Freitag, 12. Oktober 2018

Du spielst immer nur Blödmann und seine Gaxis!

(c) vousvoyez
Das Argument eines Kindes, das sich beim Spielen mit einem anderen Kind nicht einig ist. Ein paar Jahre später habe ich mit einem dieser beiden Kinder je ein Bilderbuch mit dem Titel Blödmann und seine Gaxis gezeichnet. Diese beiden Kinder sind inzwischen natürlich schon längst erwachsen. Ich habe sie erst neulich wieder gesehen.

Als Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene waren wir fast jedes Jahr miteinander auf Urlaub - und zwar fuhren wir in den ersten beiden August-Wochen immer an den Weißensee, wo wir im Laufe der Jahre auch jährlich andere Freunde trafen. Zu Beginn der Pubertät wurde der Soundtrack unserer Urlaube sehr von der Bravo-Hits-Compilation geprägt - in der Zeit vor YouTube und Spotify war man gezwungen, ganze CDs zu kaufen, wenn man ein Lied, das einem gerade gefiel, immer wieder hören wollte. Es sei denn, man machte sich die Mühe, sie vom Radio auf Kassette aufzunehmen - eine Praxis, die Ende der Neunziger jedoch allmählich aus der Mode kam. Einen Sommer lang waren die Bravo Hits 13 sehr angesagt, eine Sammlung von unvergesslichen Songs wie Coco Jambo, Sexy Eyes und Piep, piep, kleiner Satellit. In den Jahren danach stritt ich mit meinen Freunden allerdings häufig darüber, in welchem Sommer wir diese CD gehört haben. Ich war immer der festen Überzeugung, dass sie uns im August 1996 begleitete. Meine Freunde wiederum behaupteten, es sei bereits der Sommer 1995 gewesen - ihr Argument war, dass wir die CD angeblich mit einer Kinderbetreuerin gehört haben, die damals dort arbeitete. Ich habe mich kürzlich informiert - die Bravo Hits 13 kamen im Mai 1996 heraus. Was natürlich bedeutet, dass wir sie nie mit der erwähnten Kindergärtnerin hörten, da diese im Sommer 1996 gar nicht mehr am Weißensee arbeitete.

Diese kleine Geschichte ist ein amüsantes Beispiel für ein im Internet gehyptes Phänomen, mit dem ich mich in diesem Artikel beschäftigen will. Dieses Phänomen wird wissenschaftlich "Konfabulation" genannt, bekannt ist es aber unter dem Namen "Mandela-Effekt". Der Name geht auf den südafrikanischen Aktivisten und Politiker Nelson Mandela zurück. Als dieser im Jahr 2013 im Alter von 95 Jahren verstarb, herrschte Verwirrung; einige Jahre zuvor waren sich einige nämlich in einer Diskussion darüber einig gewesen, dass dieser bereits in den achtziger Jahren im Gefängnis verstorben sein soll - man wollte sich sogar detailliert an das damalige, im Fernsehen übertragene Begräbnis erinnern.

Jeder von uns kennt die Erfahrung, dass sich Erinnerungen nach Überprüfung der Fakten oft als falsch herausstellen. Der Mandela-Efffekt meint das falsche Erinnern einer ganzen Gruppe. Dies kann schon anhand kleiner Beispiele gezeigt werden: Das berühmte Star-Wars-Zitat "Luke, I'm your father" ist beispielsweise falsch, in Wirklichkeit heißt es "No, I'm your father", das beliebte gelbe Pokémon Pikachu hat keine schwarze Schwanzspitze, wie manche glauben, der Monopoly-Mann trägt kein Monokel und ein bekannter Song von Queen endet nur mit "we are the champions" ohne "of the world". Trotzdem bilden sich viele ein, dass es so ist. Unheimlich, oder?

Zu dem Mandela-Effekt gibt es natürlich zahlreiche Theorien; beliebt ist jene, nach der diese Erinnerungen aus einer Parallelwelt stammen, innerhalb derer sie tatsächlich wahr sind. Die Theorie der Parallelwelten ist zwar umstritten, aber keineswegs so unwissenschaftlich, wie sie klingt; sie entstammt der Quantenphysik und dient dazu, Paradoxien zu erklären, beispielsweise die Frage nach Schrödingers Katze. Dies bedeutet allerdings nicht, dass man die Parallelwelt-Theorie beliebig auf alle Lebensbereiche anwenden kann, zumal man sie weder beweisen noch widerlegen kann und sich selbst die Quantenphysiker über ihren Wahrheitsgehalt uneinig sind.

Viel schlüssiger ist es, zu akzeptieren, dass unsere Erinnerung keineswegs so zuverlässig ist, wie wir glauben. Sie setzt sich aus visuellen, auditiven und olfaktorischen Elementen zusammen, außerdem ist sie sehr mit Gefühlen verbunden. Zudem vermischt sie sich unbewusst auch sehr gern mit unserer Phantasie. So entsteht Erinnerung aus verschiedenen Assoziationen, die sich jedoch lösen oder falsch verknüpft werden können, so dass beim Abruf dieser Erinnerung Fehler passieren können.

Aber wie erklärt sich, dass mehrere Personen beim Erinnern denselben Fehler machen? Nun ja, es gibt auch Erklärungsversuche, die weitaus schlüssiger klingen als die einer Parallelwelt. So gibt es beispielsweise das Phänomen der sozialen Verstärkung von Überzeugungen - je mehr Leute etwas glauben, desto mehr andere sind bereit, dies ebenfalls zu glauben. So bin ich gar nicht so überzeugt davon, dass die angeblichen Erinnerungen an Mandelas Begräbnis tatsächlich völlig unabhängig voneinander passierten - interessant wäre es gewesen, dabei zu sein, um herauszufinden, auf welche Weise diese "Erinnerung" zustande kam. Denn es ist ein Unterschied, ob man fragt "Wie war das?" oder ob man fragt "War das so und so?" In meiner Eingangsgeschichte fiel zum Beispiel der Satz "Erinnert ihr euch denn nicht, wie wir damals mit der Kathi immer die Bravo Hits 13 gehört haben?" Das ist was anderes, als wenn man beispielsweise fragt: "Mit wem haben wir die Bravo Hits 13 immer gehört?" Auf einmal taucht das Bild von Kathi auf, die ihren Körper zu Coco Jambo bewegt - ein Bild, das ausschließlich in der Phantasie existiert.

So kann man beim Mandela-Effekt auf die Memetik verweisen, eine Theorie des Evolutionsbiologen Richard Dawkins. Sie geht davon aus, dass Erinnerungen ("Memes") weitergegeben und dabei verändert werden können; so können sich bei der Weitergabe auch Fehler einschleichen. Wir waren uns darüber einig, dass die Bravo Hits 13 die beste Compilation dieser Reihe waren, gleichzeitig empfanden wir die Kindergärtnerin aus dem Jahr 1995 als die beste, die in unserer frühpubertären Zeit in dem Hotel, in dem sie angestellt war, arbeitete. So wurden zwei angenehme Erinnerungen miteinander verknüpft, und alle außer mir waren davon überzeugt, dass beide Ereignisse zur selben Zeit stattfanden. Ebenso macht die Memetik schlüssig, dass Erinnerungen oft schöner sind als die tatsächlichen Ereignisse - in unserem Fall ist die Erinnerung an all die schönen Sachen, die wir im Sommer 1995 gemacht haben, stärker als die Erinnerung an das schlechte Wetter in diesem Jahr.

Fazit: Der Gedanke an den Mandela-Effekt ist faszinierend und auch etwas gruselig - Letzteres aber auch nur auf den ersten Blick. Es gibt auf dieser Welt viele Dinge, sie sich nicht so einfach erklären lassen, aber viele sind doch eher auf Irrtümer unseres Gehirns zurückzuführen. Die Idee, dass wir in Wirklichkeit von einer unbekannten Realität beherrscht werden, hat was für sich, da wir immer wieder nach etwas Neuem Ausschau halten, um dem Alltagstrott entfliehen zu können, sie wird auch durch technisch immer ausgereiftere Filme wie die Matrix-Trilogie immer wieder zur Diskussion gestellt und letztendlich auch durch den Überfluss an Informationen, dem wir heutzutage ausgesetzt sind, immer weiter verbreitet. Aber gewisse Dinge lassen sich doch eher einfach erklären. Der Refrain von We Are The Champions endet immer mit "of the world", bis auf die letzte Wiederholung, bei der die letzten drei Worte ausgelassen werden - deswegen ist es gar nicht so unlogisch, dass wir uns an etwas anderes erinnern wollen. Pikachu hat schwarze Ohrenspitzen, deswegen gaukelt unser Sinn für Symmetrie uns vor, dass auch die Schwanzspitze schwarz ist. "Luke, I'm your father" klingt schlüssiger als "No, I'm your father", da das Falschzitat im Gegensatz zum richtigen keines Kontextes bedarf - jeder, selbst wenn er den Film nie gesehen hat (so wie ich), weiß, wovon die Rede ist. Der Bekleidungsstil des Monopoly-Mannes im Stil des reichen Onkels aus Amerika legt ein Monokel nahe, auch wenn er keines trägt.

Ja ja, ich weiß, ich neige dazu, spannende Geheimnisse zu enttarnen und großartige Geschichten furchtbar langweilig und alltäglich zu machen. Aber hat die Realität oder das, was wir als Realität wahrnehmen, denn absolut nichts Interessantes und Faszinierendes? Ich finde schon. Egal wie viele Geheimnisse wir aufdecken, es gibt doch ohnehin immer wieder neue. Beispielsweise ist das menschliche Gehirn keineswegs vollständig erforscht, und dies wird wohl in absehbarer Zeit auch nicht geschehen. Und wisst ihr was? Ich denke nicht, dass wir jemals ALLES wissen werden und dass es irgendwann einmal eine Welt ohne Wunder und Geheimnisse geben wird. Und das ist doch wohl auch schon spannend, oder?

vousvoyez

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