Mittwoch, 7. November 2018

Kein Wunder, dass Mozart so früh gestorben ist, er hat seine eigene Musik nicht mehr ausgehalten

(c) vousvoyez
Mein Vater hatte kein herausragendes musikalisches Talent. Trotzdem nahm er in seiner Jugend Banjo-Unterricht. Das sagte er jedenfalls seinen Eltern. In Wirklichkeit nutzte er die Zeit, in der er angeblich Banjo spielte, um sich mit Mädchen zu treffen. Mit klassischer Musik konnte er nie viel anfangen. In seiner Jugend mochte er Joan Baez und die Beatles - und stritt sich wie viele Jungs damals mit seinem Vater wegen seiner Haarlänge. Das kann man sich heute kaum mehr vorstellen.

Inzwischen sind mehr als fünfzig Jahre vergangen, und Mozart und die Beatles sind längst Geschichte. Ich habe das alles nicht erlebt, aber auch ich habe in inzwischen fast 35 Jahren so einiges mitbekommen, was in der Welt passierte. Ich habe sieben Regierungen in Österreich miterlebt, drei Päpste und sechs US-Präsidenten. Ich war auf der Welt, als das Reaktorunglück in Tschernobyl passierte und die Berliner Mauer fiel, ich erinnere mich an den EU-Beitritt Österreichs, die Jahrtausendwende und den 11. September 2001. Aber manches habe ich nicht mehr in Erinnerung.

Ich muss zugeben, ich habe kein so großes Interesse mehr fürs Fernsehen oder für Serien. Ich werde immer Bücher lesen, aber ansonsten, das muss ich zugeben, nutze ich die neuen Medien aktuell mehr als die alten. Der Streaming-Dienst Netflix ist mir wurscht, aber letztens bin ich auf eine Reihe vonYouTube-Videos gestoßen, in der von einer Netflix-Serie gesprochen wurde, die die Geschichte eines der bekanntesten Attentäter Amerikas erzählt.

Ein bekannter Attentäter stammt ja auch aus meiner Heimat. Franz Fuchs, von den Medien "das Bombenhirn" genannt, verübte in den neunziger Jahren zahlreiche Brief- und Rohrbombenattentate gegen Migranten sowie Personen und Organisationen, die sich für die Belange von Menschen mit Migrationshintergrund engagierten. Vier Menschen starben dabei, die letzte Rohrbombe fetzte dem Attentäter selbst die Hände weg. Im Jahr 2000, drei Jahre nach seiner Inhaftierung, erhängte er sich in seiner Zelle mit dem Kabel seines Rasierapparates.

Fuchs' Attentate waren eindeutig rassistisch motiviert. Der Unabomber Ted Kascynski, der siebzehn Jahre lang Briefbomben verschickte, war zwar anti-links eingestellt, seine Motive waren jedoch gänzlich andere.

Theodore Kascynski wurde 1942 als Kind polnischer Einwanderer in Chicago geboren und wuchs in einfachen Verhältnissen auf. Im Alter von neun Monaten wurde er auf Grund eines allergischen Schocks ins Krankenhaus eingeliefert und dort mehrere Tage von seinen Eltern isoliert, was sein anfänglich umgängliches Wesen nach Aussage seiner Mutter komplett verändert hätte. Ich weiß nicht, inwiefern das stimmt, aber damals war der Umgang mit Kindern ohnehin erschreckend lieblos, ja geradezu widernatürlich; in den Erziehungsratgebern von Johanna Haarer wird beispielsweise empfohlen, das Baby unmittelbar nach der Geburt erst einmal 24 Stunden in einem separaten Zimmer allein zu lassen, und allgemein habe ich auch von Personen aus dieser Generation gehört, die im Krankenhaus von den Eltern nicht besucht werden durften. Ob dies aber der Grundstein für Kascynskis Mangel an sozialer Kompetenz ist, kann ich nicht beurteilen.

Schon als Kind soll Kascynski über herausragende intellektuelle Fähigkeiten verfügt haben, ein Test bescheinigte ihm einen IQ von 165 bis 167, er übersprang zwei Klassen und erhielt mit sechzehn Jahren ein Stipendium für die Harvard-Universität. Dort begann er ein Mathematik-Studium, das er an der University of Michigan abschloss. In den Videos, von denen ich ausgehe, wird Kascynskis hohe Intelligenz angezweifelt. Dazu muss aber gesagt werden, dass IQ-Tests gewisse Teilaspekte der Intelligenz, beispielsweise die emotionale, ausklammert. Nicht umsonst sind uns so viele einzelgängerische, absonderliche Genies bekannt. Man darf auch nicht vergessen, dass hochbegabte Kinder, die noch dazu Klassen überspringen, oft zum Außenseitertum verdammt sind - sie sind ihren Altersgenossen intellektuell über- und ihren älteren Klassenkameraden körperlich unterlegen. Dies macht sich besonders am Beginn der Pubertät bemerkbar. Ich weiß aus meinem unmittelbaren Umfeld, wie riesig in dieser Zeit selbst der Altersunterschied von einem einzigen Jahr schon sein kann.

Ein weiteres einschneidendes Erlebnis von Kascynskis Jugend war wohl seine Teilnahme an dem CIA-Projekt MKUltra, das von den fünfziger bis in die siebziger Jahre hinein lief. Dieses Projekt ist allgemein bekannt; es diente der Erforschung der Bewusstseinskontrolle und der Entwicklung eines Wahrheitsserums im Verhör von Spionen der Sowjetunion. Bei diesem Programm wurden vorwiegend ahnungslosen Probanten psychedelische Drogen sowie Gifte, Chemikalien, Gas, Krankheitserreger und Elektroschocks verabreicht, man testete die Wirkung von Hypnose, Psychotherapie, künstlicher Gehirnerschütterung und Operationen. Viele der Versuchspersonen trugen schwere körperliche und psychische Schäden davon, manche wurden zu Forschungszwecken entführt, es gab sogar Todesfälle. Der Schriftsteller Ken Kesey verarbeitete seine Erfahrungen als Testperson später in seinem Roman Einer flog über das Kuckucksnest. Vielleicht mache ich mich zu dem Thema auch einmal schlau. Wir werden sehen.

Nach Abschluss seines Studiums nahm Kascynski eine Forschungsstelle an der Michigan University an, ehe er als Assistenzprofessor an der University of California in Berkeley arbeitete. Überraschend kündigte er diese Stelle bereits nach zwei Jahren und zog zunächst zurück zu seinen Eltern nach Lombard, einem Vorort von Chicago. Er arbeitete zusammen mit seinem Bruder David in einer Fabrik, wurde jedoch von diesem entlassen, nachdem er dort sarkastische Gedichte über eine Kollegin aufgehängt hatte, die seine Liebe nicht erwiderte. Hier zeigt sich bereits sein Mangel an sozialer Kompetenz; sein Hass auf die Gesellschaft nahm wohl Gestalt an.

Ab 1970 wohnte er in einer kleinen, selbst gebauten Hütte in Montana, die weder über Elektrizität noch fließend Wasser verfügte. Hier fasste er den Entschluss, sich an der Gesellschaft zu rächen. Am 25. Mai 1978 explodierte eine Briefbombe auf dem Parkplatz der Northwestern University in Evanston, Illinois, bei der ein Polizist verletzt wurde. Diesem ersten Attentat folgten bis 1995 insgesamt 16 Anschläge, deren Opfer zunächst bevorzugt Universitätsprofessoren und Vorstandsmitglieder von Fluggesellschaften waren, was Kascyinski den Spitznamen "Unabomber" (university and airline bomber) einbrachte. Die Attentate forderten insgesamt 23 Verletzte und drei Tote.

Im Juni 1995 schickte Kascynski anonym ein Manifest mit dem Titel Die Industriegesellschaft und ihre Zukunft an die New York Times und die Washington Post und stellte das Ende der Bombenattentate in Aussicht, sollte dieses veröffentlicht wurden. Dies geschah auch. Das Manifest ist im Wesentlichen eine Absage an die Industriegesellschaft, die Kascynskis Meinung nach die Menschen ihrer individuellen Freiheit beraubt. Er sieht seine Bombenanschläge als Beginn einer Revolution, die die Deindustrialisierung zur Folge haben und den Menschen zur Autonomie zurückführen soll - eine Autonomie, die allerdings nie im Interesse der Menschheit war. Wir Menschen haben das Überleben unserer Art gesichert, indem wir Kollektive gebildet haben; das gilt auch für Kascynskis großes Vorbild, dem indianischen Jäger. Der Autor des Manifests scheint große Probleme damit zu haben, dass unsere Gesellschaft gewisse Regeln verlangt; natürlich krankt es in unserer Gesellschaft an so manchem, aber völlig ohne Regeln kann niemand leben. Ich kann nicht einfach so meinen Nachbarn erschlagen, nur weil er zu laut Musik spielt. Und ich kann nicht erwarten, dass sich jemand nicht wehrt, wenn er angegriffen wird. Beim Betrachten der Videos, die mich zu diesem Artikel inspiriert haben, ist mir eine Geschichte eingefallen, die mir mein ältester Bruder einmal erzählt hat: Als Erstklässler hat er einmal nur so zum Spaß einen schwächeren Mitschüler schikaniert, woraufhin er es dann jedoch mit dessen großem Bruder zu tun bekam. So hat er gelernt, dass man immer mit Gegenwehr rechnen muss. Wenn das ein Sechsjähriger begreift, ist es in der Tat schwer vorstellbar, dass ein Erwachsener dazu nicht in der Lage sein soll. Die Freiheit des Einzelnen hört da auf, wo die Freiheit des anderen beginnt - das ist eine alte Weisheit, die nicht nur für die jeweilige Woche gilt, sondern für die gesamte Menschheit, und das zu jeder Zeit. Kascynski jedoch will die ultimative Freiheit, wenn nötig auch auf Kosten aller anderen, und die Welt muss ausschließlich nach seinen Regeln leben. In den erwähnten Videos ging es darum, dass das Unabomber-Manifest wohl deswegen so bereitwillig publiziert wurde, weil es nicht so umstürzlerisch ist, wie man annehmen mag - was darin gefordert wird, ist nicht das, was die meisten Menschen wollen, und den wenigen, die es wollen, steht es frei, es zu tun, und sie tun es meist auch. Abgesehen davon - und das halte ich persönlich für mindestens ebenso wichtig - geht aus dem Text auch nicht hervor, wie es nach erfolgreicher Beendigung der Revolution weitergehen soll.

Doch die Veröffentlichung des Manifests hatte noch einen weiteren Nutzen: Man hoffte, die Identität des Unabombers an Hand seines Schreibstils ermitteln zu können. Tatsächlich erkannte die Frau von Ted Kascynskis Bruder David dessen Stil, er wurde am 3. April 1996 festgenommen. Auf Initiative seiner Familie hin wurde ihm paranoide Schizophrenie attestiert. Da Kascynski jedoch seine Taten nicht als die eines Gestörten verstanden haben wollte, bekannte er sich letztlich schuldig und wurde zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, die er in einem Hochsicherheitsgefängnis in Florence, Colorado verbüßt.

Warum ich darüber schreibe? Nun ja - spektakuläre Verbrechen haben immer eine gewisse Faszination auf den einen oder anderen Menschen ausgeübt. Nicht umsonst hat Charles Manson noch in Haft haufenweise Fanpost bekommen. Schlimmstenfalls endet es mit einem Blutbad wie bei Anders Breivik, der ja auch ein großer Bewunderer des Unabombers war. Fest steht: Kascynski war nicht der geniale Rebell, den manche in ihm sehen wollen. Er war viel mehr ein labiler Mensch, der wohl durch ungünstige Umstände in seinen prägenden Lebensjahren einen Hass gegen die Gesellschaft hegte, doch seine Attentate folgten keiner wirklichen Logik - man kann wohl eher annehmen, dass die Gewalt, die er ausübte, nur dem Selbstzweck diente und nicht wirklich einem "höheren Wohl" diente.

Deswegen - überlegt euch genau, wen ihr bewundert.

vousvoyez


Hier die Videos:

https://www.youtube.com/watch?v=u135NM3XyLo
https://www.youtube.com/watch?v=kRSDxyHsbPQ
https://www.youtube.com/watch?v=JvdQbmNOt1w

Falls es wen interessiert, hier kann man auch das Manifest nachlesen - macht euch selbst ein Bild:

https://www.dropbox.com/s/4wg9yxtp7ofb83c/die-industriegesellschaft-und-ihre-zukunft.pdf?dl=0