Sonntag, 24. Juli 2022

Es ist respektlos gegenüber dem Wort "Respekt", für Donald Trump so etwas wie Respekt einzufordern

Photo by Alex Azabache on Unsplash
Erinnert ihr euch noch an jene seligen Tage, als wir glaubten, wir wären die dicke Orange für immer los? Oder gar an die noch besseren Tage, als wir glaubten, niemand, der noch alle Tassen im Schrank hat, würde Trump zum Präsidenten wählen? Hach, was waren wir doch herrlich naiv - damals, back in the days! Und als die junge Amanda Gorman bei Joe Bidens Angelobung auf dem Podium stand und ihr Gedicht The Hill We Climb zum Besten gab, dachten wir, die USA hätten die Kurve gerade noch gekriegt. Wie wenig wir doch wussten!

Ja, wir müssen mal wieder über so ein Thema sprechen. Und zugegeben, ich habe lange überlegt, ob ich das überhaupt machen soll - zumal ich in letzter Zeit irre viel um die Ohren hatte und mich deshalb nach einer längeren Pause zurückmelde. Und es so viele Kontroversen enthält, dass man sich damit unheimlich tief in die Nesseln setzen kann - zudem ist es so unangenehm, dass ich, offen gestanden, nur ungern darüber spreche. Und doch geht es uns eigentlich alle an, auch wenn es uns aktuell noch sehr weit weg erscheint - zumindest geographisch. Trotzdem muss ich euch warnen, falls ihr besonders zart besaitet seid: Falls euch ein Thema wie Abtreibung zu sehr an die Nieren geht, lest diesen Artikel bitte nicht! Ich werde euch nicht böse sein. Ich sehe es ja nicht, hihi! Aber beginnen wir erst mal von vorn.

Das Thema Schwangerschaftsabbruch war kürzlich wieder in aller Munde - und spaltet die Meinungen wie kaum ein anderes. Und gleich vorweg: Ich kann verstehen, dass nicht alle von euch zu 100 % mit mir übereinstimmen. Die Sache ist dermaßen kompliziert, dass es nur sehr, sehr schwer ist, überhaupt auf einen gemeinsamen Konsens zu kommen. Was ich allerdings überhaupt nicht nachvollziehen kann, ist, wie man sich als "Lebensschützer" titulieren kann und damit ausschließlich ungeborenes Leben meint - den meisten ist es nämlich offensichtlich völlig egal, wie es um das Leben der Mutter steht oder was hinterher mit dem geborenen Kind geschehen soll. Aber das ist nur einer von vielen Aspekten.

Hier in Österreich kann eine Schwangerschaft innerhalb der ersten drei Monate legal abgebrochen werden. In Deutschland wiederum sind Abtreibungen rechtswidrig, aber unter gewissen Umständen trotzdem nicht strafbar - beispielsweise, wenn man mindestens drei Tage zuvor eine anerkannte Beratung in Anspruch genommen hat. Deren höchste Priorität ist allerdings häufig der Schutz des ungeborenen Lebens - sprich, man darf seine Schwangerschaft nur dann abbrechen, wenn einem zuvor davon abgeraten wurde. Aber immerhin hat man kürzlich einen großen Sieg errungen - nämlich die Abschaffung des § 219a, der "Werbung" für Schwangerschaftsabbrüche verbot. In der Praxis bedeutete dies, dass Ärzte auf ihren Homepages nicht im Detail über Abtreibungen informieren durften. Dies hatte zur Folge, dass diese gar keine Informationen mehr darüber preisgaben, ob sie Abtreibungen anbieten, oder das Angebot gänzlich einstellten. Fast zeitgleich mit dem Ende dieses Paragraphen gingen die USA jedoch in eine ganz andere Richtung: Hier wurde das Roe-v.-Wade-Gesetz gekippt, welches das bundesweite Recht auf Abtreibung gewährleistet. Das bedeutet, dass jeder Bundesstaat jetzt nach eigenem Gutdünken über dieses Recht entscheiden darf.

In beiden Fällen geht es aber tatsächlich um eine grundsätzliche Frage: nämlich um die ethische Vertretbarkeit von Abtreibungen. Und das ist es, woran sich die Geister scheiden - sowohl in Europa als auch in den USA. Wobei die Anzahl der Abtreibungsbefürworter, Innen und alle dazwischen in den USA keineswegs so niedrig ist, wie die Entscheidung des Supreme Court suggeriert, aber dazu später mehr. Die Frage selbst fängt schon einmal damit an, wo ein Mensch eigentlich beginnt, Mensch zu sein - und ab wann sein Leben demnach auch schützenswert ist. Das tatsächliche Problem jedoch ist, dass eine Schwangerschaft jegliches Verständnis von Individualismus ad absurdum führt. Das beginnt bei der Frage, ob man von einem Fötus, der ohne den Körper der Mutter gar nicht lebensfähig ist, schon von einem Individuum sprechen kann und endet mit jener, ob das Leben jenes noch nicht alleine lebensfähigen Körpers gleich oder gar höher zu bewerten ist als das der Mutter. Es ist also in der Tat eine extrem schwierige ethische Frage, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Infolgedessen ist es natürlich leicht, Leute mit Bildern und Plastiknachbildungen von Föten und manipulativen Phrasen zu ködern und gleichzeitig Frauen, die abgetrieben haben oder abtreiben wollen, pauschal als böse Monster dazustellen, die süße kleine Babys ermorden wollen. Und tatsächlich nahmen viele der Bundesstaaten die Abschaffung von Roe vs. Wade dankbar an - Missouri verbot Schwangerschaftsabbrüche bereits eine Stunde später, weitere Staaten folgten. In Oklahoma und Texas ist eine Abtreibung verboten, sobald der Arzt en Herzschlag des Embryos feststellen kann - was häufig bereits der Fall ist, bevor die Frau überhaupt bemerkt hat, dass sie schwanger ist. In diesem Stadium kann der Embryo weder denken noch Schmerz empfinden - aber kulturell bedingt begreifen wir das Herz als Zentrum allen Lebens, selbst wenn der Mensch auch ohne Gehirn, Lunge oder Nieren nicht lebensfähig wäre. Selbst wenn man oft den Eindruck hat, dass ein Hirn für das Überleben bei manchen nicht notwendig ist.

Bei all diesen Fragen sind jene "Lebensschützer", die vor Abtreibungskliniken demonstrieren, sprachlich manipulativ argumentieren und jegliche wissenschaftlichen Fakten ignorieren, absolut keine Hilfe. Denn diese betreiben genau das, was in jener Debatte so fatal ist, nämlich Schwarz-Weiß-Malerei - und das Einpflanzen von Schuldgefühlen für all jene, die nicht ihrer Meinung sind. Und gerade deshalb sollten wir uns fragen: Sollen wir wirklich auf jene hören, die auf Manipulation und das Verdrehen von Fakten angewiesen sind, um zu überzeugen? Denn Abtreibungsverbote retten zwar mehr potenzielles Leben, töten aber mehr Frauen - denn wenn eine Frau wirklich kein Kind austragen will, aber keine Möglichkeit auf eine legale, medizinisch sichere Abtreibung hat, greift sie häufig zu gefährlichen Methoden, um das werdende Leben in sich loszuwerden. Wir vergessen bei der Debatte nämlich allzu häufig, dass eine Geburt nicht etwas ist, das man einfach mal so nebenbei erledigt: Sie ist ein einschneidendes Erlebnis für den Körper und die Psyche der gebärenden Person - und das gilt schon für jene, die sich freiwillig dazu entschieden haben. Dies zeigt schon der Fall jenes zehnjährigen Mädchens aus Ohio, das nach einer Vergewaltigung schwanger geworden war und dem die Abtreibung im eigenen Bundesstaat verweigert wurde, weshalb sie erst in den Nachbarstaat Indiana reisen musste, um diese vornehmen lassen zu können. Mit anderen Worten: Das Leben eines Kindes, welches das Pech hatte, bereits mit zehn Jahren schwanger zu werden, ist in Ohio weniger wert als das potenzielle Leben einer Ansammlung von Zellen im Körper jenes Kindes. Ebenso zeigt die Lockerung des Waffengesetzes zur selben Zeit - ein Gesetz, das sowieso schon völlig aus der Zeit gefallen ist -, dass es eigentlich gar nicht um den Schutz von Leben gehen kann. Zumal Amokläufe in Schulen nach wie vor immer wieder die Schlagzeilen beherrschen. Wenn man zynisch ist, könnte man sagen, wenn Frauen jetzt gezwungen sind, Kinder auf die Welt zu bringen, muss man ja irgendeine Strategie entwickeln, um sie auf anderem Wege wieder loszuwerden. Aber worum geht es eigentlich?

Das Paradoxe an der Situation ist ja gerade, dass die Mehrheit der US-Bevölkerung ein generelles Abtreibungsverbot keineswegs befürwortet und sich bei der letzten Präsidentschaftswahl für die liberalere, progressivere Seite, nämlich die Demokraten, entschieden hat. Trotzdem scheint das ganze Land sich nach wie vor im Würgegriff einer einerseits rechtskonservativen, andererseits evangelikal-fundamentalistischen Minderheit zu befinden. Wie ist so etwas möglich in einem Land, das sich seit mehr als einem Jahrhundert selbst als die perfekte Demokratie begreift? Nun, die Antwort ist vielleicht, dass dieses Bild falsch ist - schon als Teenager habe ich mich gefragt, warum immer behauptet wird, dass jeder in den USA geborene Bürger eines Tages Präsident werden kann, wenn dieses Land doch bisher ausschließlich von weißen Männern fortgeschrittenen Alters (als Obama kam, war ich schon Mitte Zwanzig) regiert worden war. Und ich glaube, ich habe ebenfalls schon erwähnt, dass die Verfassung, auf die die USA so stolz sind, von reichen weißen Männern unterzeichnet wurde, die nichts dabei fanden, auf ihren Besitztümern Sklaven schuften zu lassen.

Aktuell ist es vor allem der Supreme Court, der eine ernsthafte Gefahr für die Demokratie in den USA darstellt. Dieser ist zu zwei Dritteln von Republikanern besetzt - die bereits unter anderem darüber diskutieren, ob das Recht auf Verhütung eingeschränkt, ethnische Segregation an öffentlichen Schulen wieder eingeführt, die Säkularisierung (also die Trennung von Kirche und Staat) aufgehoben und homosexuelle Handlungen erneut illegalisiert werden sollen. Außerdem wurde neben der Lockerung des Waffengesetzes und dem Kippen des Abtreibungsrechts Schulen bereits erlaubt, ihre Schüler:innen zum Christentum zu nötigen, und die bewiesene Unschuld eines Schwarzen Mannes reicht nicht aus, um dessen Todesurteil aufzuheben. In Florida droht Lehrern die Gefängnisstrafe, sobald sie das Wort "schwul" auch nur aussprechen, während Professoren und Studierende dem Staat gegenüber Rechenschaft über ihre politische Meinung ablegen müssen, um die finanzielle Förderung ihrer Universität zu gewährleisten, und 54 Mathematik-Lehrbücher wurden verboten, weil in ihnen eine kritische Auseinandersetzung mit Rassismus angedeutet wird. Gerade der Supreme Court ist das beste Beispiel dafür, wie groß der Einfluss Trumps trotz seiner Abwahl immer noch ist - denn die Macht desselben hat tatsächlich das größte Potenzial, die Demokratie in den USA zu beenden. Dies liegt daran, dass die Richter:innen des Obersten Gerichtshofs in den USA auf Lebenszeit ernannt werden - was zu Gründungszeiten weit weniger lang war als heutzutage. Dazu kommt noch, dass es in den Vereinigten Staaten nur zwei Parteien gibt, die politisch Präsidentschaft relevant sind - weshalb es zu einer Art Wettbewerb unter den Präsidenten geworden ist, zur eigenen Amtszeit so viele Richter wie möglich zu ernennen. Tatsächlich gelang es Trump, gleich drei konservative Richter in den Supreme Court zu berufen - weshalb nun sechs der insgesamt neun Richter des Obersten Gerichtshofs dem republikanischen Lager angehören. Richter, deren Entscheidungen das Leben einer ganzen Generation von US-Bürgern beeinflussen wird - und die sich, anders als ihre Vorgänger, auch nicht scheuen, Gesetze anzugreifen. Und dass mit dem Wahlsystem der USA etwas nicht stimmen kann, zeigt schon die Tatsache, dass die USA in den letzten zwanzig Jahren insgesamt zwölf Jahre lang konservativ regiert wurden, obwohl nur einer der Kandidaten für eine Amtszeit eine Stimmenmehrheit für sich verbuchen konnte (nämlich George W. Bush im Jahre 2004). Das liegt daran, dass die Mehrheit nicht nach der Bevölkerungsanzahl, sondern nach den Bundesstaaten ausgezählt wird - und dass der Kongress in 30 von 50 Bundesstaaten aktuell von den Republikanern kontrolliert wird. Und aktuell wird darüber diskutiert, ob die Wahlentscheidung im Jahr 202 vom Kongress bestimmt werden darf - auch gegen den Willen der Bevölkerung. Abgesehen davon könnte auch die Tatsache, dass Joe Biden auf allen Ebenen blockiert wird, dazu führen, dass jene, die ihn 2020 gewählt haben, dazu beitragen, dass die Republikaner bei den nächsten Wahlen wieder mehr Stimmen erhalten. Mit anderen Worten: Die Vermutung, dass die USA in näherer Zukunft unter einer rechten Diktatur stehen könnten, ist gar nicht mehr so abwegig. Und das könnte durchaus auch für den Rest der Welt zu einem Problem werden - denn bei all den gravierenden Fehlern, die die Vereinigten Staaten seit ihrer Entstehung selbstverständlich gemacht haben, bildeten sie doch immer einen politischen Ausgleich zu anderen Weltmächten wie beispielsweise der Sowjetunion. Das bedeutet, dass ein Putin für die freie Welt eine weitaus größere Bedrohung werden könnte, als wir es uns aktuell überhaupt vorstellen können. Und dass der Sturm auf das Kapitol am 6. Jänner 2021 keine Ausschreitung irgendwelcher Verwirrten war, sondern ein gezielter Putschversuch von Trumps Seite, um dessen Machtverlust aktiv zu verhindern.

In diesem Lichte ist auch das Abtreibungsverbot zu betrachten: Der angebliche "Schutz des Lebens" ist lediglich ein Vorwand, um die bereits erreichten Ziele, welche die angestrebte Gleichstellung der Geschlechter realistischer machen, zu torpedieren. Denn Rechtskonservative und Evangelikale betrachten Feminismus als Bedrohung - Erstere fürchten dadurch einen Machtverlust, während Letztere jegliche gesellschaftliche Veränderung ablehnen und Frauenrechte daher schon traditionell als Gefahr für die soziale Ordnung begreifen. Dies zeigt, dass es gar nicht um moralische oder ethische Fragen geht, die man durchaus diskutieren könnte, sondern einzig und allein darum, Frauen zu kontrollieren und ihr Machtpotenzial einzuschränken - indem man sie einerseits dafür bestraft, dass sie Sex hatten, ohne Fortpflanzungsabsichten zu hegen und ihnen andererseits die Kontrolle über diese sukzessive entzieht. Nicht umsonst überschneiden sich militante Abtreibungsgegner oft mit jenen, die bei sexueller Aufklärung von Kindern sofort "Frühsexualisierung" kreischen. Denn eine Frau, die über ihren eigenen Körper nicht Bescheid weiß, ist leichter zu kontrollieren - das sehen wir auch in islamistisch-fundamentalistischen Gesellschaften. Diese Entscheidung verringern indirekt die Möglichkeiten von Frauen, politische und wirtschaftliche Macht zu erlangen - denn eine erzwungene Schwangerschaft bedeutet Existenzbedrohung und das Zerschlagen der Unabhängigkeit.

Nun muss ich zugeben, dass wir im Moment mit ziemlich viel zu kämpfen haben - die extreme Hitze in diesem Sommer setzt uns ebenso zu wie die Inflation; der Klimawandel wird immer bedrohlicher, auch wenn manche es nicht wahrhaben wollen und die Sinnhaftigkeit der Ideen der Klimaaktivisten momentan zu wünschen übrig lässt; und zu allem Überfluss haben wir eine zweijährige Gesundheitskrise hinter uns, die immer noch nicht ganz ausgestanden ist. Allerdings haben es Krisen so an sich, dass es ihnen egal ist, ob wir genug von ihnen haben oder nicht - trotzdem schreien auch hierzulande immer mehr Menschen nach einem starken Mann an der Spitze, obwohl wir im Grunde genau wissen, wozu das führen kann. Es tut mir leid, dass ich diesmal mit nichts Erfreulicherem aufwarten kann - ich hoffe, dass sich das in Zukunft noch ändert. Trotzdem wünsche ich euch eine schöne Zeit, passt gut auf euch auf und bleibt gesund! Bon voyage!

vousvoyez