Dienstag, 25. Oktober 2022

Ich fühle mich wie Picasso, denn ich befinde mich auch in einer blauen Periode

Photo by Johnell Pannell on Unsplash
Könnt ihr euch noch an Jana aus Kassel erinnern? Was die wohl gerade macht? Ob sie sich immer noch wie Sophie Scholl fühlt? Oder ist sie vielleicht sogar zur Einsicht gekommen? Zumindest scheint sie genug Verstand zu haben, sich aus dem Internet fernzuhalten und sich nicht mehr mit dummen Sprüchen profilieren zu wollen. Dann hat der Shitstorm wenigstens etwas gebracht. Aber zumindest sind uns ein paar schöne Erinnerungen an damals geblieben - beispielsweise die vielen ironisch gemeinten unpassenden Vergleiche, von denen es ein paar auch in die Weisheits-Liste geschafft haben. Unter anderem auch der Spruch, den ich selbst erdacht habe - der allerdings aus heutiger Sicht eher missverständlich als wirklich gelungen war. Ich meinte nämlich eigentlich nicht den weiblichen Zyklus, sondern übermäßigen Alkoholkonsum. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, wenn ich stattdessen Picassos rosa Periode gewählt hätte. Aber egal - ich bin sowieso nicht sehr trinkfest, also vergessen wir das gleich wieder.

Reden wir stattdessen über Themen, die uns nicht erst seit gestern bewegen - auch wenn sie heutzutage ziemlich oft aufgegriffen werden. Zum Beispiel über zwei dystopische Romane, die bereits mehrere Generationen bewegt haben und immer noch beklemmende Aktualität besitzen.

Sowohl George Orwells 1984 als auch Aldous Huxleys Brave New World (dt. Schöne neue Welt) gehören bereits seit vielen Jahrzehnten zu den Klassikern unter den dystopischen Romanen - auch, weil wir vieles davon in unsere Gegenwart transferieren können. Aber gerade deshalb muss ich vorab noch einmal klarstellen, dass weder Orwell noch Huxley hellseherische Fähigkeiten hatten - sie hatten allerdings ein sehr scharfsinniges Gespür für bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen, und in gewisser Hinsicht sind ihre Werke auch von der Zeit geprägt, in der sie geschrieben haben. Und besonders George Orwell würde mit Sicherheit im Grab rotieren, wenn er mitbekäme, wie häufig sein Roman dieser Tage missverstanden und missinterpretiert wird. Dazu aber später mehr.

In beiden Romanen geht es um die Schreckensvision einer zukünftigen Weltordnung, und um die Schicksale derer, die diese in Frage stellen. Es sind keine strahlenden Helden, sondern eher normale oder gar schwache Mitglieder der Gesellschaft, in der sie leben, die am Ende an dem Versuch scheitern, sich dieser zu entziehen oder sie gar zu verändern. Die Zukunftsversionen der beiden englischen Schriftsteller scheinen unvereinbar, und doch scheint sich, besonders wenn man heutzutage auf China schaut, eine Fusion aus ihnen zu entwickeln - einerseits ist das Land zu einer Art Versuchslabor für moderne Überwachungstechnologien geworden, andererseits vermischt sich High Tech mit einem totalitären Regierungssystem. Menschen werden nach einem Punktesystem bewertet, welches erwünschtes Verhalten belohnt und unerwünschtes bestraft - so werden sie zu Konformismus und Gehorsam "erzogen" und tauschen ihre persönliche Freiheit gegen finanzielle und narzisstische Annehmlichkeiten, ohne es überhaupt zu registrieren. Durch diese Art der unsichtbaren Überwachung wird eine falsche Gleichheit hergestellt - denn genau wie du allen anderen schaden kannst, können die anderen auch dir schaden. Sowohl Huxleys als auch Orwells Roman sind mit viel Zynismus geschrieben, wobei Brave New World im Ganzen eine eher ironische Betrachtung der zeitlichen Entwicklungen ist, und wirken so wie merkwürdige Zerrbilder unserer Gegenwart. Dabei schien dieser Weg ihnen gar nicht vorgezeichnet zu sein. Sie lernten einander in der Eliteschule Eton kennen, wo Huxley Lehrer und Orwell, der damals noch Eric Arthur Blair hieß, Schüler war - danach trennten sich ihre Wege, um für einen kurzen Zeitpunkt wieder zusammenzufinden, als sie gegenseitig ihre Werke rezensierten - hier endete jedoch die gegenseitige Wertschätzung ein wenig. Sie waren auch viel zu verschieden, um wieder zusammenzufinden - die klassischen Gegensätze von Intro- und Extraversion, gepaart mit der unterschiedlichen sozialen Herkunft.

Der 1903 geborene Blair, Sohn eines britischen Kolonialbeamten, kam mit einem Stipendium nach Eton, ein College für die Söhne der Oberschicht - eine zeitlose Enklave, in der die zukünftige Elite des britischen Empires ausgebildet wurde. Der 1894 geborene Huxley wiederum war der Spross einer prominenten Familie - sein Vater war Autor und Biologe und maßgeblich an der Durchsetzung der darwinistischen Lehre beteiligt; sein Bruder Julian war ein bedeutender Biologe und Zoologe, Vordenker der Eugenik und erster Generaldirektor der UNESCO; sein Bruder Andrew erhielt den Nobelpreis für Medizin. Auch er war vor seiner Lehrtätigkeit Schüler in Eton gewesen. Im Gegensatz zu ihm gelang es dem jungen Blair jedoch nie, sich in der Welt der Eliteschulen heimisch zu fühlen - aufgrund seiner Herkunft von den anderen gemobbt, begann der Junge rebellisch zu werden. Huxley hatte seinen Lehrerposten angenommen, weil sein Vater ihn nicht mehr finanziell unterstützte. Er war kein begabter Pädagoge, wurde aber für seine sprachlichen Fähigkeiten bewundert und vermittelte seine Liebe zur Sprache auch den Schülern. Durch ihn lernte Blair die französische Literatur kennen und begann zu schreiben. Sowohl Schüler als auch Lehrer wurden in ihrer schriftstellerischen Arbeit sehr vom Geist des Eton College geprägt - er festigte in ihnen die Überzeugung, dass sich in Zukunft eine streng hierarchische, unverrückbare Kastengesellschaft etablieren würde, aus der es kein Entkommen gäbe. Man muss allerdings dazu sagen, dass das Klassenbewusstsein der britischen Gesellschaft ohnehin schon immer besonders stark war - auch wenn der Auf- und Abstieg nicht von vorn herein ausgeschlossen ist.

Nachdem er Eton verlassen  hatte, trat Blair seinen Polizeidienst in Burma an, den er 1927 quittierte, um in England freier Journalist und Schriftsteller zu werden. Er lebte mehrere Jahre als Vagabund und Gelegenheitsarbeiter in Paris und London - dies bewog ihn dazu, für die Opfer des Systems zu schreiben, und festigte in ihm den Glauben, dass eine Revolution nur vom Proletariat ausgehen könnte, ein Gedanke, der sich auch in 1984 wiederfindet. Er veröffentlichte unter dem Pseudonym George Orwell, das er unter anderem auch angenommen hatte, weil seine Familie fürchtete, sonst ihr Ansehen zu verlieren. 1936 meldete er sich freiwillig als Soldat im Spanischen Bürgerkrieg, wo er auf der Seite der trotzkistischen P.O.U.M. (Partido Obrero de Unificatión Marxista) gegen die Franco-Diktatur kämpfte. Unter seinen Mitstreitern erlebte er zunächst das Idealbild einer klassenlosen Gesellschaft, doch dann wurde der Widerstand vom stalinistischen Totalitarismus überrollt, und Orwell sah sich plötzlich in der Rolle es politisch Verfolgten wieder, der fliehen musste. Seine Erfahrungen in Spanien sollten auch seine beiden bekanntesten Werke prägen: In Animal Farm finden sich beispielsweise Stalin und Trotzki in den Schweinen Napoleon und Schneeball wieder, in 1984 im Großen Bruder und dem Untergrundkämpfer Emmanuel Goldstein. Damals lernte er die Strategien des Stalinismus kennen: Falschinformation und die Umkehrung der Lüge zur Wahrheit, was vor allem in der Handlung von 1984 sehr prägend ist - etwa in paradoxen Slogans wie "Unwissenheit ist Macht" oder "Krieg ist Frieden", welche die Perversion totalitärer Regime karikieren: Wörtern wird der Inhalt geraubt und dieser ins Gegenteil verkehrt, wodurch sie jegliche Bedeutung verlieren. Wir erleben das leider auch in unserer Gegenwart: Erst vor zwei Tagen habe ich über einen Tweet von Erich von Däniken erfahren, dass man ja gar nichts mehr sagen dürfte - während er gleichzeitig ungehindert einen Schwall Unsinn ins Netz blökte, ohne negative Konsequenzen befürchten zu müssen.

Animal Farm wurde im Jahr 1945 veröffentlicht; zuvor hatte Orwell jedoch Schwierigkeiten gehabt, einen Verlag für das Buch zu finden - die meisten lehnten eine Veröffentlichung ab, da sie eine gekränkte Reaktion der Russen fürchteten. Im selben Jahr war seine Frau gestorben, mit der er ein Jahr zuvor einen kleinen Jungen adoptiert hatte. Gleichzeitig war auch sein eigener Gesundheitszustand nicht sehr stabil, da er bereits seit Jahren immer wieder Probleme mit der Lunge hatte. 1947 stellte man eine erhebliche Zerstörung seines linken Lungenflügels fest; daraufhin zog er sich in ein stilles Farmhaus auf der Hebriden-Insel Jura zurück und begann, an 1984 zu arbeiten. Hier zeigt sich wieder ein auffälliger Gegensatz zu Huxley, der milderes Klima, luxuriöse Lebensumstände und intellektuelle Gesellschaft bevorzugte und sich mit Sicherheit niemals freiwillig auf eine fast menschenleere, windige Insel zurückgezogen hätte. Orwell wusste, dass er nicht mehr lange zu leben hatte, wollte aber vorher unbedingt noch seinen Roman veröffentlichen, und arbeitete unermüdlich - selbst wenn er zu schwach war, um vom Bett aufzustehen. 1984 wurde im Jahr 1949 veröffentlicht, und Orwell wurde nach London ins Krankenhaus eingeliefert, wo er 1950 mit nur 46 Jahren an einer Lungenblutung starb.

Aldous Huxley wiederum wurde erst mal Ehemann und Vater, nachdem er Eton den Rücken gekehrt hatte. Die bedeutenden Personen in seiner Familie hatten auch in ihm von jung an ein Interesse an Wissenschaft, Medizin, Biologie und technischen Innovationen geweckt, was sich auch in Brave New World widerspiegelt, ebenso wie mit dem nie enden wollenden intellektuellen Schlagabtausch mit seinem Bruder Julian. Dieser war ein großer Befürworter der Eugenik, während Aldous ihr sowohl mit Faszination als auch mit Abstoßung gegenüberstand. Der Diskurs zwischen Rationalität und Utopie zwischen den beiden Brüdern sollte einen bis heute andauernden intellektuellen Streit der Menschheit vorwegnehmen. Das Thema Entmenschlichung durch wissenschaftliche Forschung zog sich durch viele literarische Werke Huxleys, ebenso wie die Frage der Rolle des Individuums in einer Welt aus zunehmender Massenproduktion und Massenkonsum. Sein 1932 erschienener Roman Brave New World war eine Art Gegenentwurf zur allgemein etablierten Form des Science-Fiction-Romans, in der Fortschritt immer als Segen für die Menschheit dargestellt wurde. 

1937 zog er nach Kalifornien, wandte sich dem Buddhismus, der Mystik und dem religiösen Universalismus zu und verdingte sich zeitweise als Drehbuchautor in Hollywood, wobei er mit seinem Gehalt die Flucht von Juden und linksgerichteten Künstlern aus dem deutschen NS-Staat unterstützte. In den 1950ern experimentierte er mit Meskalin und LSD - die daraus entstandenen Erfahrungen verarbeitete er unter anderem in seinem The Doors of Perception, nach der Jim Morrison später seine Band benennen sollte: The Doors. Ganz allgemein wurde er durch seine Erfahrungen mit Halluzinogenen eine Ikone der Beat Generation und später der Hippie-Bewegung. 1960 wurde bei Huxley Kehlkopfkrebs festgestellte - zwei Jahre später erschien sein letzter Roman Island (dt. Eiland), der sehr von seinen Erfahrungen mit dem Buddhismus geprägt ist und eine Art Gegenentwurf zu Brave New World darstellt. Huxley starb am 22. November 1963 - dem Tag, als John F. Kennedy erschossen wurde, weshalb sein Tod nicht so viel Beachtung fand.

Wie schon gesagt, erscheinen die beiden so bedeutenden dystopischen Romane sehr gegensätzlich - auf der einen Seite Orwells totalitäre Schreckensherrschaft, welche die Leute durch künstliche Verknappung, Desinformation und totale Überwachung in Knechtschaft hält; auf der anderen seite eine hedonistische Spaßgesellschaft, die durch Suggestion gelernt hat, diese Knechtschaft nicht nur zu akzeptieren, sondern regelrecht zu lieben. Die eine Gesellschaft wird also von Angst geleitet, die andere von Genuss. Entsprechend ist Auflehnung in beiden auf unterschiedliche Weise schwierig. Beide Romane erzählen von einer globalisierten Welt - drei sich ständig bekriegende Supermächte bei Orwell, ein Weltstaat, der fast alle Menschen unter seiner Kontrolle hält, bei Huxley. Die Regierung in 1984 ist repressiv, bürokratisch und praktisch allwissend, während die Kontrollinstanz in Brave New World auf Wissenschaft und Technik fokussiert ist und darauf achtet, die Gesellschaft stabil zu halten. Deswegen sind zu große Innovationen auch nicht erwünscht, denn diese könnten destabilisierend wirken.

Orwell hat den Geist des Totalitarismus wohl so gut verstanden wie kaum ein anderer. In 1984 kreierte er einen gigantischen Personenkult um einen "Großen Bruder" (engl. "Big Brother"), der selbst nie in Erscheinung tritt, aber dennoch allgegenwärtig ist. Personenkulte sind uns natürlich auch von realen totalitären Regimes nur allzu bekannt, sei es Hitler oder Stalin, sei es Mobutu oder Idi Amin, sei es Xi Jinping oder Kim Jong-un. Der niemals selbst in Erscheinung tretende Diktator findet sich auch in Woody Allens Film Sleeper (dt. Der Schläfer) von 1973 wieder - hier stellt sich gegen Ende des Films heraus, dass er bereits gestorben und nur seine Nase übriggeblieben ist. Die Gesellschaft in Orwells Roman ist streng hierarchisch organisiert und von ständiger Überwachung sowie Desinformation und inszenierter Armut geprägt, die Menschen sind ständig mit ihren Existenznöten beschäftigt. Auch in Brave New World gibt es strenge, unverrückbare Hierarchien, aber die Bevölkerung stellt diese aufgrund ihrer Konditionierung nicht in Frage. Statt anspruchsvoller Kunst und Kultur gibt es in beiden Werken nur seichte Unterhaltung - in 1984 werden die Leute damit dumm gehalten, in Brave New World sind sie aufgrund der emotionalen Verarmung für keine andere Unterhaltung mehr zugänglich. In 1984 werden kritische Gedanken durch Gewalt und einer Kontrolle, die bis in die intimsten Bereiche dringt, unterdrückt; in Brave New World werden alle von klein auf so angepasst, dass sowas wie kritische Gedanken gar nicht erst aufkommt - und so plappert die schöne Lenina munter alles nach, was ihr einst in der Schlafschule eingetrichtert wurde, ohne es je in Frage zu stellen oder eigene Gedanken zu entwickeln. In beiden Romanen werden politische Gegner aus der Gesellschaft entfernt: In 1984 verschwinden sie spurlos und niemand spricht danach mehr über sie; in Brave New World werden sie auf abgeschiedene Inseln deportiert, wo sie niemandem mehr "schaden" können. Bei Orwell wird Hass auf eine ominöse Widerstandsbewegung geschürt, bei Huxley hat man das jedoch nicht nötig; da alle glücklich mit ihrer Rolle in der Gesellschaft sind, kann Neid oder gar Hass gar nicht erst aufkommen.

Winston Smith, der Protagonist von 1984, gehört zur Äußeren Partei, deren Mitglieder besonders streng kontrolliert werden, und arbeitet im Ministerium für Wahrheit, wo er permanent damit beschäftigt ist, die Vergangenheit umzuschreiben und auf Parteilinie zu halten. Insgeheim zweifelt er das Staatssystem und den Großen Bruder jedoch an, führt heimlich Tagebuch und verliebt sich in Julia, die ebenfalls die Partei ablehnt, sich nach außen hin jedoch völlig parteikonform gibt. Die beiden richten sich ein Liebesnest in einem Zimmer ein, das vermeintlich nicht überwacht wird - Liebe und Sex werden somit zu einem Akt der Auflehnung und Rebellion, zu einem Ausweg aus der furchterregenden Welt, die der Roman beschreibt, und führt letztendlich in den Widerstand bis zum Tod. Am Ende stellt sich jedoch heraus, dass sie auf die falschen Freunde gesetzt haben, denn sie werden inhaftiert, und in der Folge wird Winstons Martyrium beschrieben - Verhöre, Folter, permanentes Licht und Essensentzug, Manipulation des Willens, Zerstörung des Selbstvertrauens, bis hin zur Aufgabe des letzten Restes an Selbstachtung: Winston verrät seine Liebe zu Julia, wodurch sein Widerstand endgültig gebrochen ist. Auch Julia verrät Winston, und ihre Liebe ist zerstört. Denn die Partei will keine Märtyrer und unterzieht die Gefangenen erst mal einer Gehirnwäsche, um sie zu demütigen und ihnen den Heldenstatus von vorn herein zu nehmen.

Bei Huxley wiederum herrscht Bequemlichkeit und Stabilität durch unmittelbare Bedürfnisbefriedigung - die Welt ist von Fortschrittsglauben, Industrialisierung und Konsum geprägt. Die Menschen werden in Reagenzgläsern gezüchtet, ihr Leben ist von Anfang an als Teil von vier Kasten vorbestimmt: Die Alphas stellen die körperliche, geistige und politische Elite dar, die Epsilons jedoch werden durch Klonen am Fließband hergestellt, um die am wenigsten anspruchsvollen Arbeiten zu verrichten. Doch sie sind alle vollauf zufrieden mit ihrem vorgezeichneten Lebensweg und wollen es gar nicht anders haben. Tiefere emotionale Beziehungen sind tabu; natürliche Vorgänge wie Geburt, Krankheit und Alter sind diesen Menschen unbekannt, sie werden sogar als anstößig erlebt; negative Gefühle werden mit einer frei zugänglichen, nebenwirkungsfreien und stark dosierbaren Droge namens Soma unterdrückt. Damit ist hier Liebe ein Akt der Rebellion, Sex hingegen reine Bedürfnisbefriedigung ohne emotionale Bindung. Das Individuum zählt nicht, der Tod eines Menschen wird einfach hingenommen und nicht beweint, zumal die Sterbenden sowieso in ein Hospiz untergebracht und mit Soma versorgt werden - ähnlich, wie Huxley kurz vor seinem Tod noch einmal LSD einnahm. Auch Religionen gibt es nicht mehr, dafür aber eine Art Verehrungskult des Automobilpioniers Henry Ford - im Gegensatz zu den Menschen in den Reservaten, die das Christentum mit Naturreligionen verbinden.

Bernard Marx gehört zur Alpha-Klasse, doch ein Fabrikationsfehler führte nicht nur zu kleinerem Wuchs und weniger Ansehnlichkeit, sondern auch zu geistiger Unabhängigkeit. Sein Außenseitertum gibt ihm ein Gefühl von Fremdheit und Einsamkeit, und er hat wenig Erfolg bei Frauen. Trotzdem gelingt es ihm, die schöne Lenina Crowne zu einem Kurzurlaub in einem Reservat in New Mexico einzuladen. Dort begegnen sie all dem, was aus dem modernen Leben schon längst verbannt ist: Schmutz, Ungeziefer, schwangere Frauen, stillende Mütter, alte Menschen. Unter ihnen leben jedoch, wie sich bald herausstellt, zwei Weiße: Linda, die vor vielen Jahren im Reservat verlorenging und wegen fehlender Verhütungsmittel ein Kind austrug, und ihr Sohn John, ein junger, gut aussehender Mann, der jedoch im Referat aufgewachsen ist und die Zivilisation nur aus Erzählungen seiner Mutter kennt. Im Gegensatz zu Bernard, der sich am Ende doch als schwach und feige herausstellt und nicht auf den Komfort der Zivilisation verzichten kann, ist John der Revolutionär unter den Außenseitern, jemand, der einen Umbruch herbeiführen will. Das Problem ist allerdings, dass es ihm hierfür an Phantasie fehlt - er gibt hauptsächlich Passagen aus Shakespeares Werken wieder, die er in der Gesamtausgabe gelesen hat, die er irgendwann einmal im Reservat gefunden hat, hat aber keine eigenen Gedanken und Ideen. Mit Bernard verbindet ihn jedoch die Erfahrung von Ausgrenzung, denn im Reservat werden er und Linda als Außenseiter behandelt, und sie empfindet es als Schande, ein Kind auf die Welt gebracht zu haben. Und wie Bernard, so leidet auch er in Folge unter der sozialen Kälte einer Zivilisation, für die sie immer anders sein werden, in einer Welt, in der man nicht anders sein darf, und all ihre Gefühle spüren wollen in einer Gesellschaft, in der Gefühlstiefe unerwünscht ist.

Bernard nimmt Mutter und Sohn mit in die Zivilisation, wo die beiden mit Neugier wie seltene, vom Aussterben bedrohte Tiere begafft werden - oder wie jene fremdländischen Menschen, die im 19. Jahrhundert aus ihrem Umfeld gerissen und in einem Zoo ausgestellt werden. John ist erst beeindruckt von der Fortschrittlichkeit dieser Welt, fühlt sich von ihren Sitten aber allmählich abgestoßen - die Lieblosigkeit der Menschen, die Banalität der Unterhaltungsmedien und der ständige Drogenkonsum irritieren ihn am meisten. Die einzigen, mit denen er offen sprechen kann, sind Bernard Marx und sein Freund Helmholtz Watson, der durch Shakespeare angeregt wird, sich kreativ zu betätigen. Bernard hingegen erlebt durch seine "Entdeckung" des "Wilden" zum ersten Mal gesellschaftliche Anerkennung und genießt sie in vollen Zügen. Am Ende werden alle drei festgenommen, und Marx wird nach Island, Watson auf die Falkland-Inseln verbannt. John wiederum zieht sich in einen verlassenen Leuchtturm zurück, wo er sich selbst geißelt und bald von Schaulustigen umgeben ist, die ihn beobachten und filmen, bis er sich im Turm erhängt.

Wie schon angedeutet, war Brave New World sehr von den Debatten um die Eugenik in den 1930er Jahren inspiriert - die sogenannte "Erbgesundheitslehre" war nicht umsonst vor allem im Nationalsozialismus sehr präsent, wo sie häufig auch als "Rassenhygiene" bezeichnet wurde. Doch auch der Burenkrieg zu Beginn des 20. Jahrhunderts heizte in England die Debatte um die Eugenik an, und schon damals wurde etwa über die Sterilisation von Menschen mit Behinderung und mangelnder sozialer Anpassung gesprochen. Und selbst heute, wo die Wissenschaft schon viel weiter ist, halten rechtsextreme Gruppierungen immer noch an den alten Lehren der Eugenik fest, auch wenn sie es natürlich nicht zugeben. Im Nationalsozialismus wurde damit auch die "Vernichtung lebensunwerten Lebens" gerechtfertigt, die darin bestand, Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen zu ermorden oder in den Konzentrationslagern medizinische Versuche an Menschen durchzuführen. Das ist auch der Grund, warum der Begriff "Eugenik" in der heutigen Zeit nicht mehr so gern benutzt wird. In der Frühzeit wurde die Lehre eher sozialdarwinistisch ausgelegt - ähnlich wie in der Tierzucht, sollte es darum gehen, Erbkrankheiten zu reduzieren und so die Erbanlagen der Menschen allgemein zu verbessern. Heute sind wir von einer neuen Form der Eugenik gar nicht so weit entfernt: Man denke an die Designer-Babys, die durch genetische Manipulation den Wünschen der werdenden Eltern angepasst werden sollen. Auch über Erziehung durch Konditionierung und das Lernen im Schlaf, wie sie in Brave New World praktiziert werden, wurde damals sehr angeregt diskutiert. Wissenschaft und Technik waren auf dem Vormarsch und nahmen immer mehr Einfluss auf das Leben der Menschheit. Zusätzlich verkehrte Huxley puritanische Werte in ihr Gegenteil - in seinem Roman sind offene Sexualität und viele Sexualpartner durchaus erwünscht, während Monogamie und Schwangerschaft als seltsam oder gar anstößig betrachtet werden.

Orwell wiederum bezog sich, wie schon gesagt, sehr auf die Mechanismen der totalitären Ausprägung des Kommunismus. Die furchterregende Welt, die er in 1984 kreiert, die beinahe körperlich spürbare eisige Atmosphäre und die allgegenwärtigen Teleschirme sollen uns unsere eigenen Ängste vor Augen führen, um uns zu ermutigen, uns dagegen aufzulehnen. Gleichzeitig führt er uns vor Augen, dass Liebe der Motor ist, um sich gegen eine lieblose Gesellschaft zu stellen - sie ist es, die den Widerstand ermöglicht, und sie muss erst zerstört werden, um auch den Menschen selbst zu zerstören. Das ist eine Erfahrung, die ich selbst schon gemacht habe - wenn auch auf weitaus weniger gefährliche Art und Weise. Nicht umsonst wird "Big Brother" bis heute als Verkörperung des Totalitarismus bzw. der totalen Überwachung verstanden. Natürlich haben sich manche Elemente von Orwells Roman inzwischen überholt - er rechnete wohl nicht damit, dass wir uns immer strengeren Überwachungsmaßnahmen ganz freiwillig unterwerfen, weil man uns einredet, es sei nur zu seiner eigenen Sicherheit. Manche haben das so sehr verinnerlicht, dass es ihnen laut eigener Aussage auch überhaupt nichts ausmachen würde, wenn Überwachungskameras mit Gesichtserkennungs-Software arbeiten würden - man hat ja nichts zu verbergen, und wenn marginalisierte Gruppen dadurch benachteiligt würden, wäre es ihnen auch egal. Gleichzeitig profilieren wir uns rund um die Uhr über unsere Social-Media-Profile und kommen uns dabei ganz toll vor - so sehr, dass wir kaum noch darauf achten, wie viele private Informationen von uns im Netz landen.

Was vor allem in 1984 thematisiert wird, ist die Macht der Sprache als Instrument der Manipulation. Im letzten Teil des Buches geht es außerdem darum, die eigene Wahrnehmung so zu manipulieren, dass man nicht mehr auf sie vertraut. So wird Winston so lange traktiert, bis er davon überzeugt ist, dass zwei plus zwei fünf ergibt, und bemüht sich am Ende sogar, alles zu glauben, was man ihn glauben lassen will, selbst wenn es seiner eigenen Wahrnehmung zuwiderläuft. Das können wir tatsächlich auch heute beobachten: Donald Trump, der in seiner Rede in Kansas den Leuten einredet, dass man ihm mehr vertrauen muss als seinen eigenen Sinnen; Menschen, die sich jede angebliche Wahrheit immer wieder so zurechtrücken, dass sie ins Weltbild passt; Leute, denen es ausreicht, andere zu hassen, wenn sie ihnen nur zutrauen, etwas Böses zu tun. Diese Art der Manipulation bewirkt dann, dass Regierungsgebäude gestürmt werden, dass andere entmenschlicht und bedroht werden, dass die schlichte Aufforderung zum Tragen einer Maske einen Mord verursacht und diese Taten von anderen auch noch verteidigt werden. Und aus diesem Grund reißen sich Leute, die mit Covid-19 auf der Intensivstation liegen, die Infusionen aus dem Arm. Auch 1984 wurde in den letzten Jahren häufig zum Gegenstand der Manipulation: Während der Krieg gegen die Ukraine zu Beginn diesen Jahres in Russland als "Friedensmission" verkauft wurde, behauptete die Sprecherin des Außenministeriums, in Orwells Roman gehe es in Wirklichkeit um den Niedergang des Liberalismus und alle anderen Interpretationen seien Fake. Im Gegensatz dazu scheint man die Message in der DDR sehr wohl verstanden zu haben - man drohte denjenigen, die das Buch verkauften, verliehen oder lasen, drakonische Strafen an, weil es den Sozialismus verunglimpfe.

In den USA und Großbritannien gingen die Verkaufszahlen für 1984 in die Höhe, nachdem Edward Snowden das PRISM-Überwachungsprogramm der NSA bekannt gemacht hatte. Als eine Beraterin Donald Trumps über "alternative Fakten" sprach, eine Phrase, die für Orwells "Doppeldenk" charakteristisch sei, war der Roman sogar auf Platz 1 der Bestsellerlisten auf Amazon. Häufig wird auch die Debatte um politische Korrektheit mit der Sprachmanipulation in 1984 verglichen, während andere zu Beginn der Corona-Pandemie glaubten, diese sei nur eine Ablenkung, um einen Überwachungsstaat ähnlich dem in 1984 zu installieren. Auch in Belarus wurde der Roman um 2020 häufig gelesen, da man Vergleiche zu der Lebenswirklichkeit im Land zog; kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine wurde das Buch verboten und der Verleger verhaftet.

Die Frage ist nun, welche Lehren man aus diesen beiden so visionären Romanen ziehen kann. Nun, vieles habe ich in meinem Artikel ja bereits dargelegt. Vor allem sollte man sich vor denjenigen in Acht nehmen, die Informationen vorenthalten, aber auch vor jenen, die so viele Informationen liefern, dass diese uns über kurz oder lang passiv und egoistisch machen. Die einen beseitigen Fakten, die anderen reden uns ein, dass diese unwichtig seien oder es sie vielleicht sogar nicht gibt. Zu beobachten ist, dass unser aller Verhältnis zur Sprache immer katastrophaler wird - und das, obwohl sie in der Demokratie das wichtigste Instrument darstellt, um Gewalt zu vermeiden. Deshalb ist es auch enorm wichtig, die Aussagekraft und somit den Wert von Sprache zu erhalten - denn sonst treten an ihre Stelle andere Regulierungsmaßnahmen, und das kann durchaus Gewalt sein. Der Wert von Propaganda wird in beiden Romanen offensichtlich: Sie verwirrt, spaltet und schwächt die Bevölkerung. In diesem Lichte hat auch die russische Propaganda, die sich in unseren Medien eingeschlichen hat, dazu beigetragen, unsere Gesellschaft zu destabilisieren. Vieles geht auch mit fehlender Medienkompetenz und der kollektiven Sucht nach Social Media einher. Ich fürchte, der einzige Weg, sich der Manipulation zu entziehen, ist nach wie vor permanentes Überprüfen und Hinterfragen - ansonsten ist es nämlich vielleicht wirklich bald so weit, und wir kommen den Dystopien von Huxley und Orwell noch näher, als es ohnehin schon der Fall ist.

vousvoyez

Arte-Dokumentation: https://www.youtube.com/watch?v=jmHRC3Bv_IA

Freitag, 14. Oktober 2022

Das einzig Vorhersehbare bei Trump ist die Capslock-Taste beim Erstellen seiner Tweets

Photo by Ai Takeda on Unsplash
Besonders damals, als er erkannte, dass ihm die Felle davonschwammen, twitterte der damalige US-Präsident bekanntlich mehrmals täglich in Großbuchstaben (was in der heutigen Schriftsprache bekanntlich "schreien" bedeutet), bis sein Account irgendwann gelöscht wurde. Was den bekannten Sturm auf das Kapitol zu Beginn vorigen Jahres allerdings nicht verhindern konnte. Das Ende einer Nation, die uns so lange als Inspiration gedient hat? Ich weiß es nicht - sicher ist nur: Das Amerika, von dem wir als Kinder und Jugendliche immer geträumt haben, gibt es nicht mehr. Wobei man sich natürlich darüber streiten kann, ob es das jemals gab. Aber wir können nicht abstreiten, dass viele historische Ereignisse, die von dort ausgingen, die ganze Welt aus den Angeln hoben - im Negativen wie auch im Positiven. Natürlich gehört dazu auch die Raumfahrt - und nachdem ich wieder Lust bekommen habe, werde ich euch heute zwei Geschichten erzählen, die mehr oder weniger mit dem Weltraum zu tun haben. Und die wirklich ganz echt wahr sind! Ischwör!

Das erste Ereignis trug sich im Juni 1947 in der Kleinstadt Roswell, New Mexico zu, nach der es auch benannt wurde. Am 14. Juni dieses Jahres fand der Rncher William (Mac) Brazel auf der Foster Ranch ca. 105 km nordwestlich von Roswell herumliegende Trümmerteile aus Balsaholz, festem Papier, Alufolie, Klebeband und Gummi. Zuerst schenkte er diesen keine Beachtung; als er allerdings damals kursierende Gerüchte über mysteriöse, mutmaßlich außerirdische Flugobjekte aufschnappte, informierte er am 7. Juli den Sheriff von Roswell über seinen Fund. Dieser gab ihn an den lokalen Militärstützpunkt, das Roswell Army Airfield (RAAF), weiter, und so wurden die Trümmer eingesammelt und zur weiteren Analyse an den Armeestützpunkt in Fort Worth, Texas geschickt. Tags darauf erschien dann eine Pressemitteiliung in der Lokalzeitung Roswell Daily Record, in der behauptet wurde, das RAAF habe auf einer Farm in der Nähe der Stadt eine fliegende Untertasse gefunden. Diese Meldung zog natürlich größere Kreise und veranlasste General Roger Ramey und einen Wetterexperten der Armee, noch am selben Tag eine Pressekonferenz in Fort Worth einzuberufen; dort erzählten sie, ei den Trümmern habe es sich um Teile eines Wetterballons gehandelt, und erlaubten den Journalisten auch, die Fundstücke zu fotografieren. In den nächsten dreißig Jahren sprach keiner mehr davon - bis die Geschichte Ende der 1970er Jahre wieder auftauchte.

Im Jahre 1980 veröffentlichten der Schriftsteller und Linguist Charles Berlitz und der Ufologe William Moore das Buch The Roswell Incident (dt. Der Roswell-Zwischenfall), das eine Reihe von Interviews mit Augenzeugen und Beteiligten enthielt, die den Schluss zuließen, die US-Armee vertusche einen echten UFO-Fund. Hier tauchte auch erstmals die Aussage auf, jemand habe eine UFO-Absturzstelle mit mehreren toten Körpern gesehen; Militärpolizisten hätten ihn allerdings weggeschickt und befohlen, darüber zu schweigen. Das war die erste Erwähnung toter Außerirdischer in Verbindung mit Roswell.

Das Buch schlug große Wellen und zog Interviews mit Zeugen und Experten nach sich, unter ihnen auch Walter G. Haut, der 1947 Sprecher des Militärs gewesen war und im Laufe der Jahre sich ständig verändernde Geschichten zum Besten gab - manche Leute nehmen an, dass ihm verboten wurde, etwas zu sagen. Im Jahr 1995 tauchte schließlich Filmmaterial auf, das die Autopsie einer Leiche zeigt, welche wenige Wochen nach dem UFO-Absturz stattgefunden haben soll; der Körper ist unbehaart und hat etwa die Größe eines zwölfjährigen Kindes, aber die Schädelform und das Gesicht sind nicht menschlich, außerdem hat das Wesen sechs Finger und sechs Zehen, dafür fehlen die Geschlechtsorgane. Ich erinnere mich, dass ich damals im Rahmen einer Doku selbst Ausschnitte dieses Films gesehen habe.

Die zweite Geschichte, die ich euch heute erzählen will, ist mir erst kürzlich untergekommen, und das ganz zufällig. Sie ereignete sich ein bis zwei Jahrzehnte später, zur Zeit des von mir in einem anderen Artikel bereits erwähnten "Wettlauf ins All" zwischen der Sowjetunion und den USA, welcher nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs initiiert worden war. Wir erinnern uns, dass der erste Mensch im All, Juri Alexejewitsch Gagarin, der seinen umjubelten Raumflug 1961 absolvierte, aus der Sowjetunion kam, dass aber die USA die Mondlandung 1969 für sich entscheiden konnten. Und wir erinnern uns an die Hündin Laika, die als erstes Säugetier in dem sowjetischen Satelliten Sputnik 2 lebend ins All transferiert worden war. Nun sollen aber schon vor Gagarin sowjetische Kosmonauten in den Weltraum befördert worden sein - ihre Existenz soll allerdings vertuscht worden sein, weil sie diesen "Ausflug" nicht überlebt hatten. Parallel gibt es auch noch die Geschichte des Testpiloten Wladimir Iljuschin, der ebenfalls schon vor Gagarin im All gewesen sein soll - bei seiner anschließenden Landung in China soll er jedoch so schwer verletzt worden sei, dass man beschloss, den Flug geheim zu halten, um keine negative Publicity zu generieren.

Gerüchte über Menschen im All hatte es durchaus schon vor Gagarins Raumflug gegeben. Klar - wo gehobelt wird, fallen Späne, wie man so schön sagt. Und dabei spielte vor allem das italienische Brüderpaar Achille (1933 - 2015) und Giovanni Battista (*1939) Judica-Cordiglia eine wichtige Rolle. Die beiden ambitionierten Amateurfunker hatten im Alter von sechzehn und zehn Jahren begonnen, sich für Radiotechnik zu interessieren und in ihrem Elternhaus in der Lombardei mit einer gebrauchten Funkausrüstung herumzuexperimentieren. Mit Beginn des Satellitenzeitalters fingen sie an, sich auf Funksignale aus dem All zu konzentrieren, die sie mittels Berechnungen unter Nutzung des Doppler-Effekts lokalisierten - wobei sie übrigens erstaunlich präzise waren, besonders wenn man bedenkt, dass sie nur Hobby-Funker waren. Tatsächlich gelang es ihnen im Oktober 1957, Signale von Sputnik 1 zu empfangen und 1958 auch von dem amerikanischen Satelliten Explorer 1. Allerdings zeichneten sie auch Dinge auf, die eher merkwürdig waren und die Gerüchte um die verlorenen Kosmonauten erst richtig anheizen sollten. Im November 1957 etwa fingen sie ein Geräusch ein, welches ihr Vater, ein renommierter Kardiologe, als den Herzschlag eines Hundes identifizierte - da es offenbar aus dem All kam, konnte das nur der Herzschlag der Hündin Laika sein.

Als die Judica-Cordiglias 1959 nach Turin umzogen, bauten die Brüder zunächst eine Funkanlage auf der Dachterrasse des höchsten Hochhauses der Stadt; von Störnebeln behindert, richteten sie sich jedoch bald außerhalb der Stadt ihre Station in einem stillgelegten deutschen Bunker ein, den sie "Torre Bert" nannten. Hier empfingen sie im November 1960 ein SOS-Signal, das sich langsam von der Erde wegbewegte - ein bemanntes Raumschiff, das sich in den Tiefen des Weltalls verlor? Im Februar 1961 nahmen sie Geräusche auf, bei denen es sich laut ihres Vaters um die Herzschläge eines sterbenden Menschen, begleitet von einem Stöhnen und Röcheln, handeln sollte - ein Kosmonaut, der beim Wiedereintritt in den Orbit sein Leben verlor? Tatsächlich gaben die Sowjets kurz darauf zu, eine unbemannte Sonde ins All geschickt zu haben, die beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre zerstört worden war - sagten sie die Wahrheit oder wollten sie den Tod eines Menschen vertuschen? Die Aufnahme, die allerdings am häufigsten durchs Internet geistert, entstand im November 1963, als die Judica-Cordiglia-Brüder schon längst als Nationalhelden gefeiert wurden. Zu hören ist eine Frauenstimme, die Russisch spricht; die jüngere Schwester der beiden Bruder, die ein wenig Russisch konnte, übersetzte die Aufnahme: Neben Zahlenansagen berichtet die Frau, dass ihr heiß sei, sie spricht von Atmen und Sauerstoff und fragt, ob das nicht gefährlich sei - vermutet wird, dass es sich dabei um eine Kosmonautin handelt, die beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre verglühte.

Die Aufnahmen der Brüder Judica-Cordiglia wurden in mehreren staatlichen Radiostationen Italiens gespielt - insgesamt ging man von sieben verunglückten Phantom-Kosmonauten aus. Die Funkstation "Torre Bert" war bald so ausgelastet, dass die beiden Brüder andere Leute zu Hilfe nehmen mussten. Ihre letzten nennenswerten Beobachtungen stammen vom Unglücksflug der Sojus 1 im April 1967, der aufgrund technischer Mängel vorzeitig abgebrochen werden musste und aufgrund eines defekten Fallschirmsystems ein Menschenleben forderte. Für das sowjetische Raumfahrtprogramm war das ein schwerer Rückschlag - zum ersten Mal musste man vor der Weltöffentlichkeit einen Fehler zugeben. Bald danach wurde die Torre-Bert-Funkstation geschlossen - zum einen war die spannende Anfangsphase der bemannten Raumfahrt vorbei, zum anderen begann für Achille und Giovanni Battista Judica-Cordiglia das normale Berufsleben, weshalb sie keine Zeit mehr für ihr aufwändiges Hobby hatten.

Was aber hat es mit diesen beiden durchaus spannenden Geschichten auf sich? Kommen wir nun also zu dem Teil, an dem ich euch die Illusion nehme und euch an meiner Enttäuschung teilhaben lasse, die ich empfand, als ich die Fakten erfuhr. Warum soll nur ich allein leiden?

Nun, was Roswell betrifft, so geschah der Absturz des Flugobjekts zu einer Zeit, als ständig UFO-Sichtungen gemeldet wurden - der Zusammenhang mit Außerirdischen war also schnell hergestellt. Dennoch dauerte es drei Jahrzehnte, bis sich wieder Leute dafür interessierten - dann aber liefen die Geschichten vollkommen aus dem Ruder. Nach Berlitz' Buch geschah das, was immer passiert, wenn etwas so gewaltige Aufmerksamkeit erregt - es tauchten immer mehr vermeintliche Zeugen und selbsternannte Experten auf, die alle etwas gesehen haben wollten. Zudem war das Buch über Roswell nicht das erste Werk von Berlitz, welches häufig kritisiert wurde; Berlitz war bekannt für seine Bücher über unerklärliche Phänomene, so schrieb er beispielsweise über das Bermuda-Dreieck und über Atlantis, und auch diese Werke strotzen vor Falschaussagen und Verfälschungen der Quellen. Auch die Aussagen von Walter G. Haut sind in diesem Lichte kritisch zu sehen, zumal er, wie schon zuvor erwähnt, seine Geschichte von Jahr zu Jahr immer wieder änderte. Er erklärte zwar, dass er von seinen aussagen keinesfalls profitiere, es ist aber mehr als offensichtlich, dass er das mediale Interesse durchaus genoss. Übrigens kamen in den 1980er Jahren auch erste Gerüchte über die Erforschung außerirdischen Lebens in der berühmten Area 51, dem militärischen Sperrgebiet in Nevada, auf, und obwohl die beiden Geschichten ursprünglich nichts miteinander zu tun hatten, wird der Roswell-Zwischenfall heutzutage sehr häufig mit den Verschwörungsmythen um Area 51 verknüpft.

Im Laufe der Zeit wurden die Geschichten rund um Roswell immer abenteuerlicher, und so entwickelte diese Legende zunehmend ein Eigenleben, das seinen Höhepunkt mit dem bereits erwähnten Santilli-Film feierte, der auch Alien Autopsy genannt wurde. Benannt wurde er nach dem Filmproduzenten Ray Santilli, der den Schwarzweiß-Film zum ersten Mal öffentlich vorstellte. Als ich zum ersten Mal Ausschnitte daraus zu Gesicht bekam, war ich kaum älter als zwölf - als ich Jahre später erfuhr, dass es sich um eine Fälschung handelt, war ich bitter enttäuscht. Ja, ganz recht, der Film ist nicht echt - und das fällt eigentlich relativ schnell auf: Sowohl das Ambiente als auch die Qualität der Kameraführung sowie  die geringe Zahl der beteiligten Ärzte wirkten merkwürdig amateurhaft für eine Forschungsarbeit von solch enormer Tragweite. Zudem verliert das Bild immer an Schärfe, sobald etwas detailliertere Aufnahmen zu sehen sind, und an wesentlichen Stellen wurden ganz offensichtlich Schnitte vorgenommen, was darauf schließen lässt, dass die Szenarien zuvor passend arrangiert worden waren. eine Zeitlang ging das Gerücht um, bei dem Körper handle es sich um eine menschliche Leiche mit körperlichen Anomalien, aber 2006 bekannte John Humphreys, Experte für Spezialeffekte in Filmen, das Alien-Modell aus Latex hergestellt und zudem auch einen der Autopsie-Ärzte gespielt zu haben.

Das abgestürzte Flugobjekt war also kein außerirdisches UFO - ein gewöhnlicher Wetterballon scheint das vermeintliche Raumschiff allerdings auch nicht gewesen zu sein. Heute vermutet man, dass es sich bei den Trümmern um die Überbleibsel eines missglückten Ballonzuges handelte, der im Rahmen des Project Mogul als Frühwarnsystem für sowjetische Atomtests konstruiert worden war. Da dieses Projekt jedoch geheim war, wurde die Geschichte mit dem Wetterballon erzählt. Die toten Aliens könnten in Wirklichkeit Crashtest-Dummys gewesen sein, die damals zu Testzwecken für die Konstruktion von Fallschirmen dort abgeworfen worden waren. Ob das genauso war, kann ich nicht sagen, aber es klingt zumindest schlüssiger als die Alien-Geschichte. Aber wie Menschen so sind, konnte man natürlich nicht alle von ihrer Überzeugung abbringen, in Roswell seien Außerirdische abgestürzt, und so profitiert die Wirtschaft dieser sonst nicht allzu spektakulären Stadt im Südwesten der USA ordentlich vom UFO-Tourismus. Es gibt in dieser Gegend mehrere vermeintliche Absturzstellen, außerdem Museen, Festivals und Kongresse. Zumindest für Roswell hat dieser Hype also auch Konsequenzen. Und natürlich für die Film- und Fernsehbranche, denn diese Geschichte wird natürlich immer wieder verwurstet und hat unser Alien-Bild geprägt wie kaum eine andere. Ich erinnere mich noch lebhaft an den Alien-Merchandise der späten 1990er Jahre, als die Spielzeugindustrie versuchte, mit leuchtenden, glitzernden und blinkenden Objekten gegen den Digitalisierungs-Hype anzukämpfen und ich mir heimlich diese ekelhaft weichen, neonfarbenen Fruchtgummi-Imitat-Alienköpfe in den Mund stopfte. Sogar Akte X, die Serie, die man im Alter von etwa zwölf bis fünfzehn Jahren sehen musste, wenn man cool sein wollte, selbst wenn man sich danach vor Angst nicht mehr aufs Klo traute, hat eine Roswell-Folge - die allerdings gedreht wurde, als die schrillen Neunziger bereits vorbei waren.

Im Gegensatz zu Roswell wurde die Geschichte um die vermeintlichen Phantom-Kosmonauten von der Popkultur nicht so extrem ausgeschlachtet - was wohl der Grund ist, warum sie mir erst in jüngerer Zeit begegnete. Konkrete Beweise für die verlorenen Kosmonauten gibt es bis heute nicht - dabei ist die Geschichte gar nicht so weit hergeholt, wie manche von euch vielleicht jetzt denken, denn tatsächlich neigten die Sowjets damals dazu, nur Erfolge ihrer Raumfahrt-Mission öffentlich zu machen und Fehlschläge zu vertuschen. Allerdings weisen viele Geschichten nicht nur einen Mangel an Belegen, sondern auch etliche Fehler im Detail auf. Wie schon gesagt war bereits vor Gagarins Raumflug davon die Rede, dass diese oder jene Person eine Reihe von Todesfällen unter Kosmonauten aufgedeckt hätte - 1959 wurden ein paar verunglückte Fallschirmspringer kurzerhand zu Phantom-Kosmonauten. 1960 schrieb der amerikanische Science-Fiction-Autor Robert A. Heinlein (bekannt für den Roman Starship Troopers) in seinem Artikel Wahrheit über eine Geschichte, die ihm Kadetten der Roten Armee in Vilnius erzählt haben sollen: nämlich dass die Sowjetunion am selben Tag einen Menschen in die Erdumlaubahn gebracht hätte. Tatsächlich war an diesem Tag eine ungeschraubte Weltraumkapsel ins All geschossen worden - diese war aber unbemannt gewesen.

Was die Brüder Judica-Cordiglia angeht, so hat deren beachtliches Archiv an Funkaufnahmen sehr wohl historischen Wert, und es ist auch wahr, dass sie Signale aus dem Weltall empfangen haben - deren Echtheit ist ja zum Teil auch medial recht gut abgesichert. Allerdings wurde vieles, was sie damals aufgenommen haben wollen, auch widerlegt - etwa die vermeintlichen Herzschläge der Hündin Laika. Diese war am 3. November 1957 zu Propagandazwecken in einen Raumflugkörper verfrachtet und in eine Erdumlaufbahn befördert worden. Dass sie ihr "Abenteuer" nicht überleben sollte, war von Anfang an klar - ursprünglich war geplant, ihr nach zehn Tagen im Orbit vergiftetes Futter zu verabreichen, um ihr einen qualvollen Tod beim Wiedereintritt in die Atmosphäre zu ersparen. Sie starb alllerdings bereits fünf bis sieben Minuten nach dem Start der Rakete, wohl an Stress und Überhitzung - was allerdings erst 2002 bekannt werden sollte. Ihre angeblichen Herzschläge wurden aber drei Tage nach ihrem Tod aufgenommen. Selbstverständlich unterstrich die Expertise des Vaters, der ja Kardiologe war, vermeintlich den Wahrheitsgehalt der Meldungen über Herzschläge - allerdings darf man nicht vergessen, dass er dieser Situation nicht unvoreingenommen gegenüberstand, sondern stets in dem Wissen herangezogen wurde, dass seine Söhne versuchten, Signale aus dem Weltall zu interpretieren. Ähnlich verhält es sich auch mit der Übersetzung der vermeintlichen Kosmonautin - durch die Voreingenommenheit der Übersetzerin, gepaart mit der Verzerrung der Stimme, die da zu hören ist und möglicherweise auch unzureichenden Sprachkenntnissen ist anzunehmen, dass die Übersetzung fehlerhaft ist. Tatsächlich stellte sich bei neuerlicher Überprüfung heraus, dass einige Sätze gar nicht vorhanden waren und dass die Wörter, die tatsächlich gefallen sind, in einem alternativen Kontext etwas ganz anderes bedeuten als das, was interpretiert wurde. Auffällig ist auch, dass bei diesen Aufnahmen die Regeln des militärischen Funkverkehrs nicht eingehalten wurden. Abgesehen davon gab es zu dem Zeitpunkt, als die Aufnahme entstand, noch gar kein Programm für weibliche Kosmonauten, und die ersten, die später tatsächlich ins All kamen, wurden auch sehr schnell bekannt. Ganz abgesehen davon wird der Funkverkehr beim Wiedereintritt in den Orbit unterbrochen - sprich, was immer die Brüder da aufgenommen hatten, es war keine Kosmonautin. Auch was das SOS-Signal betrifft, so kann die Vermutung eines verlorengegangenen Raumschiffes widerlegt werden - dennhäte es die Erdumlaufbahn verlassen, hätte man es noch einmal extra beschleunigen müssen, und das konnten die damaligen Gefährte noch nicht leisten.

Was hinter den Verschwörungsmythen rund um die verlorenen Kosmonauten steckt, ist natürlich so vielfältig wie die meisten anderen Geschichten in dieser Richtung. Ein bisschen erinnern sie an die Verschwörungserzählungen rund um den 11. September 2001 - der böse Russe, dem man alles zutraut und der alles daransetzt, den Wettlauf ins All zu gewinnen, weshalb er, wenn möglich, auch über Leichen geht. So gibt es Geschichten über Selbstmord-Kosmonauten, die zum Mond geschickt worden sein sollen in dem Wissen, dass sie nicht mehr zurückkehren würden - wenn man sich allerdings die Baupläne der sowjetischen Sonden ansieht, die zum Mond geschickt wurden, so ist dort gar kein Platz für einen Passagier. So weit hergeholt ist das allerdings trotzdem nicht - denn diejenigen, die ins All geschickt wurden, wussten natürlich, dass sie möglicherweise nicht zurückkommen würden und waren bereit, für ihr Vaterland zu sterben.  Die Unfälle, die tatsächlich passiert sind, haben jedoch einen hohen Bekanntheitsgrad erhalten - und selbst die, die vertuscht werden sollten, sind irgendwann ans Licht gekommen, sobald die Akten geöffnet wurden. Insgesamt kann man sagen, dass wir heutzutage schon ein so detailliertes Wissen über diese Missionen haben, dass man davon ausgehen kann, dass wir auch von eventuellen verdeckten Missionen schon erfahren hätten.

Wie ihr also seht, stecken auch hinter diesen tollen Geschichten vergleichsweise langweilige, doofe Fakten. Ich weiß, das ist nicht lustig - aber ich muss sagen, dass zumindest die Torre-Bert-Aufnahmen durchaus eine interessante Geschichte beherbergen, auch ohne dass man etwas dazuerfinden muss. Jedenfalls hoffe ich, es hat euch trotzdem gefallen und hoffe, dass wir uns bald wieder sehen - zumindest Themen habe ich, wie gesagt, genug. Also bis zum nächsten Mal! Bon voyage!

vousvoyez

Roswell:

https://hoaxilla.com/hoaxilla-33-roswell-ufos-co/

http://roswellproof.homestead.com/Haut.html#anchor_8

https://www.bbc.co.uk/manchester/content/articles/2006/04/07/070406_alien_interview_feature.shtml

https://verschwoerungstheorien.fandom.com/de/wiki/Santilli-Film

https://www.heise.de/newsticker/meldung/Zahlen-bitte-16-Minuten-Alien-Autopsie-Santelli-Film-der-die-Welt-taeuschte-4714026.html?seite=2

https://signallinie.info/der-santilli-film/

Verlorene Kosmonauten:

https://hoaxilla.com/hoaxilla-75-lost-in-space/

https://www.zeit.de/1965/13/leichen-oder-enten

https://skeptoid.com/episodes/4115

https://www.youtube.com/watch?v=INgk5IU4UzE&t=1s

https://www.youtube.com/watch?v=nMtjDM7QpJk&t=645s

https://verschwoerungstheorien.fandom.com/de/wiki/Verlorene_Kosmonauten

http://www.satellitenwelt.de/jc_turin.htm

https://fahrplan.events.ccc.de/congress/2009/Fahrplan/events/3710.en.html