultur". Wobei ich das jetzt gar nicht böse meine - ich habe nichts gegen die Person Helene Fischer, ich finde sie nicht einmal unsympathisch, ich kann nur mit ihrer Musik einfach nichts anfangen. Und ehe irgendjemand mich als elitäre Kulturziege abstempelt: Auch ich höre nicht tagtäglich ausschließlich hoch anspruchsvolle Musik. Es gibt sogar noch ab und an Erzeugnisse aus den aktuellen Charts, die mir gefallen. Im übrigen kann ich aus eigener Erfahrung sagen, dass auch diejenigen, die sich ein möglichst intellektuelles Image aufbauen, ab und zu auch Momente haben, in denen sie sich mit dumpfer Berieselung zufriedengeben - auch der größte Geist muss sich ja mal entspannen können.

Dieses Unverständnis ist wohl auch der Grund, warum Kultur von vielen als reiner Luxus begriffen wird - da man Kunst weder essen noch anziehen noch sich damit waschen kann, ist sie wohl auch nicht "systemrelevant". Solche Argumentationen habe ich bereits vor der Corona-Krise schon häufig gehört - und aktuell scheinen viele die Ansicht zu vertreten, dass sich Kunst- und Kulturschaffende gefälligst hinten anzustellen haben. Nun, ich möchte an dieser Stelle daran erinnern, dass die Erträglichkeit des Lockdown auch durch Unterhaltung gewährleistet wurde, egal, auf welchem Niveau sie auch stattgefunden haben mag. Und viele scheinen ja auch kein Problem damit zu haben, dass Künstler für eine gewisse Zeit mal gratis arbeiten - die leben ja ohnehin nur von Luft und Liebe, oder nicht?

Nun, dieselben Leute, die da jetzt so große Töne spucken, jammern auch gerne darüber, dass ihr soziales Leben zurzeit auf Eis gelegt wird - ich möchte daran erinnern, dass auch Ausstellungen, Kinovorführungen, Konzerte und Theatervorstellungen durchaus ein soziales Ereignis darstellen und dass auch Restaurant- und Discobesuche Bestandteil des kulturellen Lebens sind. Und da vielerorts gerade das Autokino ein Revival erlebt, lehne ich mich mal so weit aus dem Fenster, um anzumerken, dass den meisten das Heimkino über kurz oder lang wohl doch nicht zu genügen scheint. Und dass die inflationäre Nutzung von Smartphones auch ein Hinweis darauf ist, dass wir eben doch nicht über längere Zeit ohne Input auskommen können. Und auch denjenigen, die ohne Theater, Kunstausstellungen oder Erzeugnisse des "Film noir" auskommen, sei gesagt, dass jeder in irgendeiner Form nach Unterhaltung verlangt - wenn man anerkennen soll, dass manchen Leuten Schlagerpartys, Fußballmatches oder Seifenopern wichtig sind, die genauso wenig als "systemrelevant" gelten können, sollte man auch akzeptieren, dass es Leute gibt, denen klassische Konzerte, Dichterlesungen und Theateraufführungen ebenso wichtig sind.

Die Teilnahme am kulturellen Leben wird im übrigen auch als Menschenrecht angeführt, ebenso, wie die eigene Kultur ausleben zu können - ganz abgesehen davon, dass eine vielfältige kulturelle Szene für eine gesunde Demokratie unabdingbar ist. Nicht zuletzt gehören Künstler zu den ersten, die unter Beschuss geraten, sobald sich eine Gesellschaft zu einer Diktatur hin entwickelt. Ich erinnere da nur an die Zeit des Nationalsozialismus, als jede Form von Kunst, die mit dem Regime nicht vereinbar war, als "entartet" klassifiziert wurde und als Bücher, die mit der vorherrschenden Ideologie nicht im Einklang standen, einem infamen Scheiterhaufen zum Opfer fielen. Ich möchte daran erinnern, dass Menschen sich schon in sehr frühen Jahren kreativ betätigten und dass künstlerische Tätigkeit auch Teil von Bildung und Erziehung ist. Kunst verändert nicht die Welt, sie ist aber immer der Spiegel der jeweiligen Gesellschaft, in der sie entsteht. Und wenn man sich Systeme ansieht, die den Menschen ausschließlich auf seine Grundbedürfnisse reduzieren (siehe Industrialisierung und Kommunismus), so muss man feststellen, dass wir eben keine Maschinen sind, die lediglich Energie benötigen, um zu funktionieren. Schon Kinder bringen ihre Eindrücke mit Hilfe von Stift und Papier zum Ausdruck, und Jugendliche nutzen meist Musik und Mode, um ihre eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Wer hat nie in seinem Leben unter der Dusche gesungen, in langweiligen Schulstunden Strichmännchen an den Rand des Heftes gekritzelt, ein Instrument gespielt, ein Outfit zusammengestellt, eine Wohnung eingerichtet, Gedichte geschrieben oder auf Familienfeiern ein Theaterstück aufgeführt? Wer hat nie in seinem Leben die Leere eines Augenblicks mit dem Lesen eines Buches, dem Schauen eines Films oder einer Serie, dem Hören von Musik ausgefüllt? Wer kann von sich behaupten, sich nie in seinem Leben kreativ betätigt zu haben, selbst wenn er sich selbst als eher unkreativer Mensch begreift?

Reden wir also Klartext: Die Persönlichkeit eines Menschen entwickelt sich sehr stark auch durch den kulturellen Einfluss. Aus Kultur erwächst ein gesellschaftliches Leben, durch sie entwickeln wir Rituale, sie stiftet Identität und sorgt dafür, dass wir uns immer weiter entwickeln. Sie schlägt Brücken zwischen verschiedenen Menschen und Gesellschaften, sie inspiriert, indem sie uns einen anderen Blickwinkel schafft, sie ist das Gedächtnis der Zeit und schafft gleichzeitig Werte. Und nicht zuletzt schulen wir dadurch unseren Geist, werden zum Nachdenken angeregt und entwickeln Gedanken, die auch außerhalb des künstlerischen Bereichs noch gültig sein können. Und nicht zuletzt ist Kunst und Kultur auch eine Grundlage für Bildung. Viele sind der Ansicht, dass die musischen Fächer in einer nicht auf kreative Berufe fokussierten Schule ruhig gestrichen werden könnten. Ich muss zugeben, dass ich den Musikunterricht im Gymnasium tatsächlich als eher überflüssig empfand, weil er dort ein reines Lernfach war - was bedeutete, man musste noch mehr pauken als ohnehin schon, um sich all die Geburtsdaten verschiedener Komponisten und die Bezeichnungen der unterschiedlichen Epochen merken zu können. Interessanterweise sind es weitaus weniger Leute, die dies für den Sportunterricht fordern, obwohl gerade dieser Leuten, die sportlich nicht ganz so begabt sind, die Lust auf Bewegung eher verdirbt, als dass er sie anregt. Aber Sport ist ja gesund, deswegen muss er auch unterrichtet werden, während künstlerische Tätigkeiten ja vollkommen sinnlos sind. Nun, jeden, der jetzt noch so denkt, möchte ich dazu anregen, diesen Artikel noch einmal von vorn anzufangen. Für alle anderen bringe ich es auf einen Nenner: Egal ob Kultur als systemrelevant empfunden wird oder nicht, auf jeden Fall ist sie systemimmanent - eine Gesellschaft ohne Kultur gibt es nicht, weil wir eben noch ein Leben jenseits von Essen, Trinken, Sex und Schlafen haben. Selbst in Gesellschaften, in denen Kunst und Kultur eher negativ betrachtet wird, entwickeln sich Subkulturen - sollte uns das nicht zu denken geben?

vousvoyez

Freitag, 15. Mai 2020

Könnte hier mal jemand mit dem Aufhören aufhören?

(c) vousvoyez
Diesmal habe ich das Vergnügen, euch eine Weisheit vorzustellen, die direkt aus der Muppet Show stammt. Wie ich finde, sagt sie aber auch sehr viel über uns Menschen aus, denn wir sind Weltmeister im Aufhören. Wir hören auf, uns krabbelnd fortzubewegen und uns von Muttermilch zu ernähren, wir hören auf, am Daumen zu lutschen und an den Fingernägeln zu knabbern, wir hören auf, mit Puppen zu spielen und Kuss-Szenen in Filmen eklig zu finden, wir hören mit der Schule auf und mit der Ausbildung - ob mit Abschluss oder ohne -, wir hören mit dem Rauchen auf, mit dem Trinken, mit dem Klavierspielen, mit dem Joggen, und am Ende hören wir sogar mit dem Leben auf. Es gibt jedoch eine Sache, mit der wir offenbar nicht aufhören können: Uns gegenseitig auf die Nerven zu gehen.

Es gibt möglicherweise den einen oder anderen unter euch (oder die oder das), der bemerkt hat, dass die Eierer-Liste eine weitere Kategorie in den unendlichen Weiten dieses Blogs geworden ist. Und ja, ich habe mich entschlossen, dieses Format fortzusetzen, weil ich bemerkt habe, dass es ganz offensichtlich angenommen wird, und weil ich es zeitweise auch sehr nützlich finde - zum Beispiel, um mir gewisse Dinge von der Seele zu schreiben. Wir befinden uns ja nach wie vor in den Fängen der Corona-Krise, und auch, wenn die Infektionszahlen erfreulicherweise tatsächlich stark zurückgegangen sind und das öffentliche Leben mittlerweile langsam wieder angekurbelt wird, so haben wir es noch keineswegs überstanden - weshalb dieser Artikel auch in die Kategorie "Wir müssen reden" fällt.

Top-Eierer Numero 6: Leute, die nicht dem Mainstream hinterherrennen

In Bezug auf die öffentlich-rechtlichen Medien wird ja von gewissen Leuten sehr oft von den "Mainstream-Medien" gesprochen, die angeblich "die öffentliche Meinung diktieren". Nun - der Begriff "Mainstream" stammt ursprünglich aus der Jazz-Musik und bezeichnet eine bestimmte stilistische Richtung. Natürlich können Begriffe mit der Zeit ihre Bedeutung erweitern, und so ist es auch mit diesem geschehen - so ist diese Bezeichnung schon seit längerer Zeit in der Popkultur geläufig. Als Mainstream wird in der Regel der Geschmack der Masse betrachtet, dem die Gegen- bzw. Subkultur gegenübersteht und der meist negativ behaftet ist. Anders gesagt: Mainstream ist das Gegenteil des Individualismus. Sich diesem Mainstream entgegenzustellen, ist nicht immer leicht, und Leute, die es dennoch wagen, werden häufig bewundert und geachtet.
Der am meisten gelesene Artikel meines Blogs ist jener, indem es um den Balanceakt der Glaubwürdigkeit in Bezug auf Medien geht und ja, auch die öffentlich-rechtlichen Medien sagen nicht immer die Wahrheit, und auch seriöse Journalisten sind von Meinungen beeinflusst. Über die Problematik mit Subjektivität und Objektivität habe ich ebenfalls schon mal geschrieben. Aber gerade deswegen habe ich ein großes Problem damit, dass man sowohl gewisse Medien als auch bestimmte Sachverhalte als "Mainstream" darstellt. Den "Mainstream"-Medien stehen ja die "alternativen" Medien entgegen, die man größtenteils im Internet findet. Nun, keiner von uns lässt sich gern als "Mitläufer" bezeichnen - wir alle wären gern diejenigen, die sich von der Masse abheben, und da das nicht jedem beschieden ist, wollen wir doch wenigstens etwas Besonderes sein und nicht zu jenen gehören, die blind irgendeine Meinung nachplappern. Das Ding ist halt - Top-Eierer Numero 6 bezeichnet Leute, die dem von ihm so gehassten "Mainstream" tendenziell mehr Glauben schenken als irgendwelchen Leuten aus dem Internet, zwar gern als "Mitläufer", ist es aber in Wirklichkeit selbst; nur, dass er halt nicht mit dem "Mainstream" mitläuft, sondern mit jenen, die sich gerne als die coolen Rebellen inszenieren. Er behauptet, er würde selbst denken und sich eine eigene Meinung bilden, in Wirklichkeit überlässt er das aber anderen. Und diese triggern seine Angst vor dem Mitläufertum, indem sie möglichst oft von "Mainstream" schwafeln und das Bild von den Schafen heraufbeschwören, die ohne Sinn und Verstand ihrem Leithammel hinterherlaufen - oder das vom Lemming, der sich zusammen mit seinen Artgenossen völlig blind in den Tod stürzt (im übrigen tun das Lemminge gar nicht - das ist ein Mythos, der durch eine Naturdokumentation von Disney aus den 1950er Jahren geprägt wurde). Das Paradoxe ist, dass diese Leute im gleichen Atemzug verlangen, dass man stattdessen ihnen blind hinterherläuft und sie nicht in Frage stellt, selbst wenn sie das Gegenteil zu behaupten scheinen.
Was mich an dem Begriff "Mainstream" so sehr stört, ist, dass er verharmlost - er erweckt den Eindruck, dass es sich etwa bei der Akzeptanz anderer ethnischer Gruppen, der Anerkennung wissenschaftlicher Erkenntnisse und historischer Tatsachen oder dem verantwortungsvollen Umgang mit einer Pandemie um eine Art Modetrend handelt, bei dem es lediglich um den persönlichen Geschmack geht. In diesem Fall hat Zuwiderhandeln jedoch weitreichendere Konsequenzen, als dass die anderen uns vielleicht auslachen, weil wir nicht modisch genug angezogen sind oder die falsche Musik hören. Neulich erklärte mir eine erwachsene Person in einer Facebook-Konversation, kein Chlordioxid zu trinken sei feige; das erinnert mich an Teenager, die andere dazu überreden wollen, Drogen zu nehmen, damit man zur coolsten Clique gehört. Und im übrigen haben diese Leute offenbar nicht mal den Mut, gegen tatsächliche Probleme zu protestieren - stattdessen basteln sie sich ein Phantasie-System und fordern auf einmal Menschenwürde, nachdem viele von ihnen mit Sicherheit in den "Absaufen"-Chor angesichts der afrikanischen Bootsflüchtlinge mit eingestimmt haben. Liebe Top-Eierer Numero 6: Ihr seid keine Jugendlichen mehr, die ihren Platz im Leben erst finden müssen - ihr seid erwachsene Menschen, die ihr Glück nicht davon abhängig machen sollten, ob bestimmte Menschen sie cool finden.

Top-Eierer Numero 7: Hygiene-Demonstranten

In den letzten Tagen beherrschen sie die Schlagzeilen: Leute, die auf die Straße rennen, um gegen die Corona-Maßnahmen zu demonstrieren. Nun, wie ich schon mehrmals erwähnt habe, ist es äußerst verständlich, dass momentan sehr viele Menschen unter der Situation leiden, und für mich ist sie auch nicht besonders spaßig. Das einzige, was ich mit ziemlicher Sicherheit sagen kann, ist, dass dieses Problem sich irgendwann wieder lösen wird - wann das geschieht und wie schlimm es in der Zwischenzeit noch werden wird, kann ich allerdings genauso wenig vorhersagen wie irgendjemand anders. Nun haben wir die Verbreitung von SARS Cov-2 ja zumindest in Österreich und auch Deutschland recht gut in den Griff bekommen - besser als viele andere Länder. Und dass die Maßnahmen jetzt langsam gelockert werden, ist ebenfalls notwendig und auch gerechtfertigt. Das Problem ist jedoch, dass es mittlerweile sehr viele Menschen gibt, die überhaupt nicht einsehen wollen, weshalb sie sich weiterhin einschränken sollen. Oft argumentieren sie damit, dass die Krankenhäuser ja leer seien und dass es die Krankheit ja überhaupt nicht gäbe oder aber auch, dass sie eigentlich völlig harmlos sei. Manche unterstellen den Öffentlich-Rechtlichen sogar, sie würden in Bezug auf die Opfer der Pandemie in Ländern wie Italien, Spanien oder den USA Lügen erzählen. Nun, mit leeren Krankenhäusern zu argumentieren ist in etwa so, wie wenn man sich gegen Krebs behandeln lässt und hinterher erklärt, die Behandlung sei überflüssig gewesen, weil man ja gar nicht gestorben sei. Ich bin nicht die einzige, die schockiert ist, wie erschreckend dumme Argumentationen bezüglich der Corona-Krise momentan im Umlauf sind. Ich bin nicht klüger als alle anderen, aber ich kann viele dieser Ansichten nicht anders nennen als dumm - und leider könnten sie uns allen über kurz oder lang großen Schaden zufügen.
Inzwischen gibt es viele, viele Leute, die auf die Straße rennen, um gegen die Maßnahmen zu demonstrieren. Nun, gegen Demonstrationen ist jetzt generell mal nichts zu sagen - wir leben in einer Demokratie, und zu dieser gehört es auch, dass man demonstrieren und seine Meinung äußern darf, ohne dafür bestraft zu werden. Und da kommen wir auch schon auf die Dummheit zu sprechen: Ist es nicht äußerst sinnlos, im Chor "Diktatur" zu schreien, während man sich auf einer genehmigten Demonstration befindet? Leider begnügen sich viele dieser Leute jedoch nicht damit, friedlich zu demonstrieren - in Deutschland ist es bereits zu gewalttätigen Ausschreitungen gekommen. Bei uns zu Hause waren die Auswirkungen noch nicht so dramatisch, aber auch ich habe an Bus- und Straßenbahnhaltestellen schon große Aufkleber entdeckt, auf denen Worte wie "Corona = Panikmache! Gesundheit totgeimpft! Totalüberwachung! Diktatur!" zu lesen waren. Ich möchte jetzt nicht näher darauf eingehen, dass viele dieser Leute, die jetzt von einer "Totalüberwachung" reden, ganz offensichtlich nichts dabei finden, ihr halbes Leben auf Social Media zur Schau zu stellen.
Nun, wie gesagt - es ist durchaus legitim, seine Meinung öffentlich kundzutun. Es ist auch durchaus gerechtfertigt, sich um die Zukunft Sorgen zu machen und Kritik an der Regierung und auch an den öffentlich-rechtlichen Medien und den Wissenschaftlern zu üben: Für Arbeiter aus dem Niedriglohnsektor, die sich mit Kurzarbeit nicht über Wasser halten können; dafür, dass sich an den Arbeitsbedingungen derer, die in "systemrelevanten" Berufen beschäftigt sind, wohl in Zukunft immer noch nichts ändern wird; Alleinerziehende, die zurzeit der Doppelbelastung von Beruf und Kinderbetreuung ausgesetzt sind; aber auch daran, dass sowohl Medien als auch Virologen wissenschaftliche Zwischenergebnisse veröffentlichen und so Verwirrung stiften. Das Problem an den sogenannten "Hygiene-" und "Querdenker"-Demos ist allerdings nicht nur, dass die Abstandsregeln vielerorts nicht beachtet werden, sondern vor allem auch, was für Leute sich zu diesen Protesten einfinden. Links- und Rechtsradikale, Reichsbürger, QAnon-Gläubige und andere Verschwörungsideologen scheinen ihre Differenzen vorübergehend vergessen zu haben - was manche Leute durchaus als positiv zu sehen scheinen, denn es komme ja jetzt drauf an, gemeinsam aufzustehen. Aussagen in diese Richtung halte ich für gefährlich naiv - will man wirklich mit Rassisten, Antisemiten und Reichsbürgern in Verbindung gebracht werden? Und diese Frage ist durchaus gerechtfertigt, denn spätestens wenn die Bilder der Proteste medial und viral im Umlauf sind, sieht man nur noch die, die am Auffälligsten sind - und das sind nun mal die, die Reichsbürgerfahnen schwingen und behaupten, Bill Gates wolle die Welt kontrollieren. Kein Mensch wird mehr unterscheiden können, wer aus welchen Gründen dabei ist, auch wenn noch so viele Fotos von Anne Frank hochgehalten werden: Im Gegenteil, die Instrumentalisierung eines Opfers der Shoa auf einer Demonstration, bei der auch Rechtsradikale und Antisemiten mitmarschieren, ist blanker Hohn. Ich erinnere nur an den Beginn der Flüchtlingsdebatte vor fünf Jahren: Da ging es am Ende auch nicht mehr darum, auf die Sorgen der Leute einzugehen und eine gemeinsame Lösung zu finden, sondern nur noch darum, Flüchtlinge unter Generalverdacht zu stellen. Liebe Top-Eierer Numero 7: Hört doch bitte einmal für ein paar Minuten auf, euch selbst zu bemitleiden und macht endlich die Augen auf!

Top-Eierer Numero 8: Schwurbel-Promis und Konsorten

Zuletzt möchte ich noch auf die Gurus von Top-Eierer Numero 6 und 7 eingehen: Auf diejenigen, die die aktuelle Pandemie für ihre Zwecke nutzen. Und ich rede hier nicht von dürren Influencer-Blondinen, die zu dumm sind, um zu wissen, dass man keine Toilettensitze ableckt, egal ob privat oder nicht - ich rede von jenen, die sich als die großen "Rebellen" inszenieren, die "die Corona-Lüge" "durchschaut" haben. Sie behaupten, dass wir alle "zwangsgeimpft" werden sollen (wie denn, wenn es noch gar keinen Impfstoff gibt?), dass man uns unsere "Freiheit" genommen hätte und wir in einer "Diktatur" leben (komisch, dass die dann immer noch ungehindert so viel Scheiß quatschen können). Sie sind diejenigen, die "die Wahrheit" kennen und "es" verstanden haben, sie sind diejenigen, die Recht haben, und alle anderen haben Unrecht. Komisch nur, dass sie nicht zu jenen Leuten gehören, die von der Materie tatsächlich Ahnung haben - oder seit wann sind vegane Köche, Sänger mit schlechten Texten, Choreographen für Casting-Shows, Schauspieler, Schnulzen-Regisseure und abgehalfterte Journalisten Experten für Virologie und Immunologie? Kinder, es gibt einen Grund, warum so ein Studium so lange dauert: Das Thema ist extrem komplex und hängt mit einer Menge anderer Fachgebiete zusammen.
Neben einem Attila Hildmann, der durch seine vegane Küche bekannt wurde, aber trotzdem nichts dabei findet, einen Porsche mit Ledersitzen zu fahren und der ganz offensichtlich ein Problem mit seinen türkischen Wurzeln hat, einem Xavier Naidoo, der alle Brücken hinter sich abgebrochen hat und seine neue "Heimat" ganz offensichtlich in der Schwurbelblase fand, und einigen anderen Vertretern der Unterhaltungsbranche wie Til Schweiger, Detlef D! Soost und Sido, sind es vor allem in Ungnade gefallene Publizisten wie Ken Jebsen und Eva Herman, die die aktuelle Unsicherheit für ihre Zwecke nutzen. Was der Sinn und Zweck ist, ist klar: Krude Verschwörungsideologien, verbreitet auf Social Media, generieren Klicks und Werbeeinnahmen. Solche Leute nutzen die allgemeine Verunsicherung zu ihrem Gutdünken aus - sie sprechen all die "Zu-kurz-Gekommenen" an, die Unzufriedenen, die Flüchtlingsgegner, Impfgegner, Reichsbürger und Systemgegner, all jene, die nach einfachen Lösungen für komplexe Probleme suchen, und die einfachste ist, nach Schuldigen zu suchen. Mir kommt es manchmal so vor, als hätten manche von ihnen geradezu auf eine Situation wie diese gewartet, in der es am einfachsten ist, eine Spaltung herbeizuführen.
Die meisten Schwurbel-Promis waren allerdings schon vor der Corona-Krise anfällig für Verschwörungsideologien - ihnen stehen auch viele andere gegenüber, die keine haarsträubenden Aussagen tätigen, obwohl sie genauso um ihre Existenz bangen. Viele dieser Leute haben bereits in der Vergangenheit so ziemlich alles getan, um medial im Gespräch zu bleiben - einigen war es dabei auch egal, dass sie sich dabei selbst lächerlich gemacht haben. Genau das ist auch hier der Fall - allerdings sehen das viele ihrer Fans nicht, und andere, die es doch noch irgendwie kapieren, sprechen von "Meinungsfreiheit". Ich möchte hier noch einmal daran erinnern, dass es einen Unterschied gibt zwischen Fakt und Meinung - ich kann doch auch nicht sagen, dass Nilpferde fliegen können, und das mit "Meinungsfreiheit" begründen. Und sich als Ungeimpfter selbst mit dem "Judenstern" zu schmücken, Ärzte und Pflegekräfte mit der SS zu vergleichen und eine momentan noch nicht zur Debatte stehende Impfpflicht mit Mengeles Menschenexperimenten, ist nichts anderes als Diffamierung und Relativierung. Genauso, wie es lächerlich ist, zu behaupten, es sei wahnsinnig gefährlich, seine Meinung zu vertreten - was Herr Jebsen gerne tut, und das ist auch nicht neu: Vor einigen Jahren verlor er seinen Job beim öffentlich-rechtlichen Radio, nachdem er den Holocaust als "PR-Inszenierung" bezeichnet hatte. Dieser Herr wird übrigens nicht nur von Schwurbel-Promis aus Film und Fernsehen, sondern auch von Influencerinnen gehypet. Und wenn es doch so gefährlich ist, seine Meinung zu sagen, warum hindert ihn bis heute keiner daran?
Dieser Trend ist nicht nur deshalb nicht zu unterschätzen, weil es ausreichend "Aufgewachte" gibt, die den Schwurbel-Promis nach dem Mund reden und weil der unterschwellige Antisemitismus hier auch mit anklingt, sondern auch, weil so einige, wie ich bereits in meinem Artikel über QAnon ausgeführt habe, Gewalt nicht abgeneigt sind - nicht nur, dass auf diesen Demos bereits Journalisten tätlich angegriffen wurden, auch Herr Hildmann hat schon angekündigt, seine "Freiheit" nötigenfalls auch mit der Waffe verteidigen zu wollen, auch wenn er sich bei der von ihm initiierten Demo nicht als besonders mutig erwiesen hat; aber gerade Feiglinge darf man nicht unterschätzen.
Fazit: Schwurbel-Promis haben zwar nicht allzu viele Anhänger, erreichen jedoch im Zeitalter der Digitalisierung doch mehr Leute als noch vor zehn oder gar zwanzig Jahren. Und auch wenn die für heute angekündigte Machtübernahme der NWO wahrscheinlich eher nicht eintreten wird und die Corona-Krise irgendwann einmal zu Ende ist, wird das viele wohl nicht davon abhalten, weiterhin alle möglichen Absurditäten in die Welt zu setzen, und andere nicht, sie zu glauben. Liebe Top-Eierer Numero 8: Bleibt bei dem, was ihr könnt und hört auf, euch als kompetenter darzustellen, als ihr seid!

Abschließend möchte ich eines anmerken: Eine der wichtigsten Kompetenzen, die man in einem Studium - egal in welchem - erlangt, ist der kritische Umgang mit Quellen. Klar, denn wer schriftliche Arbeiten verfasst, muss die Informationen, die er einfließen lässt, auch nachweisen können. Mir ist es früher fürchterlich auf die Nerven gegangen, dass praktisch in jedem Semester über Quellenangaben und richtiges Zitieren gesprochen wurde - heute bin ich allerdings dankbar dafür, denn auch wenn mein Wissen über Naturwissenschaften und Medizin natürlich völlig unzureichend ist, kann ich doch einigermaßen seriöse und unseriöse Quellen auseinander halten, selbst wenn auch ich in dieser Hinsicht alles andere als unfehlbar bin. Früher war das für jemanden, zu dessen Aufgaben es nicht gehörte, umfassende schriftliche Arbeiten zu verfassen, nicht notwendig, aber in Zeiten von Social Media hat sich das geändert, und deswegen halte ich es durchaus für angebracht, bereits in den Schulen ein gewisses Maß an Medienkompetenz zu vermitteln. Wir haben es doch mit der sexuellen Aufklärung auch geschafft - warum soll das für den Umgang mit Medien nicht möglich sein? Und wenn auch nur, damit ich nicht immer als "arrogant" beschimpft werde, wenn ich darauf hinweise, dass man so etwas im Studium lernt (ist es denn nicht arrogant, zu glauben, man sei als einziger im Besitz der Wahrheit?) - immerhin gibt es ja auch genug Studierte, die Schwurbeleien glauben oder auch verbreiten. Aber gerade dem müssen wir entgegentreten - wir dürfen nicht zur "schweigenden Mehrheit" werden, wir müssen alles versuchen, was nur irgendwie möglich ist, um die Ausbreitung dieser haarsträubenden Behauptungen zu unterbinden - denn nicht wenige der Leute, die jetzt auf die Straße gehen, sind alles andere als Verteidiger der Demokratie. Lest euch, wenn möglich, dazu auch diesen Artikel durch. Vor allem aber: Bleibt aufmerksam! Ich möchte in diesem Zusammenhang mit einem Zitat des Hörspielautors und Lyrikers Günter Eich schließen: "Wacht darüber, dass eure Herzen nicht leer sind, wenn mit der Leere eurer Herzen gerechnet wird."

vousvoyez

Montag, 11. Mai 2020

Kein Anschluss unter dieser Nummer, keine Nummer unter dieser Nummer und kein gar nichts unter dieser Nummer

Jaja, als mein Partner und ich noch frisch verliebt waren, waren wir herrlich albern und fanden praktisch alles zum Brüllen komisch. So entstanden allerlei lustige Sprüche wie dieser her, von denen allerdings leider nur die wenigsten wirklich weisheitstauglich sind. Allerdings sind wir, wie die meisten frisch Verliebten, unserer Umgebung natürlich auch rund um die Uhr gewaltig auf die Nerven gegangen. Heute sind wir selbstverständlich weitaus vernünftiger - zumindest manchmal.

Wie der eine oder andere mit Sicherheit schon mitbekommen hat, lebe ich seit mittlerweile zwölf Jahren in einer glücklichen Beziehung mit einem Mann, der als Kind angolanischer Eltern in der Demokratischen Republik Kongo geboren ist, seine Kindheit in Angola verbrachte und als Teenager nach Österreich auswanderte. Sprich, er verbrachte mehr Lebenszeit in Österreich als in den Ländern, aus denen er kam. Er ist schon länger österreichischer Staatsbürger, als wir uns kennen, und mittlerweile auch österreichischer als mancher Österreicher - er beherrscht unseren Dialekt, verteidigt "sein" Land gegen alle, die etwas dagegen sagen und ist stundenlang nicht ansprechbar, wenn die Österreicher beim Fußball verloren haben. Allerdings muss ich leider sagen, diese Akzeptanz beruht nicht immer auf Gegenseitigkeit - da sein Aussehen darauf schließen lässt, dass seine Wurzeln woanders sind, wird er nicht immer so wohlwollend aufgenommen, und so geht es vielen, die sich äußerlich vom ethnisch-kaukasischen Menschentypus unterscheiden. Auch, wenn die weiße Hautfarbe lediglich eine Mutation ist und nichts über den Menschen aussagt, die darin steckt. Das soll aber jetzt nicht das Thema sein.

Den Cleveren unter euch Lesern und Innen ist ja mit Sicherheit schon früher aufgefallen, dass ich Österreicherin bin - und das auch schon seit Geburt. Und obwohl meine Wurzeln - wie die der meisten anderen in unseren Breiten - nicht ausschließlich hier liegen, sondern, soweit ich weiß, unter anderem auch in Deutschland, Italien, Slowenien, Kroatien, Tschechien, Ungarn und Frankreich zu finden sind, wird dies wohl immer ein Teil meiner Identität bleiben. Stolz darauf bin ich allerdings nicht - weil der Begriff "Stolz" in diesem Zusammenhang für mich falsch ist, denn dass ich hier geboren und aufgewachsen bin, ist reiner Zufall, und die Leistungen in der Geschichte haben genauso wie die Verfehlungen andere bewerkstelligt. Deshalb fühle ich mich für die Verbrechen meines Landes im Dritten Reich auch nicht schuldig - mir ist allerdings bewusst, dass wir sie deswegen auch nicht einfach unter den Teppich kehren dürfen, auch wenn es so viele zu geben scheint, die dies dringend fordern. Und zwar sowohl in Österreich als auch in Deutschland. Vielleicht schreibe ich noch mal gesondert was dazu. Wir werden sehen.

Nun, wir Österreicher haben ja bekanntlich so ein bisschen einen Minderwertigkeitskomplex, da wir neben unserem "großen Bruder" Deutschland international immer ein wenig untergehen. Da wir mit dem Anschluss an Deutschland nicht so gute Erfahrungen gemacht haben, wollen wir natürlich lieber unsere eigene Identität wahren - und uns am liebsten als Unschuldslamm inszenieren, das von den bösen Deutschen unterjocht wurde, anstatt uns unserer eigenen Verantwortung zu stellen. Wenn man unser Land außerhalb Europas aufgrund der Ähnlichkeit des Namens nicht gerade mit jenem verwechselt, aus dem die Kängurus stammen, werden wir bevorzugt auf The Sound of Music angesprochen, einen Film, den kaum einer von uns je gesehen hat - oder auf die Sissi-Trilogie mit der jungen Romy Schneider in der Hauptrolle, die wahrscheinlich jeder von uns gesehen hat, von der die meisten jedoch fast ebenso genervt sind wie von der Trapp-Familie. Ich persönlich hab diese Filme schon seit Ewigkeiten nicht mehr im Ganzen gesehen und finde überdies, dass Romy Schneiders Talent in späteren Filmen wie Les choses de la vie (Die Dinge des Lebens) und La Passante du Sans-Souci (Die Spaziergängerin von Sans-Souci) viel besser zur Geltung kommt. Besonders den ersten Film kann ich nur wärmstens empfehlen. Wie ich sehe, wird Romy auch auf Wikipedia als "deutsch-französische Schauspielerin" bezeichnet. Frechheit! Jaja, ich weiß, wahrscheinlich ist damit gemeint, in welchen Sprachen sie arbeitete. Das sollte nur ein Scherz sein, ihr braucht nicht wegzulaufen!

Als österreichisches Kind konsumierte ich nun von klein auf natürlich größtenteils deutsche Medien - seien es nun Bücher, Filme oder Zeitschriften. Und auch anderssprachige Bücher und Filme wurden in Deutschland übersetzt bzw. synchronisiert. Als ich zu lesen begann, bemerkte ich, dass sogar österreichische Autoren wie etwa Thomas Brezina im Nachbarland lektoriert werden, so dass in seinen Büchern Kinder und Jugendliche aus Wien auf einmal wie Berliner sprachen. Demgegenüber empfand ich etwa Christine Nöstlinger, deren Wienerisch sich auch in ihrem literarischen Schaffen niederschlug, doch recht erfrischend. Viel später erfuhr ich, dass die Anerkennung für österreichische Autoren in deutschen Verlagen ganz allgemein eher ein Kampf ist, wenn es um einen regional gefärbten Schreibstil geht, aber das ist eine andere Geschichte. Jedenfalls schlug sich meine Angewohnheit, deutsche Zeitschriften und Bücher aus deutschen Verlagen zu lesen, mitunter auch auf die ersten Aufsätze und Kurzgeschichten aus der Grundschulzeit nieder, was vor allem von meinem Vater sehr oft kritisiert wurde, ebenso wie meine Angewohnheit, zu viele Anglizismen zu verwenden.

Abgesehen von einer deutschen Tante kam ich, wie viele andere Österreicher auch, hauptsächlich durch den Tourismus mit Deutschen in Berührung. Wie bekannt ist, fuhren wir in meiner Kindheit und Jugend fast jedes Jahr an den Weißensee, der auch bei Deutschen ein beliebtes Urlaubsziel ist. Hier lernten wir die üblichen Protz-Touristen mit ihren BMW und Mercedes kennen, die uns allenfalls "ulkig" fanden und darauf bestanden, mit D-Mark zahlen zu dürfen, aber ich glaube, dass ich mich von den allgemeinen Vorurteilen nicht allzu sehr blenden ließ, lag daran, dass ich damals Freunde fürs Leben - auch aus unserem Nachbarland - fand. Und nein, ich sage zu Deutschen auch nicht "Piefke" - außer in einem ironischen Kontext. Das wissen die Angesprochenen dann aber auch.

Trotzdem erinnere ich mich auch dann an diese Zeit, wenn ich Felix Mitterers vierteiligen Fernsehfilm Die Piefke-Saga sehe - und für alle meine deutschen Leser, die diesen nicht kennen und sich jetzt entgeistert abwenden wollen: Keine Sorge, die Österreicher kommen da keineswegs besser weg als die Deutschen! Vielmehr ist es eine satirische Betrachtung des Verhältnisses zwischen Österreichern und Deutschen, genauer gesagt dem österreichischen Gastgeber und dem deutschen Gast. Spontan fällt mir da auch Walter Wippersbergs wirklich sehr, sehr empfehlenswerte Mockumentary Dunkles, rätselhaftes Österreich ein, in der ein afrikanisches Forscherpaar die Sitten und Gebräuche im Stil der Expeditionen europäischer Forschungsreisender beleuchtet - und dabei auch auf die "Invasion" der deutschen Touristen eingeht. Wir haben mal in der Schule die Piefke-Saga behandelt, und ich fand es besonders interessant, dass es den Zeitungsartikel in der Zeitschrift Woche, der im ersten Film eine wichtige Rolle spielt, wirklich gegeben hat. Wobei ich anmerken muss, dass die Wochenpresse getrost dem Boulevard-Journalismus zugerechnet werden kann - wer sich nur ein kleines bisschen mit den Printmedien auskennt, wundert sich dann mit Sicherheit nicht mehr über einen so provokanten Titel wie Wer braucht die Piefke? Der vierte Teil der Film-Tetralogie wird im übrigen häufig gar nicht mehr im Fernsehen gezeigt, weil das wohl etwas zu viel der Provokation ist. Der Vollständigkeit halber denke ich, dass man sich alle vier Teile ansehen sollte, aber ich persönlich finde die ersten beiden am besten.

Nun, im kollektiven Gedächtnis der Außenwelt kommen die vielen modernen, aufgeschlossenen und weltoffenen Österreicher, die ich in meinem Leben so kennengelernt habe, nicht wirklich vor - neben Mozart und Adolf Hitler sind ja etwa Arnold Schwarzenegger und Christoph Waltz zu den österreichischen Prominenten zu zählen, die auch außerhalb des deutschsprachigen Raums bekannt sind, und das sind durchaus respektable Größen, aber in Filmen halt auch häufig in der Rolle des Bösewichtes zu finden. Aber wir wissen ja, die Österreicher meinen's ja nicht so. Ach ja, übrigens ist die heimische Lieblingssüßigkeit des Österreichers nicht die Mozartkugel - die ich persönlich sowieso nicht mag, weil ich Marzipan nicht leiden kann -, sondern die Mannerschnitte, eine mundgerecht portionierte fünflagige Waffelschnitte mit Haselnusscreme-Füllung in dem bekannten rosafarbenen Einwickelpapier mit dem blauen Schriftzug. Egal. Jedenfalls habe ich oft so den Eindruck, das Bild vom Österreicher im Ausland ist so das eines Naturkindes in Dirndl oder Lederhose, das ständig Schnitzel frisst und freundlich, aber auch ein bisschen doof ist, charmant, aber auch morbid. Nun ja - bei näherer Betrachtung auch nicht so viel schlimmer als das Bild der amerikanischen Cowboys und Indianer, des im Baströckchen ums Feuer tanzenden und trommelnden Afrikaners, des dudelsackspielenden Schotten im karierten Rock oder des Reis pflanzenden Chinesen mit diesem lustigen Kegelhut. Es könnte schlimmer sein. Auch wenn es noch so nervig sein kann, dass man von Nicht-Österreichern eher als "lustig" und "niedlich" wahrgenommen wird - wobei ich sagen muss, dass wohl ganz allgemein als "süß" gelte, auch wenn ich bereits 36 Jahre alt bin, wohl auch deswegen, weil ich mindestens zehn Jahre jünger aussehe, als ich eigentlich bin. Es gibt halt Situationen, in denen man nicht "süß" sein will - beispielsweise bei lästigen Behördengängen. Aber was soll man machen?

Der hervorstechende zwischen Österreichern und Deutschen ist mit Sicherheit der Dialekt - wobei beide Länder ja im Prinzip über eine große Bandbreite an Dialekten verfügen. Das kommt nicht von ungefähr - die deutsche Sprache war nicht von Beginn an einheitlich, sondern hat sich aus den Sprachen unterschiedlicher germanischer Stämme entwickelt, so den Bajuwaren, Alemannen, Franken, Sachsen, Thüringern und Friesen, wobei die meisten schon untereinander gar keine einheitlichen Völker waren. Die unterschiedlichen Varietäten unserer Sprache waren laut schriftlicher Zeugnisse wohl schon im Hoch- und Spätmittelalter vorhanden, sind aber aktuell immer mehr im Schwinden begriffen - wobei das von Region zu Region natürlich verschieden ist. In der Uni hatte ich einen Professor, der sich nonstop über die mangelnde Anerkennung des Österreichischen Deutsch und das Schwinden der regionalen Dialekte beklagte - das Problem ist aber halt, dass dies der Preis für die Globalisierung ist, und das nicht nur in Österreich. Mein Freund spricht beispielsweise die kongolesisch-angolanische Verkehrssprache Lingála, allerdings nicht mehr die ursprüngliche Form, sondern eine stark vom Französischen beeinflusste, moderne Variante, und auch die meisten anderen afrikanischen Sprachen, die ich kenne, haben mittlerweile starke Einflüsse aus den Kolonialsprachen, die in der Regel auch als Unterrichtssprache fungieren. Wie bei uns die Dialekte, so halten sich auch in Afrika die regionalen Sprachen am besten in den ländlichen Gebieten, die noch nicht so viele Einflüsse von außen erlebt haben. So ist es eben - für alles, was man dazu gewinnt, verliert man auch etwas. Viele setzen ja Österreich mit Wien gleich und glauben, das Wienerische wird im ganzen Land gesprochen - das ist allerdings nicht so. Vor allem der westliche Dialekt, also Tirol und Vorarlberg, klingt sehr viel anders als der im Osten - die Nähe zur Schweiz macht sich vor allem in Vorarlberg bemerkbar. 

Die sprachlichen Unterschiede zwischen Deutschland und Österreich bemerkt man bekanntlich zuallererst im kulinarischen Bereich - Hackfleisch ist bei uns Faschiertes (deswegen heißt der Hackbraten auch "faschierter Braten", und Buletten bzw. Frikadellen und wie sie alle heißen sind "faschierte Laiberl"), Brötchen sind Semmeln ("Brötchen" sind in Österreich kleine belegte Brote), Auberginen sind Melanzani, Tomaten sind Paradeiser, Kartoffeln sind Erdäpfel, Aprikosen sind Marillen, rote Beete sind Ronen oder rote Rüben, grüne Bohnen sind Fisolen, Wirsing ist Kohl und so weiter. Ich habe auch schon erlebt, dass ältere Leute aus dem Burgenland Erdbeeren "Ananas" genannt haben - warum, weiß ich auch nicht. Dafür sind Kartoffeln und Tomaten mittlerweile schon "gleichberechtigt" wie Erdäpfel und Paradeiser. Nach dem EU-Beitritt gab's etwa auch Debatten, weil wir auf unsere Marillenmarmelade-Gläser nicht "Aprikosenkonfitüre" schreiben wollten - mittlerweile ist die Marillenmarmelade ja eine eingetragene Marke, aber trotzdem kommt mir immer öfter auch die blöde Bezeichnung "Fruchtaufstrich" unter.

Deutsche Freunde sind zeitweise auch irritiert, wenn wir uns mit "baba" verabschieden - das im übrigen nicht wie das indische "Vater" ausgesprochen wird, beim österreichischen "baba" wird die zweite Silbe länger ausgesprochen als die erste. Natürlich ist das eines der ersten Worte, die kleine Kinder mit Leichtigkeit aussprechen können, deswegen sagt man ihnen auch statt "Gehen wir spazieren" oftmals "Gemma baba". Ach ja, "gemma" statt "gehen wir" ist auch so eine dialektale Eigenheit. Sehr beliebt ist auch das Wort "Oida", das Pendant zum deutschen "Alter", das man in den österreichischen Städten für nahezu alles verwenden kann. Ebenso nennt man bei uns ein männliches Kind in der Regel "Bub" oder "Bua", aber auch hier zeigt sich schon der deutsche Einfluss, und inzwischen ist auch das Wort "Junge" immer öfter zu hören. Es gibt jedoch auch Worte und Wendungen, die für deutsche Ohren vergleichsweise "normal" klingen, im Österreichischen aber andere Bedeutungen haben können - zu "ausruhen" können wir auch "ausrasten" sagen und "jemanden zusammenführen" heißt bei uns "jemanden überfahren". Auch Redewendungen wie "du gehst mir ab" für "ich vermisse dich" sind für uns typisch, ebenso wie "es geht sich aus": Wenn du mit dem Auto in eine Parklücke fährst und gerade genug Platz ist, dass du nicht an den anderen Autos anstößt, "geht es sich grad no aus", und "es geht sich zeitlich aus", wenn du vor einem Termin noch schnell was erledigen kannst. Das ist auch so typisch für unsere vergleichsweise relaxte Haltung: "Des mach ma scho, des wird si scho irgendwie ausgehen." Dafür würde uns auch nie einfallen, "abgehen" im Sinne von "ausflippen" zu verwenden - wir "drah'n" eher "auf". Was viele Deutsche auch lustig finden, ist, dass "Tüte" bei uns "Sackerl" heißt und sind ganz angetan, wenn es in Läden heißt: "Wollen's a Sackerl?"

Natürlich merkt man die "kleinen Unterschiede" auch, wenn man sich bereits in beiden Ländern aufgehalten hat. Ich habe ja in einem frühen Artikel in diesem Blog bereits von der Trafik erzählt - jene im ganzen Land zu findenden Läden, in denen man Tabakwaren, Zeitungen, und Zeitschriften, Briefmarken, Fahrkarten sowie Lottoscheine kaufen kann. Früher bekam man dort auch Parkscheine - bestehend aus einem Zettel, auf dem man Tag, Monat, Jahr und Uhrzeit eintragen konnte. Je nachdem, welche Farbe der Parkschein hatte, konnte man länger oder kürzer parken - heute wurden diese Zettel ja schon vollständig von den Scheinen, die man aus den Automaten zieht, ersetzt. In Deutschland kann man die Trafik am ehesten noch mit dem Kiosk vergleichen - im Gegensatz zu uns in Österreich bekommt man die Zigaretten dort allerdings auch im Supermarkt, was für mich bei meinem ersten Deutschland-Aufenthalt äußerst merkwürdig war. Auch ist es in Österreich nicht möglich, einfach nur "Kaffee" zu bestellen, da das Kochen und Trinken von Kaffee bei uns schon fast eine Wissenschaft ist. Ich finde es beispielsweise etwas befremdlich, dass es in Wien, der Hochburg der österreichischen Kaffeehauskultur, inzwischen mehrere Starbucks-Filialen gibt - auch wenn ein Freund, der dort lebt, mir gestanden hat, dass er ab und an gerne dorthin geht, weil es ihn an seine Zeit in New York erinnert. Manchmal liegt der Unterschied zwischen Deutschen und Österreichern auch nur in einem Artikel - nicht "der Radler" (Österreich), sondern "das Radler"; nicht "das Cola", sondern "die Cola"; nicht "das Joghurt", sondern "der Joghurt". Und bei uns gibt es kein süßes, sondern nur salziges Popcorn - als ich in der Bravo las, dass man vor dem Knutschen lieber süßes Popcorn essen soll, war ich ein bisschen verwirrt, aber ich kann mir tatsächlich vorstellen, dass das schmeckt. Unterschiede entdeckte ich beispielsweise auch, wenn ich mich als Jugendliche mit Gleichaltrigen aus Deutschland unterhielt - unsere Schulnoten gehen von 1 bis 5, in Deutschland gibt es auch die Note 6, die Grundschule heißt bei uns Volksschule und die Mittlere Reife gibt es bei uns nicht und dementsprechend auch keine Realschule. Das Abitur heißt bei uns "Matura"; wenn man die vierte Klasse der Volksschule abgeschlossen hat, beginnt man in der Hauptschule oder im Gymnasium wieder mit der Ersten, und das Gymnasium dauert bei uns nur acht Jahre, in vielen Regionen Deutschlands aber neun.

Nun, was gibt es noch zu sagen? Das einzige, woran ich mich in puncto deutsche Kultur wohl wirklich nicht gewöhnen kann, ist diese Karnevals-Kultur, die ich aber zum Glück nur via Fernsehen mitbekomme - der österreichische Fasching ist für mich schon schlimm genug. Ich kann diese Art organisierte Lustigkeit nur schwer verkraften - ein Haufen Spießer, die sich einmal im Jahr den Stock aus dem Hintern ziehen, zum Zeichen dessen einen lustigen Hut aufsetzen und einen Tusch benötigen, weil sie sonst nicht wissen, wann sie rhythmisch Luft auszustoßen haben. Wobei das in Österreich ja nicht wirklich der Fall ist - wir bleiben so griesgrämig wie auch im restlichen Jahr, allerdings tragen wir dazu eine alberne Verkleidung. Allerdings nur am Faschingsdienstag - wenn in Deutschland Weiberfastnacht ist, versammelt sich die von Schönheitsoperationen entstellte Prominenz nebst den Adabeis beim Opernball, wo man sich umarmt und auf die Wange küsst, da es verboten ist, sich gegenseitig ein Messer in den Rücken zu stechen. Das würde die Inneneinrichtung der Wiener Staatsoper in Mitleidenschaft ziehen.

Zum Schluss möchte ich all meinen deutschen Freunden und Lesern versichern: Ja, ich hab euch immer noch lieb, ich weiß, dass es überall auf der Welt Idioten gibt, auch bei uns, im Kongo oder in Mikronesien. Das ist mitunter nur dann erträglich, wenn man sich ab und an auch darüber lustig machen kann. Im übrigen wurden zu den Unterschieden zwischen Deutschen und Österreichern schon etliche Filme gedreht und auch Bücher geschrieben. Deswegen möchte ich euch zum Abschluss Severin Groebners satirisches Buch Servus, Piefke wärmstens empfehlen. Bon voyage!

vousvoyez

Mittwoch, 6. Mai 2020

Wir kennen uns von der Elfriede-Blauensteiner-Tour für angehende Witwen

Jedes Land auf dieser Welt kann mit dem einen oder anderen spektakulären Kriminalfall aufwarten. Eine Legende der österreichischen Kriminalgeschichte ist der Fall Elfriede Blauensteiner - und gleichzeitig auch einer der ersten, an die ich mich noch erinnern kann. Ich hatte übrigens an meinem Gymnasium eine Englischlehrerin, die hatte den gleichen Namen wie eine der vier weiblichen Stationshilfen, die in den 1980ern als "Todesengel von Lainz" in die Geschichte eingingen, nachdem sie gemeinschaftlich mehrere Patienten ermordet hatten - diese Lehrerin unterrichtete allerdings nicht mich, sondern einen meiner beiden älteren Brüder, der bis heute nicht müde wird, diese Namensgleichheit zu betonen. Die Wienerin Elfriede Blauensteiner wiederum, die heute als die "schwarze Witwe" bekannt ist, erwies sich als äußerst, ähm, kreativ, wenn es darum ging, ihre Spielsucht zu finanzieren - per Kontaktanzeige suchte sie wohlhabende, pflegebedürftige Personen, bevorzugt Männer, die sie bei sich aufnahm und, nachdem sie deren Testamente zu ihren Gunsten von ihrem Rechtsanwalt fälschen hatte lassen, mittels eines blutzuckersenkenden Medikaments namens Euglucon in Kombination mit einem Antidepressivum ermordete. Legendär waren vor allem ihre Auftritte vor Gericht - ins kollektive Gedächtnis eingegangen ist jener, als sie ein goldenes Kruzifix hochhielt und dabei den biblischen Pontius Pilatus zitierte: "Ich wasche meine Hände in Unschuld!" Ich erinnere mich, wie ein Freund unserer Familie, nachdem seine Ehefrau ihm seine täglichen Medikamente verabreicht hatte, sich den Bauch rieb und ausrief: "Du bist meine Blauensteiner!" Ein Satz, den sie mit einer Miene quittierte, die unter ihren Verwandten und Bekannten gemeinhin als "Steingesicht" bekannt ist.

Wie ich in einem älteren Artikel bereits erklärt habe, ist das kollektive Gedächtnis ja nicht immer so zuverlässig, wie man vielleicht denkt. Trotzdem gibt es Erinnerungen, die uns alle verbinden - auch, weil es genügend Aufzeichnungen davon gibt. Und das gilt nicht nur für Kriminalfälle oder ganz allgemein Nachrichten-Ereignisse - die Findigeren unter euch werden wahrscheinlich schon gewittert haben, dass ich wieder mal über Filme sprechen will. Speziell über Filme von Disney - und das hat einen ganz bestimmten Grund.

Ich hatte nämlich gestern ganz spontan endlich die Gelegenheit, den "verbotenen" Disney-Film zu sehen. Wobei "verboten" jetzt natürlich maßlos übertrieben ist - selbstverständlich ist es niemandem verboten, diesen Film zu sehen, er wird nur praktisch nirgends mehr gezeigt. Und zwar deshalb, weil Disney lieber so tut, als hätte es ihn nie gegeben. Ich erinnere mich, in meiner Stammvideothek viele Male das Cover der VHS-Kassette gesehen zu haben, aber ich kam nie auf die Idee, sie mir mal auszuleihen und anzusehen. Nachdem ich erfuhr, dass Disney ihn praktisch totschweigen will und er weder auf der neuen Streaming-Plattform Disney + zu sehen noch auf DVD erhältlich ist, bereute ich das - denn nachdem so viel darüber diskutiert wurde, dass Disney ihn praktisch unterschlägt, hätte ich mir gerne ein eigenes Urteil gebildet. Erfreulicherweise ließ mir jedoch gestern jemand diesen Film zukommen, so dass mir das mittlerweile doch noch möglich ist. Also fange ich gleich damit an.

Die Rede ist von Song of the South, einer Kombination aus Real- und Zeichentrickfilm, die 1946 gedreht wurde und im deutschsprachigen Raum unter dem Namen Onkel Remus' Wunderland veröffentlicht wurde. Er basiert auf einer Sammlung von afro-amerikanischen Volkserzählungen unter dem Titel Uncle Remus, die von Joel Chandler Harris aufgeschrieben wurden und heute zu den Meisterwerken der amerikanischen Literatur gezählt werden. Der Film erhielt 1948 einen Oscar in der Kategorie "Bester Song" für das von Allie Wrubel und Ray Gilbert geschriebene Lied Zip-a-Dee-Doo-Dah, außerdem eine Nominierung für die Filmmusik, während James Baskett, der die Titelfigur verkörperte, einen Ehrenoscar bekam. Auf den ersten Blick ist das also keineswegs ein Werk, das man verstecken müsste. Technisch wie musikalisch ist Song of the South auch tatsächlich sehr gut gemacht, die Zeichentricksequenzen versprühen den unwiderstehlichen Charme, der den alten Disney-Filmen eigen ist, und insgesamt macht der Film einen sehr behäbigen, unaufgeregten Eindruck, wie der alte Großvater aus dem Bilderbuch. Wo ist also das Problem?

Nun, das sensibilisierte Auge des heutigen Zuschauers kann diese Frage schnell beantworten: Song of the South suggeriert ethnische Hierarchien als eine Art "natürliche Ordnung". Die Schwarzen tun nicht nur nichts anderes, als den Weißen zu dienen - dies wird auch an keiner Stelle des Films kritisch hinterfragt, ganz im Gegenteil: Man gewinnt den Eindruck, als gäbe es für Menschen mit dunkler Hautfarbe nichts Schöneres, als ihrer hellhäutigen Herrschaft zu Diensten zu sein. Dies wird noch dadurch unterstrichen, dass die Handlung zwar in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, also nach Abschaffung der Sklaverei, angesiedelt ist, dabei aber so wirkt, als sei sie vollkommen aus der Zeit gefallen - sprich, so, als vermittle der Film allgemein gültige Werte, einen Anspruch, den bekanntlich auch Märchen erheben. Anders gesagt: Die untergeordnete Stellung der Schwarzen und die übergeordnete der Weißen wird entpolitisiert und dadurch als "allgemein gültiger Wert" verkauft. Ich erinnere hier an Aldous Huxleys gesellschaftskritischen Zukunftsroman Brave New World, in welchem die Leute von klein auf Tag und Nacht darauf konditioniert werden, mit ihrem von Geburt an zugewiesenen Platz in der Gesellschaft glücklich und zufrieden zu sein und nichts verändern zu wollen. Ähnlich verhält es sich auch mit den schwarzen Plantagenarbeitern in Song of the South - sie akzeptieren ihre untergeordnete Stellung und sind zufrieden, ja sogar glücklich damit, und das, obwohl ihre Armut ebenso sichtbar ist wie der Reichtum der über sie Herrschenden.

Nun, diese Art von serviler Fröhlichkeit findet sich nicht nur in diesem Film - in den meisten Filmen der Zeit vor der Bürgerrechtsbewegung wird suggeriert, dass die Schwarzen gar nichts anderes wollen, als immerfort ihren weißen Herrschern zu dienen, und dass das deswegen vollkommen in Ordnung sei. Und Song of the South ist jetzt kein brutal rassistischer Film in Sinne von David Wark Griffiths The Birth of a Nation von 1915, wo der mordende Ku-Klux-Klan als Befreier der ganz armen Weißen vor den ganz bösen Schwarzen dargestellt wird. Zumindest vordergründig ist Song of the South von einer Harmlosigkeit, wie sie in den meisten damaligen Kinder- und Familienfilmen von Disney Programm ist - wobei seine Langsamkeit gemäß der Sehgewohnheiten der heutigen Zeit wahrscheinlich eher Langeweile hervorruft: Der siebenjährige Johnny, Enkel einer Plantagenbesitzerin, freundet sich mit einem alten schwarzen Mann an, der in einer ärmlichen Hütte auf der Plantage wohnt und den Kindern Geschichten über den listigen Hasen Br'er Rabbit (Meister Lampe) erzählt - diese Geschichten werden denn auch in zauberhaft gestalteten Zeichentricksequenzen dargestellt. Das historisch geschulte Auge kommt angesichts der Bilder in Technicolor und all der singenden Schwarzen nicht umhin, an die Minstrel Shows aus dem 19. Jahrhundert zu denken, die damals bei den Industriearbeitern in den amerikanischen Nordstaaten sehr beliebt waren und in denen Weiße, die oftmals nie einen Schwarzen kennengelernt hatten, diese auf sehr stereotype Weise darstellten - bis in die heutige Zeit leitet sich der Ausdruck "Blackfacing" für das Schminken des Gesichts mit schwarzer Farbe von diesen Shows ab. Dasselbe Bild von Menschen mit dunkler Hautfarbe, das in den Minstrel Shows vorherrschte, wird auch in diesem Film gezeigt: Sie werden zwar nicht als böse, dafür aber als kindlich-naiv, fröhlich und unbekümmert, devot und den Weißen intellektuell unterlegen dargestellt. Keiner der schwarzen Figuren werden nennenswerte eigene Bedürfnisse zugeschrieben, alles ist ausschließlich darauf ausgerichtet, die Bedürfnisse der Weißen zu erfüllen.

Selbstverständlich kann man hier einwenden, dass auch andere Disney-Filme, denken wir nur an Dumbo, Susi und Strolch, Aladdin oder Pocahontas, Stereotype bedienen oder die Geschichte zumindest "entschärfen". Wobei wir natürlich nicht vergessen dürfen, dass diese Filme sich in der Regel sehr alter Vorlagen bedienen, die teilweise noch vollkommen andere Werte vertreten als die, die unseren heutigen Moralvorstellungen entsprechen. Es ist ja allgemein bekannt, dass diese Filme sehr häufig für das antiquierte Frauenbild und das völlig unrealistische Schönheitsideal, das sie vermitteln, kritisiert werden. Wobei die weiblichen Figuren sich ja mittlerweile zumindest von der passiven Rolle der frühen Filme entfernen und in neueren Werken wie Frozen nicht mehr die Ehe als das einzig Erstrebenswerte für eine Frau gilt. Vor allem aber ist Song of the South nicht der einzige Disney-Film, der gewisse Hierarchien als "natürlich" darstellt - denken wir nur an Bambi und Der König der Löwen. Das Ding ist halt - die meisten Stereotype und gesellschaftlichen Ungleichheiten werden in den Disney-Filmen dadurch entschärft, dass sie von Tieren oder zumindest gezeichneten Figuren dargestellt werden, während es sich bei Song of the South zum größten Teil um einen Realfilm mit menschlichen Schauspielern handelt. Aus diesem Grund kann man die rassistischen Klischees hier auch nicht mehr so einfach relativieren oder wegerklären.

Natürlich hätte man mit diesem Dilemma auch anders umgehen können - und ich bin auch nicht die einzige, die findet, dass das besser gewesen wäre. Man hätte den Film aus der zeitlichen und ideologischen Distanz heraus betrachten und so daraus lernen können - immerhin ist es ja nichts Neues, dass die Filme von Disney den Geschmack eines sehr breiten Publikums repräsentieren. Genauso wenig ist es neu, dass Walt Disney selbst schon seit längerer Zeit heftig in die Kritik geraten ist - so werden ihm von Zeitgenossen rassistische, antisemitische und frauenfeindliche Neigungen zugeschrieben, und Kritiker des Kapitalismus werfen ihm und seinem Imperium nicht erst in jüngster Zeit Kulturimperialismus vor. Allerdings darf man auch nicht vergessen, dass es nicht für alle Vorwürfe gegen ihn auch tatsächlich Beweise gibt - beispielsweise, dass er mit dem Nationalsozialismus sympathisiert haben soll. Ein ehrlicher Umgang mit Song of the South wäre für den Disney-Konzern allerdings eine Chance gewesen, aus den eigenen Fehlern eine wertvolle Lektion abzuleiten. So zu tun, als existiere dieser Film nicht, ist im Lichte dessen eher kindisch und feige. Irgendwie erinnert es mich auch an die aktuelle Debatte, man solle mit der Zeit des Nationalsozialismus endlich abschließen, womit eigentlich gemeint ist, man solle nicht mehr darüber reden - auch wenn es selbstverständlich ein großer Unterschied ist, ob man jetzt einen einzelnen Film totschweigt oder gleich eine ganze Epoche.

Nun, wie ich in einem früheren Post erklärt habe, ist all das kein Grund, die Filme nicht weiterhin zu genießen - immerhin sind wir zum Glück größtenteils selbstständig denkende Menschen, die nicht gleich die Demokratie abschaffen wollen, nur weil sie mal Der König der Löwen gesehen haben. Und gewisse Kritikpunkte beschreiben das Gesamtwerk des Disney-Filmimperiums ja auch nur unzureichend. Unbestritten ist, dass diese Filme sehr wohl einen äußerst wertvollen künstlerischen Beitrag innerhalb der Geschichte der Animationsfilme bzw. überhaupt der Filmgeschichte leisten. Und dass sie für die meisten von uns zur Kindheit einfach dazugehören - und das müssen und sollten wir uns auch durch einen etwas kritischeren Blick auf die Materie nicht nehmen lassen.

vousvoyez

Dienstag, 5. Mai 2020

Wie trennt sich Heidi Klum eigentlich von ihren Partnern - "Ich habe heute leider kein Foto für dich"?

(c) vousvoyez
Tja, so ist das halt - jeder Superheld und jede Superheldin braucht einen Gegenspieler. Batman hat Robin, Superman hat Luthor und eure vousvoyez hat eben Heidi Klum. Wobei ich sagen muss, dass es mir in Wirklichkeit vollkommen wurscht ist, wen die gute Frau heiratet und wann sie ihre Oberweite entblößt - ich will es nur nicht wissen. Und schon gar nicht früh am Morgen, wenn ich eigentlich andere Gedanken im Kopf habe. Ich finde nur das Frauenbild, das sie mit ihrer Sendung Germany's Next Topmodel vermittelt, schlicht und einfach problematisch - und auch das Bild, das sie von sich in der Öffentlichkeit preisgibt. Und dabei könnte gerade sie ein Beispiel dafür sein, dass Models nicht automatisch dumm sind - denn um so eine Karriere hinzulegen, erfordert es tatsächlich eine gewisse Intelligenz.

Nun, ich kann mich über Frau Klums Medienwirksamkeit aufregen. Wie sie sich präsentiert, muss sie jedoch selbst wissen - das ändert nichts daran, dass sie ein Mensch ist und dass man auch ihr die Menschenwürde nicht abzusprechen hat. Einer der am meisten aufgerufenen Artikel in meinem Blog ist ja jener, in dem ich meine persönliche Meinung zur Illegalisierung von Prostitution kundgetan habe. Ich habe auch angemerkt, dass ich mich möglicherweise noch einmal dem Thema annähere. Nun, ich glaube, jetzt ist dieser Moment gekommen - und zwar deshalb, weil aktuell viele, auch prominente, Internet-Nutzer auf dumme Ideen zu kommen scheinen. Ja, liebe Leute, wir müssen wieder mal reden!

Das neue Hobby des deutschen Komikers, Moderators, Entertainers und Schauspielers Oliver Pocher scheint ja zu sein, online über Influencer herzuziehen. Nun, ich kann mit diesem Herrn offen gestanden nicht viel anfangen - mir ist es schleierhaft, wie man den lustig finden kann, deshalb schalte ich auch immer weg, wenn er mal im Fernsehen ist, aber Geschmäcker sind ja bekanntermaßen verschieden. Deshalb hatte ich auch keinen Grund, mich jemals mit seinem Instagram-Account oder sonstigen Social-Media-Aktivitäten von ihm auseinanderzusetzen, aber bekanntermaßen muss man ja nicht immer was dazu tun, um über die Tätigkeiten gewisser Prominenter und solcher, die es gerne werden oder bleiben wollen, in Kenntnis gesetzt zu werden. Ähnlich geht es mir übrigens auch mit den Personen, deren Bloßstellung aktuell für einen digitalen Wirbel sorgt - nämlich Anne Wünsche und ihre Freundin, die sich offenbar für sie eingesetzt hat. Auf Wikipedia wird die als "Laiendarstellerin und YouTuberin" vorgestellt - bekannt wurde sie, wie es aussieht, durch die Sendung Berlin - Tag & Nacht, die ich mir nie angesehen habe. Außerdem hat sie anscheinend auch eine kleine Rolle in der Serie Gute Zeiten, schlechte Zeiten gespielt. Ganz offensichtlich hat sie auch noch einen YouTube-Kanal, auf dem sie, nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Kinder zur Schau stellen soll - ebenso wie ihre Freundin Kim Zarwell, von der ich bis heute ebenfalls noch nie etwas gehört habe, es auf Instagram tut. Okay, das kann man kritisieren - muss man, finde ich, auch. Und das ist es, was Herr Pocher auch tut - angeblich. Denn ich sage: Nein, es geht ihm hier nicht um die Kinder. Es geht ihm lediglich darum, eine Rechtfertigung zu haben, in der Vergangenheit fremder Frauen herumzugraben.

Denn Anne Wünsche hat vor Jahren einmal in einem Porno mitgespielt, und Kim Zarwell hat früher als Domina gearbeitet. Und Herrn Pocher fiel offenbar nichts Besseres ein, als diesen Teil der Vergangenheit jener beiden Damen an den Pranger zu stellen, beispielsweise, indem er Auszüge aus einem bisher nicht bekannten Porno mit Anne Wünsche zeigte. Nun, ich frage mich, ob Oliver Pocher nicht das ein oder andere Mal selbst in den Puff ging - und ob er nicht ab und zu auch mal den einen oder anderen Porno konsumiert. Und warum so viele Leute diesem Verhalten auch noch Beifall spenden und "selbst schuld" rufen - und sich nicht fragen, was für ein Vorbild Herr Pocher seinen eigenen Kindern ist, wenn er fremde Frauen via Social Media als "Huren" und "Schlampen" abstempelt.

Ich habe schon in mehreren früheren Posts dargelegt, wie sehr sich der Umgang mit Sexualität in den letzten Jahren und Jahrzehnten verändert hat - und dass die Medien daran nicht unbeteiligt waren. Hinzu kommt noch, dass der Kampf der Frauen für ihr Recht auf völlige Selbstbestimmung immer noch nicht zu Ende ist - nicht einmal hierzulande, wo wir noch vergleichsweise privilegiert sind. Wir dürfen in die Schule gehen, wir dürfen studieren, wir dürfen einen Beruf ausüben, ohne vorher einen Mann um Erlaubnis zu fragen, wir dürfen wählen und politische Ämter bekleiden. Dennoch gibt es durchaus noch viele von uns, die ein sexistisches Frauenbild unterstützen - etwa, indem wir erklären, eine Frau, deren Persönlichkeitsrechte wegen ihrer früheren Tätigkeit im horizontalen Gewerbe mit Füßen getreten werde, sei selbst schuld. Das ist nicht mehr allzu weit weg von der - durchaus auch von manchen Frauen vertretene - Ansicht, eine Frau, die sexuell belästigt oder vergewaltigt werde, sei selbst schuld, weil sie falsch angezogen sei.

Nun, Sex ist in der heutigen Gesellschaft allgegenwärtig, nachdem die filmische Darstellung von Sexualität lange Zeit tabuisiert wurde. Die sexuelle Befreiung der sechziger und siebziger Jahre wurde schon lange von der Konsumgesellschaft, man möchte sagen, vom "Mainsream" (ein Wort, gegen das ich aus verschiedenen Gründen inzwischen eine Abneigung entwickelt habe), vereinnahmt, so wie die meisten Subkulturen und Jugendbewegungen von der Konsumgesellschaft vereinnahmt wurden - Prominente tragen Punkfrisuren und Tattoos, bunte Hippie-Kleider sind bei H&M erhältlich und einst so subversive Kunst wird heute zu astronomischen Preisen versteigert. So wie Sexualität in der Vergangenheit in übertriebener Art und Weise tabuisiert und totgeschwiegen wurde, übertreiben wir es heute mit der inflationären Sexualisierung innerhalb der Gesellschaft. Nichts ist mehr Phantasie, alles wird ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt. Die sexuelle Befreiung wurde einst auch als Befreiung der Frau verstanden - leider haben diesen beiden Dinge heute nur noch wenig damit zu tun, denn im Inneren haben die meisten von uns immer noch die Unterscheidung zwischen Hure und Muttergottes parat. Sprich, eine Frau, die ihre Sexualität nicht dem Ziel unterordnet, eine monogame Beziehung mit Fortpflanzungsabsichten anzustreben, hat bis an ihr Lebensende keinen Respekt verdient. Natürlich mag sie innerhalb dieses Rahmens ihre sexuellen Vorlieben ausleben, wie es ihr beliebt - schließlich ist Sex heute, wie gesagt, Teil der Konsumgesellschaft, und mittlerweile bilden diese nicht nur Männer, sondern auch Frauen. Und so halten sich viele Leute für besonders aufgeschlossen, unverklemmt und progressiv, wenn sie in aller Öffentlichkeit über ihr Sexleben plaudern, finden Deko-Elemente, Süßspeisen oder Schmuck in Form von männlichen oder weiblichen Geschlechtsteilen ganz besonders witzig und gewagt und halten sich für besonders verwegen, wenn sie Feuchtgebiete oder A Fifty Shades of Grey lesen bzw. sich die Filme ansehen. Entsprechend wird auch jeder Kritiker erstmal als Spießer diffamiert, und ihm wird auch gern empfohlen, den Stock aus dem Arsch zu nehmen - dabei kapieren diese Leute gar nicht, dass sie im Grunde genommen immer noch weitaus spießiger sind als diejenigen, die sie für spießig halten, denn wie ich schon in einem anderen Artikel erklärt habe, kann man das Brechen von Tabus, die gar keine mehr sind, nicht als "Wagemut" bezeichnen - ganz abgesehen davon, dass ich darauf wetten möchte, dass viele dieser "crazy people" die ersten sind, die sich an dem Shitstorm gegen eine ehemalige Sexarbeiterin beteiligen.

Im Lichte einer solchen Gesellschaft ist es nur richtig, Kinder über Sexualität aufzuklären und ihnen beizubringen, dass sie allein entscheiden, was mit ihrem Körper geschieht - dies wurde nicht nur in meinen Augen viel zu lange verabsäumt, und auch heute gibt es da bisweilen noch Aufholbedarf. Wenn wir uns ältere Filme ansehen, so wird in manchen von ihnen immer noch vermittelt, dass es für einen Mann vollkommen legitim ist, sich über das "Nein" einer Frau hinwegzusetzen - denn eine Frau, die "nein" sagt, meint doch eigentlich "ja". Und eine Frau, die sich "ziert", will doch in Wirklichkeit nicht zugeben, dass ihr die Zudringlichkeiten des Mannes gefallen. Und wenn der Mann die Frau dann doch gegen ihren Willen nimmt, ist sie doch selbst schuld - sie hat bestimmt irgendetwas gesagt oder getan, das den Mann provoziert haben könnte. Eine Einstellung, die offensichtlich auch vor nicht allzu langer Zeit auch noch in Jugendmagazinen vorzuherrschen schien. Daher sind wohl viele der Ansicht, Frauen wie Anne Wünsche hätten es "verdient", in der Öffentlichkeit dergestalt vorgeführt zu werden.

Aber gerade deswegen möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass das Zerren von Videos, die Personen nackt und/oder bei sexuellen Handlungen zeigen, ins Zentrum des öffentlichen Interesses einen Übergriff darstellt, ebenso wie das öffentliche Anprangern von Personen aufgrund dessen, was sie in der Vergangenheit mit ihrem eigenen Körper gemacht haben oder auch in der Gegenwart mit ihm machen - ebenso wie verbale Angriffe, sexuell konnotierte Beschimpfungen und ganz allgemein das öffentliche Stigmatisieren dieser Personen. Und ich glaube nicht nur, dass viele der größten Schreihälse sich sexuell für besonders aufgeschlossen halten - ich bin mir auch ziemlich sicher, dass hier so einige dabei sind, die den Islam wegen der frauenfeindlichen Gesinnung in manchen seiner Strömungen ablehnen und alle Migranten zu Vergewaltigern erklären, weil es unter ihnen auch welche gab bzw. gibt, die Frauen gegenüber sexuell übergriffig wurden bzw. werden. Gerade solche Leute sind es nämlich häufig auch, die die Selbstbestimmung der Frau ansonsten mit Argusaugen beobachten und die gerne Parteien wählen, die am liebsten hätten, dass ihre weibliche Wählerschaft sich auf ihre "natürliche" Aufgabe, Hausfrau und Mutter zu sein, beschränke. Somit sind ihre eigentlichen Motive - nämlich, dass Menschen mit sichtbar anderer Herkunft sich ihnen bestenfalls unterzuordnen hätten - ebenso durchschaubar wie die von Oliver Pocher, der behauptet, es ginge ihm um die Kinder. Denn indem er die Vergangenheit von deren Müttern öffentlich zur Schau stellt, hilft er den Kindern nicht - ganz im Gegenteil, denn indem er aller Welt verkündet, wie moralisch verkommen deren Mutter doch ist, demütigt er nicht nur sie, sondern auch ihre Kinder. Und nicht nur den Kindern von Frau Wünsche und Frau Zarwell, auch seinen eigenen tut er damit keinen Gefallen - denn diese haben jetzt einen Vater, der, anstatt ihnen ein Vorbild zu sein, in der Vergangenheit fremder Frauen herumstochert, um sie in aller Öffentlichkeit bloßstellen zu können.

Und genauso ein fragwürdiges Vorbild liefern auch diejenigen, die sowohl die beiden Damen als auch diejenigen, die in den Chor der allgemeinen Entrüstung nicht mit einstimmen, beschimpfen und bedrohen - denn Herr Pocher hat immer noch etliche minderjährige Fans, die sich ebenfalls eifrig an dem Shitstorm beteiligen. Somit wird die eigentliche Perversion der ganzen Angelegenheit sichtbar: Eben die, dass eine Frau nur dann Respekt verdient, wenn sie sich ihr Leben lang ausschließlich gesellschaftskonform verhalten hat. Und gerade da kommt man in gefährliches Fahrwasser, schon allein, wenn man beobachtet, wie wenig Jugendliche über die Nutzung von sozialen Netzwerken aufgeklärt werden. Wer kennt nicht die Geschichten von Teenager-Mädchen, die sich von ihren ebenfalls völlig unbedarften Teenager-Freunden dazu überreden lassen, ihnen ein Nacktfoto von sich via Smartphone zu schicken - sobald die Beziehung zu Ende ist, rächt sich der Junge an seiner Verflossenen, indem er eben dieses Foto dazu benutzt, um das Mädchen in aller Öffentlichkeit zu demütigen. Würden all die Moralapostel, die jetzt mit dem Finger auf andere zeigen, über die eigene Tochter genauso reden, wie sie sich über fremde Frauen auslassen? Selbst ich, die schon alt genug ist, um die Mutter all dieser Mädchen zu sein, habe erlebt, wie leicht man als junges Mädchen zu etwas verführt werden kann, was man später vielleicht bereut. Ich habe beispielsweise, glaube ich, schon einmal erwähnt, dass ich vor Jahren online nach einem Job neben dem Studium suchte. Die allermeisten Rückmeldungen, die ich bekam waren Angebote, die mir für Nacktaufnahmen und Ähnliches sehr viel Geld versprachen. Ich habe meine Anfrage daraufhin zurückgezogen, aber es zeigte mir bereits vor fast fünfzehn Jahren deutlich, wie sehr junge Mädchen und Frauen schon allein in unseren Breiten den Verlockungen des schnellen Geldes durch Prostitution ausgesetzt sind - und was ist nun mit jenen, die die Konsequenzen ihres Handelns gar nicht richtig einschätzen können, sondern nur ihren Traum von einem Luxusleben fern vom Einfluss der Eltern möglichst schnell verwirklichen wollen? Und diese Verlockungen finden ja nicht nur online statt - wie oft erhielt ich etwa im Alter zwischen dreizehn und dreiundzwanzig Jahren eindeutige Angebote von fremden Männern, die meist alt genug waren, um meine Väter oder gar Großväter zu sein? Und das, obwohl ich in einer Stadt aufgewachsen bin, die im Vergleich zu den meisten anderen auf der Welt noch sehr sicher ist? Ganz zu schweigen von den Frauen aus Osteuropa, die hierzulande im horizontalen Gewerbe ausgebeutet werden; den jungen Mädchen in Südostasien, die von ihren eigenen Eltern an Bordelle verkauft werden; den jungen Frauen aus Nigeria, die von sogenannten "Medizinmännern" mit Versprechungen vom "Paradies Europa" als Prostituierte verkauft werden. Alles Realität, alles nicht schön - und schon allein das sollte genügen, Frauen nicht pauschal für ihr Vorleben zu verurteilen, auch wenn es möglicherweise nicht so respektierlich war.

Ich wiederhole es noch einmal: Ich halte die Art und Weise, wie hier eine Frau mit einer delikaten Vergangenheit zur Schnecke gemacht wird, für einen sehr perversen Aspekt dessen, wozu unsere Konsumgesellschaft verkommen ist. Denn unser Verhältnis zur Sexualität zeigt doch in Wirklichkeit nur, wie sehr diese von jener bereits vereinnahmt wurde: Indem wir Sex zum Konsumprodukt degradieren, kommen wir nach und nach dahinter, dass dieses, wie alle Konsumprodukte, nicht hält, was es verspricht, und reagieren darauf, indem wir uns von jenen bedroht fühlen, die uns den Konsum von Sex ermöglichen - und auf diese herabblicken. Eine häufige Kritik an Pornofilmen ist ja, dass dort eher selten der ganze Mensch, sondern lediglich einzelne Körperteile gezeigt werden. Solche Verhaltensweisen scheinen dies jedoch zu rechtfertigen - denn tritt die Darstellerin als menschliches Wesen in Erscheinung, wird sie herabgewürdigt. Die vermeintliche "Aufgeschlossenheit" kommt also offenbar nur durch Entmenschlichung dessen zustande, worauf sich diese "Aufgeschlossenheit" bezieht. Die Frauen, die sexuelle Dienstleistungen anbieten, dürfen nicht als Menschen wahrgenommen werden, nicht als Schwestern, Töchter, Mütter, nicht als Wesen mit eigenen Gefühlen und Meinungen. Wir glauben, dass wir sexuell befreit sind, aber diese Freiheit hat ein Ende, sobald sie den Rahmen unseres Sicherheitsbedürfnisses verlässt und so ihre Berechenbarkeit verliert. Somit hält Herr Pocher nicht den Frauen einen Spiegel vor, wie viele behaupten, sondern in Wirklichkeit sich selbst - denn anstatt sich auf das zu konzentrieren, was er nach eigener Aussage anprangert, sucht er nach weitaus verderblicheren Geheimnissen, um damit seine Kritik zu rechtfertigen, und zeigt damit nur, dass er im Prinzip nicht zu vernünftiger Kritik fähig ist.

Und alle, die es für "Mobbing" halten, Herrn Pochers Fehlverhalten als solches zu benennen, möchte ich noch einmal daran erinnern, dass Meinungsfreiheit auch beinhaltet, dass man Kritik üben darf. Und dass es Dinge gibt, die man nicht "einfach so stehen lassen" kann - denn wenn wir alles einfach hinnehmen, geht es nur immer so weiter.

vousvoyez