Donnerstag, 16. April 2020

Karotten sind gut für die Augen - oder hast du schon einmal einen Hasen mit Brille gesehen?

© vousvoyez
Allerdings habe ich, wie in meinen Kindheitsmythen schon erwähnt, als Kind fleißig Karotten gegessen, und trotzdem kann ich heute ohne Brille ab einer gewissen Entfernung ein Springseil nicht von einer Stichsäge unterscheiden. Traurig, aber wahr. Wobei ich mir sicher bin, dass ich in dem einen oder anderen Bilderbuch tatsächlich schon mal Hasen mit Brille gesehen habe - ich erinnere etwa an den kürzlich besprochenen Struwwelpeter, wo der Hase die Brille des Jägers aufsetzt, nachdem er sie ihm samt dem Gewehr weggenommen hat. Offenbar habe ich in meiner Kindheit doch zu viel ferngesehen und deshalb viereckige Augen gekriegt - wobei ich jetzt aber nicht mehr ferngesehen habe als andere Kinder damals. Eher weniger. Denn ich kannte Kinder, die durften schon im Volksschulalter fernsehen, ohne die Eltern vorher zu fragen. Und ja, ich musste meine Eltern vorher fragen - denn ich stamme ja bekanntlich noch aus der Zeit, in der die Fernseher aus Stein gehauen wurden! Haltet es mir nur ruhig vor, ich kann die Wahrheit vertragen!

Ja, genau, ich möchte heute über die Wahrheit sprechen - und zwar deswegen, weil ich in vielen Artikeln, auch dem letzten auf diesem Blog, schon angeführt habe, dass der Begriff "Wahrheit" gerade von Schwurblern sehr häufig überstrapaziert wird. Und nicht nur von ihnen - auch Leute, die Schwurbel widerlegen wollen, sind oft davon überzeugt, im Besitz der einzig richtigen, objektiven Wahrheit zu sein. Und da kann ich nur sagen: Vorsicht Falle! Oder wie Alfred Dorfer einst sagte: "Die Wahrheit ist weiblich, und wie alles Weibliche muss sie sich viel gefallen lassen."

Ich behaupte mal, im Besitz der einzig wahren Wahrheit ist niemand. Es gibt Fakten, die zu leugnen entweder Sturheit oder sogar Dummheit voraussetzt, aber das ist halt nicht dasselbe. Fakten liefern nur einen Teil der Wahrheit, aber im Großen und Ganzen ist bei jedem Menschen immer eine mehr oder minder große Portion an Subjektivität vorhanden - vollkommen objektiv ist niemand. Die Erkenntnistheorie hat dafür einen schönen Begriff: Intersubjektivität oder im Konstruktivismus auch Transsubjektivität. Konkret gesagt meint man damit einen komplexen Sachverhalt, der für die Mehrheit der Betrachter gleichermaßen erkennbar und nachvollziehbar ist. Oder anders gesagt: "Realität ist die Illusion, dass Beobachtungen ohne Beobachter gemacht werden können." (Heinz Foerster) Das ist ähnlich wie die Frage, ob das Geräusch eines fallenden Baumes auch dann existiert, wenn es niemand hört. Oder das berühmte Gedankenexperiment Erwin Schrödingers, das schon in die Quantenphysik hineinspielt. All das macht, wie ich finde, deutlich, wie komplex der Begriff der Wahrheit eigentlich ist. Jeder Psychologe, jeder Neurowissenschaftler (und natürlich auch die Innen und alles dazwischen) kann uns sagen, dass die Wahrnehmung ohne Bewertung nicht denkbar ist - sprich, dass nichts, was wir über die Welt aussagen können, vollkommen objektiv ist. Kurz gesagt: Wir als wahrnehmende und konstruierende Spezies haben auf eine vermeintliche "Realität" oder, um es mit Immanuel Kant auszudrücken, das "Ding an sich" niemals vollständigen Zugriff - wir operieren nie mit dem Realen, sondern immer mittels Selektionen und Repräsentationen. Denken wir nur an Platons Ideenwelt: In dieser Welt ist die ideale Form von jedem Ding, das es gibt, repräsentiert. Jedoch kennt keiner von uns diese ideale Form - alles, was uns gegeben ist, sind unvollständige Abbildungen, weil jede Vorstellung von uns und unserer persönlichen Wahrnehmungswelt getragen wird. Alles, was uns bleibt, ist der Prototyp - also das Bild, das wir bei der Benennung eines bestimmten Begriffes vor unserem inneren Auge haben. Spricht jemand von einem Tisch, so ist in deiner Vorstellung das Bild eines Tisches schon vorhanden. Auch wenn du einen Tisch zeichnest, der von dem Prototypen abweicht, so ist diese Zeichnung selten die Abbildung dessen, was du zuerst vor deinem inneren Auge siehst, wenn jemand das Wort "Tisch" sagt.

Dass niemand im Besitz einer allgemein gültigen Wahrheit ist, zeigt auch, dass Philosophen und Wissenschaftler schon seit Jahrtausenden darüber streiten, was Wahrheit eigentlich ist - sowohl, was ihre Natur als auch, was den persönlichen Erwerb derselben betrifft. Ich erinnere diesbezüglich wieder an Platon und sein Höhlengleichnis: "Alles, was wir sehen können, sind Schatten." Wobei das Höhlengleichnis uns am deutlichsten zeigt, dass auch die Gewinnung von Erkenntnis ihre Tücken hat, was uns wieder zum Kampf Schwurbler gegen Nicht-Schwurbler zurückbringt: Wer die höchste Stufe der Erkenntnis erlangt (im Fall des Höhlengleichnisses die Sonne sieht), wird Schwierigkeiten haben, diese Unwissenden zu vermitteln - die einen wollen weiterhin glauben, dass die Schatten, die sie sehen, die wahre Welt sind, während die anderen zwar anerkennen, dass der andere die Erkenntnis erlangt hat, selbst aber dort bleiben wollen, wo sie sind, weil das weniger Anstrengung bedeutet. Sprich: Selbst wenn jemand im Besitz einer allgemein gültigen Wahrheit wäre, so könnte er diese wohl kaum vermitteln, weil alle anderen zu sehr in ihrer eigenen Wahrnehmung gefangen sind. Übrigens berufen sich auch Schwurbler bisweilen gern auf das Höhlengleichnis - denken dabei allerdings meist, sie seien im Besitz der allgemeingültigen Wahrheit und wir Schlafschafe wollten das nur nicht verstehen.

Die Komplexität des Wahrheitsbegriffs zeigt sich auch an der Fülle unterschiedlichster Ansätze und Definitionen. Aristoteles, Thomas von Aquin und Kant gehen von der Wahrheit als der Übereinstimmung von erkennendem Verstand und der erkannten Sache aus, sprich: Wer die Wahrheit sagt, benennt das, was ist. Klingt einfach, aber wer einmal mit seinem Gegenüber über die Farbe seiner Tapeten gestritten hat, weiß, dass es das nicht ist. Die von Karl Marx formulierte dialektisch-materialistische Widerspiegelungstheorie wiederum benennt die Übereinstimmung von Bewusstsein und objektiver Realität, anders gesagt, die Wahrheit kann und muss von demjenigen bewiesen werden, der sie benennt. Eine Methode, die etwa in der Diskussion mit Schwurblern bis heute noch ihre Gültigkeit hat: Die Beweislast liegt bei demjenigen, der eine Behauptung aufstellt, und nicht bei jenen, die sie glauben sollen. Der logische Empirismus im Sinne von Ludwig Wittgenstein wiederum definiert Wahrheit als "Gesamtheit der Tatsachen", die wiederum aus Gegenständen oder Dingen und der Verbindung zwischen ihnen bestehen - mit anderen Worten, zwischen Sprache und Welt besteht eine abbildende Beziehung, mit deren Hilfe Wahrheiten zum Ausdruck gebracht werden. Die von Alfred Tarski formulierte semantische Theorie der Wahrheit bringt die Korrespondenz zwischen Aussage und Tatsache auf eine bestimmte Formel: Wahrheit ist, wenn ich sage, das Gras ist grün, und diese Aussage wird durch einen Blick aus dem Fenster, neben dem ich gerade sitze, bestätigt ("x ist eine wahre Aussage dann und nur dann, wenn p"). Dies könnte ich auch auf den Artikel anwenden, den ich vor ein oder zwei Jahren zum Dunning-Kruger-Effekt geschrieben habe: Wenn du mir sagst, Reiten ist total leicht, und meine erste Reitstunde besteht nur daraus, dass ich versuche, richtig zu sitzen, werde ich dir sagen, dass du mir nicht die Wahrheit gesagt hast, sondern nur das, was du für die Wahrheit gehalten hast. Somit kommen wir zur Redundanztheorie: Du strapazierst den Begriff der Wahrheit, um mich von einem bestimmten Sachverhalt zu überzeugen. Die Minimaltheorie nach Paul Horvich erklärt den Wahrheitsbegriff als fern jeder begrifflicher und wissenschaftlicher Analyse. Peter Frederick Strawson wiederum formulierte in seinem Aufsatz Truth die performative Theorie, die auf der Redundanztheorie aufbaut: Wenn du mir sagst, dass etwas wahr ist, vollziehst du deine Aussage sprachlich mit dem Wahrheitsbegriff. Die Kohärenztheorie setzt Wahrheit mit der Freiheit von Widerspruch gleich, während die Konsensustheorie von einer Akzeptanz aller vernünftiger Gesprächspartner ausgeht - wobei Jürgen Habermas vier Geltungsansprüche voraussetzt: Verständlichkeit, Wahrhaftigkeit, Wahrheit und Richtigkeit. Bleibt uns also nur der Wahrheitsbegriff im Deutschen Idealismus: Johann Gottlieb Fichte erklärt Wahrheit, die nicht von einer allgemeinen Subjektivität erlebt wird, für widersprüchlich, während Hegel sie als Übereinstimmung von Urteil und Realität auffasst. Oder, wenn man es religiös erklären will: Nur Gott ist im Besitz einer allgemein gültigen Wahrheit. Der erste Zweifel an einer objektiven Wahrheit entstand übrigens mit Nietzsche, der auf die subjektiven Faktoren hinter jeder Erkenntnis hinwies. Zu nennen sind hier auch der Universalismus, der von einer allgemein gültigen Ethik ausgeht, und der Kulturrelativismus, der die Ethik und damit auch die Wahrheit als von kulturellen Ansichten abhängig begreift.

Ich denke, mit diesen Ausführungen wird klar, wie komplex der Wahrheitsbegriff wirklich ist und wie wenig wir uns sicher sein können, im Begriff einer allgemein gültigen Wahrheit zu sein. Was ich von Verfechtern der "alternativen Wahrheit" oft höre, ist, Wissenschaft berufe sich auf Objektivität, und eine einmal bestätigte Theorie dürfe nie wieder angezweifelt werden. Wer so etwas behauptet, hat von Wissenschaft keine Ahnung, denn Wissenschaft baut auf keiner objektiven Wahrheit auf, sondern auf Fakten, und diese sind nicht objektiv, sondern intersubjektiv, sprich, sie stimmen mit der Wahrnehmung der Mehrheit überein. Wissenschaft sagt nichts über Wahrheiten aus, sondern findet Modelle und Erklärungen, die dieser am nächsten kommen. Forschung muss valide, reliabel und unabhängig von der/den untersuchenden Person/en sein. Und das ist auch der Unterschied zu denjenigen, die behaupten, alles zu wissen und im Besitz einer absoluten Wahrheit zu sein - wer tatsächlich um Wahrhaftigkeit bemüht ist, der weiß, dass er nichts weiß, oder anders gesagt: Er weiß, dass kein Wissen dieser Welt unfehlbar ist. Deswegen können wissenschaftliche Theorien auch jederzeit widerlegt werden - wissenschaftlich ist, was sowohl verifizier- als auch falsifizierbar ist, und keine Erkenntnis ist für alle Zeiten unumstößlich.

Was die Existenz einer objektiven Realität betrifft - man kann darüber streiten, ob es eine solche gibt oder nicht, aber wofür auch immer man sich entscheidet, es spielt in der Praxis eigentlich keine Rolle, weil wir, sollte es sie geben, ohnehin keinen Zugriff darauf haben. Und deshalb mein Appell: Seid misstrauisch gegen all jene, die behaupten, im Besitz einer allgemein gültigen Wahrheit zu sein! Dies könnte ein erstes Indiz dafür sein, dass sie nur Unsinn erzählen.

vousvoyez

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