Samstag, 29. Juni 2019

Die Eiserne Jungfrau ist deswegen so rostig, weil sie so selten benutzt wird

Nun ja, mittelalterliche Folter und Hinrichtung ist in unserer Gesellschaft halt nicht mehr gern gesehen - zum Glück, kann man dazu natürlich sagen. Trotzdem ist die Faszination der eisernen Jungfrau bis heute ungebrochen. Vor fast zwei Jahren war ich das letzte Mal in der Südoststeiermark - dort gibt es eine fast 900 Jahre alte Burg, die Riegersburg, in deren mittlerweile modernisiertem "Hexenmuseum", das die Hexenprozesse der frühen Neuzeit behandelt, auch das Prachtexemplar einer solchen Eisernen Jungfrau ausgestellt wurde - ein eiserner Hohlkörper in Frauengestalt, dessen Innenraum mit spitzen Nägeln beschlagen ist. Doch ob eiserne Jungfrauen tatsächlich für Folterungen und Hinrichtungen eingesetzt wurden, weiß man bis heute nicht - schriftliche Belege hierfür gibt es nicht, auch wenn zahlreiche Folterprotokolle überliefert wurden (was logisch ist, denn die Folter wurde und wird ja bekanntlich zur Beweisgewinnung durchgeführt). Einem Bericht zufolge war etwa die Eiserne Jungfrau von Nürnberg ursprünglich ein sogenannter "Schandmantel", ein hölzerner oder metallener Hohlkörper, dessen Träger beschimpft, geohrfeigt und mit Unrat beworfen werden durfte. Im 19. Jahrhundert wurde das Innere des Schandmantels mit Bajonettspitzen aus den Befreiungskriegen ausgestattet und das Exponat anschließend im Museum ausgestellt, um die Sensationslust des Publikums zu stillen. Und offensichtlich war sie da nicht die einzige. Eines steht jedoch fest: Die Eiserne Jungfrau ist in meiner Wahrnehmung geschrumpft - wohl auch, weil ich inzwischen größer geworden bin. Und die Aufdeckung des Mythos behalten wir bitte schön für uns - immerhin ist die Eiserne Jungfrau das Schmuckstück des Hexenmuseums. Auch wenn sie allmählich immer rostiger wird - eben weil sie so selten benutzt wird.

Wie gesagt, mittelalterliche Folter ist zumindest in unseren Breiten heute obsolet geworden - was aber nicht bedeutet, dass es bei uns überhaupt keine Folter mehr gibt. In meinen Augen sind auch Vornamen mitunter Folter - auch wenn das Empfinden von Namen als schön oder hässlich natürlich subjektiv und das Vergeben derselben heutzutage mitunter nicht mehr ganz so einfach ist. Denn einfache, normale Namen, die auch allgemein als "schön" empfunden werden, wie etwa Alexander, Maximilian, Anna oder Lena, sind bereits tausendfach vergeben. Manche können sich wohl nicht zwischen den Lieblingsnamen entscheiden oder wollen dem Namen des Sprösslings eine individuellere Note geben und greifen daher zu Doppelnamen. Ob man jedoch der kleinen Ann-Sophie oder dem kleinen Jan-Lucas damit einen Gefallen tut, ist natürlich fraglich - leben wir doch in einem Land der Bürokratie, in der Bindestrich-Doppelnamen immer ausgeschrieben werden müssen, egal ob der Träger des Namens damit glücklich ist oder nicht. Schwierig wird es dann, wenn die Vorliebe für Bindestrich-Namen die Verfechter(innen) von Kevinismus und Chantalismus befällt - für manche gehört beides zusammen, weshalb der Start ins Leben für Jeremy-Pascal und Marie-Chantal wohl noch ein wenig komplizierter ist.

Ach ja, der Kevinismus - ein Phänomen unserer Zeit, das häufig mit bildungsfernen Bevölkerungsschichten in Verbindung gebracht wird, sind doch kevinistische bzw. chantalistische Vornamen in Reality-Soap-Formaten à la RTL besonders beliebt. In Wirklichkeit kommen sie jedoch in allen Gesellschaftsschichten vor - und es ist auch keineswegs ein neues Phänomen. Früher war die Vergabe exotischer (meist französischer) Vornamen eher in "besser gestellten" Familien Usus - die konnten sie aber zumeist auch aussprechen. Blöd nur, wenn das die weniger gebildeten Mitmenschen nicht konnten. Nach der Hochzeit des Schahs von Persien mit der deutsch-persischen Soraya Esfandiary Bakhtiary, die nach der Scheidung dieser Ehe als Filmschauspielerin Karriere machte, war auch der Vorname Soraya im deutschsprachigen Raum sehr beliebt. Zu Beginn der 1990er Jahre tauchte dann der Vorname Kevin gehäuft auf - in Österreich wird die Beliebtheit dieses Namens eher ländlichen Regionen zugeschrieben, in Deutschland den neuen Bundesländern, allgemein aber eher den "bildungsfernen Schichten". Aussagekräftige Statistiken gibt es hierzu jedoch nicht. Die Vermutung liegt nahe, dass die Beliebtheit dieses Namens durch die Filme Kevin - Allein zu Haus und Kevin - Allein in New York mit Kinderstar Macaulay Culkin in der Hauptrolle ausgelöst wurde. Oder auch durch den Schauspieler Kevin Costner. Jedenfalls stieg von da an die Tendenz, Kinder nach amerikanischen Schauspielern und Popstars zu benennen. Mittlerweile schließen jedoch die ersten Kevins, Justins, Jessicas und Phoebes die Universität ab, was die Behauptung, alle Träger dieser Namen seien dumm, natürlich widerlegt.

Eine parallel damit einhergehende Mode sind auch französische Vornamen - wobei Namen wie Pascal, Marcel, Nicole oder Nathalie zumindest noch in den deutschsprachigen Raum integriert werden können, da die Aussprache nicht schwierig ist. Happiger wird es allerdings, wenn Eltern Namen vergeben, die sie selbst nicht aussprechen können - Pech für Schakkeline oder Tschaklin (Jacqueline), Frankoise (Françoise), Mauris (Maurice), Pirschelbär (Pierre-Gilbert) oder Üffes (Yves). Parallel dazu bestehen viele Eltern mit vorwiegend deutschen bzw. österreichischen, bestimmt aber nicht englischen Wurzeln darauf, dass die eigentlich hebräischen oder griechischen Vornamen ihrer Kinder englisch ausgesprochen werden müssen. So wird aus Jason "Tschäsn", aus David "Däwid", aus Simon "Saimen" und aus Jonathan "Tschonäsän". Und hinterher dann oft noch ein deutsch-österreichisches Meier oder Müller. Letztens habe ich mit Schrecken mitbekommen, dass ein junger Erwachsener den Namen des Sohnes des biblischen Propheten Abraham, der beinahe Gott geopfert worden wäre, als "Eisäck" aussprach.

Neben Kevinismus und Chantalismus ist mittlerweile allerdings auch der sogenannte "Emilismus" oder Retronomizismus auf dem Vormarsch - die Neigung mancher Eltern, allerdings aus eher gebildeterem Milieu, den Kindern in der Absicht der Individualisierung altmodisch klingende Vornamen oftmals germanischen Ursprungs zu geben, die häufig aus literarischen Vorlagen oder von den Großeltern stammen. So sind Emil, Lorenz, Luise und Josefine schon seit längerem wieder im Kommen. Was möglicherweise viele auch nicht wissen: Die beliebten Kindernamen Ronja und Maja sind ebenfalls von Schriftstellern erfunden - der eine von Astrid Lindgren (Ronja Räubertochter), der andere von Waldemar Bonsels (Biene Maja). Die Neigung, den eigenen Kindern diese Namen zu geben, kommt aber wohl von eher von den Adaptionen fürs Fernsehen. Auch erwähnenswert ist die in den 1970er Jahren aufgekommene Neigung, die eigenen Kinder "nach Ikea-Regalen" (Zitat Uncyclopedia) zu benennen und sie bei nordeuropäische Namen zu nennen, ein Phänomen, das in Deutschland allerdings verbreiteter ist als in Österreich - besonders in nördlichen Regionen sind die Svens, Oles, Sörens, Freyas, Friggas und Saskias sehr häufig anzutreffen. Zurzeit auch sehr in Mode ist es, bei als normal empfundenen Namen einzelne Buchstaben wegzulassen; so entstehen etwa Namen wie Mia (Maria) oder Anja (Tanja).

So, und jetzt will ich einmal was klarstellen: Kein Träger all dieser Namen soll sich deswegen persönlich angesprochen fühlen. Natürlich konnte ich mir einen gewissen Sarkasmus nicht verkneifen, auch wenn ich versucht habe, möglichst wertfrei zu bleiben. Aber eines sollte wohl klar sein - Vorurteile entstehen in den Köpfen anderer und nicht durch die Schuld ihrer Opfer. Und wie schon angedeutet, sagt der (ohnehin von den Eltern gegebene) Vorname nichts über die Intelligenz oder den menschlichen Wert seines Trägers aus. Im übrigen gibt es unter den oben angeführten Namen auch welche, die mir durchaus gefallen - auch wenn ich sie in unseren Breiten nicht immer für angebracht halte. Und man darf auch nicht vergessen, dass es im deutschsprachigen Raum auch Personen mit Wurzeln aus dem Ausland gibt - diese tragen dann oft halt auch andere Vornamen. Die Behauptung, der Name "Mohammed" sei in Deutschland zurzeit der am häufigsten vorkommende bei Babys, kann ich allerdings entkräften - wer mir nicht glaubt, kann ausnahmsweise Dr. Google zu Rate ziehen und isch erkundigen, welche Namen in Deutschland und Österreich derzeit am beliebtesten sind. Darüber hinaus werde ich auch selten müde, darauf hinzuweisen, dass Sprache einem stetigen Wandel unterworfen ist - allein unser Dialekt geht auf italienische, slawische, ungarische und auch jiddische Einflüsse zurück.

Abgesehen davon, dass die oben angeführten Beispiele nichts, aber auch gar nichts sind gegen den Wahn vieler Prominenter, bei der Vergabe der Namen ihrer Kinder möglichst "kreativ" zu sein. Und um ehrlich zu sein, fehlt mir da - im Gegensatz zu vielen Ausrutschern der "Normalos" jegliches Verständnis. Denn welcher Mensch, der noch alle Tassen im Schrank hat, kommt ernsthaft auf die Idee, seine Kinder nach Obst (Apple, Peaches), Jeansmarken (Denim, Diezel), Tieren (Bunny, Bear), Orten (Brooklyn, Paris, Egypt), Schulfächern (Science), Berufen (Pilot, Inspector) oder Gegenständen (Satchel) zu benennen? David Bowie war zumindest human genug, daran zu denken, dass sein Sohn Zowie eines Tages erwachsen sein wird, und gab ihm zusätzlich den Namen Duncan.

Im Lichte dessen bin ich offen gestanden recht froh, dass mein eigener Name zumindest noch als "normal" eingestuft wird - weder besonders exotisch noch wirklich häufig. Das ist doch auch was!

vousvoyez

Freitag, 21. Juni 2019

Ich bin traurig, weil ich nicht mehr mit der Burka in die Sauna gehen kann

(c) vousvoyez
Ja, die Unmöglichkeit, mit Burka in die Sauna zu gehen, ist tatsächlich ein sehr gravierendes Problem, das unbedingt angesprochen gehört. Wie ihr wahrscheinlich schon festgestellt habt, kommt diese Weisheit aus derselben Zeit wie die vorangegangene - damals wurde zusätzlich zum allgemeinen Verhüllungsverbot ja auch über Burkini-Verbot in Schwimmbädern diskutiert, das inzwischen aufgehoben werden soll. Denn wenn man nicht alles verbietet, dann werden wir in Bälde vom Islam überrollt werden, und dann müssen wir Frauen in Zukunft alle Burkas tragen und dürfen das Haus nicht mehr verlassen - so zumindest die Logik der Rechtspopulisten, die gleichzeitig gar nicht so begeistert davon sind, dass Frauen heutzutage so selbstständig und selbstbewusst sind. Diese Argumentation erinnert an die Sprüche, mit denen wir alle aufgewachsen sind und die ich insgeheim als "Kindheitsmythen" bezeichne.

Ein klassischer "Kindheitsmythos" ist die Geschichte von Weihnachtsmann und Osterhase - wobei bei uns in Österreich ja nicht der Weihnachtsmann, sondern das Christkind kommt. Das darf man ja nicht unerwähnt lassen! Hier ist die Konsequenz ganz einfach: Wenn du nicht brav bist, bringt der Osterhase bzw. das Christkind/der Weihnachtsmann keine Geschenke. Bei uns zu Hause wurde immer ein bis zwei Tage vor dem 24. Dezember das Wohnzimmer zugesperrt, und man erzählte mir, das Christkind sei dabei, alles für die Bescherung vorzubereiten. Ich dürfe bis zum großen Moment nicht durchs Schlüsselloch schauen, weil das Christkind sonst alle Geschenke und den Baum wieder mitnimmt. In Deutschland und Österreich kommt Anfang Dezember auch noch zusätzlich der Nikolaus, der im Ostalpenraum vom Krampus begleitet wird. Auch diese Kausalität ist schnell erzählt: Wenn du brav bist, bekommst du Geschenke vom Nikolaus; wenn du schlimm bist, nimmt dich der Krampus mit. Wohin er die vielen schlimmen Kinder bringt, war allerdings nie ganz klar - manche behaupteten, in die Hölle, da der Krampus vom Aussehen her oft wie der Satan dargestellt wird. Ich habe als kleines Kind tatsächlich geglaubt, der Krampus sei gleichzeitig der Teufel. Als ich klein war, kam schwarze Pädagogik allerdings langsam aus der Mode, und die Strafe fürs Schlimmsein beschränkte sich darauf, dass der Nikolaus bei seinem jährlichen Besuch aus einem großen Buch sowohl die guten Taten als auch die Verfehlungen eines Kindes vorlas. Was ich persönlich schon peinlich genug fand - aber immer noch besser, als wenn der Krampus mitgekommen wäre. Was den betraf, so beschränkte sich meine Mutter auf Drohungen - indem sie mir erklärte, wenn ich nicht brav sei, käme nicht nur der Nikolaus, sondern auch der Krampus. Passiert ist das allerdings nie - außer in der Pfadfindergruppe, aber da war ich schon fast acht und wusste, dass die beiden Krampusse in Wirklichkeit verkleidete Pfadfinderführer waren. Außerdem gibt es ja auch noch die Zahnmaus, in manchen Familien auch die Zahnfee - da geht es aber nur darum, dass man seine ausgefallenen Milchzähne gegen kleine Geschenke eintauscht.

Und es gibt Mythen, die auf bestimmte Situationen bezogen sind - manche verschwinden mit der Zeit, andere entwickeln sich neu. Wie der Krampus, so sind auch andere Gestalten, die früher durch Kinderphantasien geisterten, Produkte der schwarzen Pädagogik. Vielleicht schreibe ich zu dieser noch mal etwas - wir werden sehen. Wir kennen ja alle das alte Kinderlied vom Bi-Ba-Butzemann aus der Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn, die im frühen 19. Jahrhundert von Achim von Arnim und Clemens Brentano herausgegeben wurde. In diesem Lied wird er allerdings als harmlose Figur dargestellt, die den Kindern Äpfel bringt - ursprünglich aber war der Butzemann ein böser Dämon, mit dem Kindern gedroht wurde, die nicht brav sein wollten, ähnlich wie der "schwarze Mann", der nicht, wie heute behauptet, dazu gedacht war, um Kindern vor Afrikanern Angst zu machen; den schwarzen Mann gab es schon im Mittelalter, als die meisten Menschen in Europa noch gar nicht wussten, dass es auch dunkelhäutige Menschen gibt. Mir war er nur von dem beliebten Kinderlied "Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann?", in manchen Regionen auch "Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?", bekannt; ich habe mir da auch nie einen Afrikaner vorgestellt. Auch der Sandmann war ursprünglich nicht das niedliche Sandmännchen aus der deutschen Kindersendung; in E. T. A. Hoffmanns Novelle Der Sandmann wird erzählt, dass er den Kindern Sand in die Augen streut, bis diese herausspringen, dann packt er sie in seinen Sack und fliegt damit zur Mondsichel, wo sich sein Nest befindet, und verfüttert sie an seine Kinder, die in der Erzählung scharfe, krumme Schnäbel haben. Die gruselige Sandmann-Geschichte ist in der Novelle der schauerliche Gegensatz zu der netten Kindergeschichte vom Sandmann, der den Kindern Sand in die Augen streut, damit sie einschlafen, und dessen Rückstände man sich morgens aus den Augen reibt. Die ältere Version des bösen Sandmannes wurde übrigens im frühen 19. Jahrhundert durch Hans-Christian Andersen abgemildert. In Österreich gab es außerdem noch das Pechmandl, das den Kindern mit ein wenig Zirbenpech die Augen verschließt.

Außerdem gibt es noch zahlreiche "Wenn-Dann"-Geschichten, die man uns Kindern aufgetischt hat und von denen manche die Generationen überdauert haben. Andere sind inzwischen nur noch Erinnerung - meine Mutter hat mir beispielsweise erzählt, dass man sie als Kind davor gewarnt hat, Kirschkerne zu essen, da diese im Blinddarm stecken blieben und dieser dann herausoperiert werden müssten. Der Kabarettist Lukas Resitarits erzählte einmal, er habe sich den Blinddarm immer als eine Art Sack vorgestellt, in dem sich die Kirschkerne dann sammeln würden, bis der Arzt ihn herausholte und ausleerte - dieser Mythos war also ziemlich weit verbreitet und kam auch in der Verfilmung des Erich-Kästner-Kinderromans Pünktchen und Anton von 1953 vor. Eine weitere Drohung war: "Wenn du schielst, bleiben die Augen stecken!" Ich glaubte als Kind tatsächlich, dass Kinder, die eine Fehlstellung der Augen aufwiesen, zu viel geschielt hätten, weshalb ihre Augen steckengeblieben sind. Vielleicht ist das auch ein Grund, warum ich heute nicht schielen kann - manche sind ja Meister im Augenverdrehen. Auch die Behauptung, vom vielen Fernsehen bekomme man viereckige Augen, habe ich geglaubt, obwohl ich nie jemanden gesehen habe, dem das passiert ist - außer, man zählt diejenigen mit, die heute Brillenträger sind, aber bekanntlich gibt es ja auch runde Brillenfassungen, und ich habe mir das auch nicht so vorgestellt. Außerdem wurde uns immer erzählt, dass man "Magenverpickung" (österreichisch für einen verklebten Magen) bekommt, wenn man den Kaugummi schluckt, was ich als Kind mit größter Freude getan habe. Was im Falle so einer "Magenverpickung" passiert, habe ich allerdings nie erfahren - ich habe mir lediglich eine Art Hohlraum im Bauch vorgestellt, dessen Wände mit Kaugummi vollgeklebt sind, ähnlich wie die Unterseite von Schulbänken.

Der Fortschritt der Zeit warf also auch schon im späten 20. Jahrhundert einige bisher nie dagewesene Probleme auf - beispielsweise sind die kulinarischen Vorlieben von Kindern nicht immer gesund. In meiner Kindheit war Coca-Cola ein sehr beliebtes Getränk, das die meisten von uns jedoch nur zu besonderen Anlässen trinken durften. Ich durfte Abends eine Zeit lang kein Cola trinken, weil meine Mutter Angst hatte, dass ich dann nicht schlafen konnte - andere erzählten mir jedoch, dass man ihnen sagte, sie bekämen schwarze Füße oder Läuse im Bauch, wenn sie zu viel Cola tränken. Ich glaube, zumindest die schwarzen Füße hätten mir Eindruck gemacht.

Kinder haben bisweilen auch ein paar unappetitliche Vorlieben - manche betreiben diese bis ins Erwachsenenalter hinein. So bohren viele von ihnen gerne in der Nase. Ich wurde ja lediglich darauf hingewiesen, ich solle das nur tun, wenn ich unbeobachtet wäre - beispielsweise auf der Toilette. Andere erzählten mir jedoch, man habe ihnen gesagt, beim Nasenbohren breche der Finger ab - bei uns hieß es nur "Wenn du im Hirn bist, schick mir eine Ansichtskarte!" Für den österreichischen Kabarettisten Josef Hader die Inspiration für einen fiktiven Ausflug ins eigene Hirn. Manchen erzählte man allerdings auch, sie zögen durch das Popeln das eigene Hirn mit raus.

Nicht jedes Kind mag Obst und Gemüse - bei mir war zumindest Gemüse nie ein Problem. Im Herbst war die Zeit, als die Äpfel reif wurden, die man dank des globalen Handels mittlerweile das ganze Jahr über bekommt; im Sommer waren Wassermelonen aus den südeuropäischen Regionen außerdem eine beliebte Erfrischungsquelle, besonders wenn man in Griechenland oder Spanien Urlaub machte. Heute werden diese Melonen ja größtenteils ohne Kerne gezüchtet - was ich persönlich ein bisschen schade finde. Bei Wassermelonen gibt es drei Fraktionen - die, die vorher die Kerne mit dem Messer rausholen; die, die die Kerne ausspucken; und die, die die Kerne mitessen. Letztere Gruppe ist eher selten, ich gehörte aber schon von klein auf dazu. Auch vom Apfel aß ich die Kerne gern - das mache ich auch heute noch. In meiner Familie war das auch nie ein Problem, aber von anderen erfuhr ich, dass man ihnen erzählte, wenn sie die Kerne von Äpfeln oder Melonen äßen, wüchse ihnen im Bauch ein Apfel- bzw. Melonenbaum. Wobei Melonen Kürbisgewächse sind und eigentlich gar nicht auf Bäumen wachsen - also wieder Fake-News! Außerdem wurden wir davor gewarnt, nach dem Genuss von Kirschen und Äpfeln Wasser zu trinken, weil man dann Bauchschmerzen bekäme - ich habe es immer getan und mir ist das nie passiert. Aber ich muss dazu sagen, dass ich immer schon einen relativ guten Magen hatte.

Ein Kinderbuch, das nachhaltigen Einfluss auf ganze Generationen von Kindern hatte, war Carlo Collodis Pinocchio aus dem späten 19. Jahrhundert, auch wenn die vielen unterschiedlichen Verfilmungen heutzutage wohl bekannter sind als das Original - die Geschichte der Holzpuppe, die lernen soll, sich den Erwachsenen gefällig zu verhalten, um am Ende ein richtiger Junge zu werden. Das wohl markanteste Motiv in diesem Buch ist, dass Pinocchios Nase immer länger wird, wenn er lügt - was viele Eltern dazu veranlasst hat, ihren Sprösslingen zu erklären, dass sie vom Lügen eine lange Nase bekämen. Mein Partner hat das mit seinem Sohn auch so gemacht. Noch heute wird "Pinocchio" gerne als Synonym für einen leicht durchschaubaren Lügner verwendet - namentlich für Politiker.
Außerdem achteten wir peinlich genau darauf, nicht unmittelbar nach dem Essen schwimmen zu gehen, weil uns die Erwachsenen davor warnten, dass wir dann zu schwer wären und das Risiko, zu ertrinken, erhöht sei. Bis heute warnen Kinderärzte davor, kürzer als eine halbe Stunde nach dem Essen mit dem Schwimmen zu warten, da es dadurch zu Kreislaufproblemen kommen könnte. Wissenschaftlich belegt ist diese Behauptung jedoch nicht. Trotzdem muss ich zugeben, dass ich sie bis heute ernst nehme - man kann ja nie wissen (hihi). Übrigens war Schwimmen schon als Kind mein Lieblingssport, und ich blieb meist im Wasser, bis meine Eltern mir sagten, wenn ich nicht rauskäme, würden mir irgendwann Schwimmhäute zwischen den Fingern wachsen.

Wie schon öfter angemerkt, hatte ich als Kind mit dem Essen von Gemüse kein Problem - beispielsweise habe ich immer fleißig Karotten gegessen. Immerhin sei das ja gut für die Augen, wie es hieß. Trotzdem bin ich heute Brillenträgerin. So kann's gehen! Ein Klassiker der Kindheitsmythen ist außerdem die Warnung "Wenn du deinen Teller nicht leer isst, kommt morgen schlechtes Wetter!" Nun ja - heute haben wir Klimaerwärmung und dicke Kinder. Dieser Spruch kommt wohl aus der Nachkriegszeit, als man sich nicht immer darauf verlassen konnte, dass die Kinder auch satt würden - in einer Zeit in einem Land, in dem es eher zu viel als zu wenig zu essen gibt, ist das aber wohl eher kontraproduktiv, denn wer als Kind kein Sättigungsgefühl entwickelt, neigt eher zu Gewichtsproblemen.

Ein wichtiger Punkt in der Kindererziehung ist natürlich auch die sexuelle Aufklärung. In der heutigen Zeit übernimmt das bereits die Volksschule - in meiner Schulzeit begann der Sexualkunde-Unterricht erst im ersten Gymnasial- oder Hauptschuljahr, aber die meisten von uns wussten schon vorher Bescheid. Ein Klassiker der Kindheitsmythen ist natürlich die Geschichte vom Storch, der die kleinen Kinder bringt. Die kannte ich aus dem Disney-Film Dumbo, aber ich wusste schon mit etwa drei Jahren, dass Babys aus dem Bauch der Mutter herauskommen. Wie sie da reinkommen, erfuhr ich allerdings erst später. Ein beliebter Zeitvertreib in der Pubertät, teilweise sogar schon in der Kindheit, ist natürlich die Masturbation. Heute eine anerkannte Methode, die eigene Sexualität zu erkunden, war sie früher geächtet und verpönt - besonders Jungen erzählte man, Onanieren mache blind, oder davon wüchsen Haare auf den Handflächen. Besonders Letzteres entbehrt jeder Logik, wenn man bedenkt, dass nicht einmal Pelztiere Haare auf den Fußsohlen haben.

Als ich etwa im Volksschulalter war, entwickelte ich eine Vorliebe für dicke Bücher. Unter anderem erbte ich eine Sammlung deutscher Balladen. Eine dieser Balladen, die mich am meisten faszinierten, war Die wandelnde Glocke von Johann Wolfgang von Goethe. Darin geht es um ein Kind, das am Sonntag nicht in die Kirche gehen will und deshalb von einer riesigen Kirchenglocke verfolgt wird, bis es endlich tut, was man von einem artigen Kind verlangt. Besonders die Zeichnung von der Glocke, die das Kind verfolgt, machte mir Eindruck - große Glocken sind ja tatsächlich sehr eindrucksvolle Gebilde. Letztens habe ich in meiner Stadt wieder einmal den berühmten Glockenturm besichtigt - die Glocke dort ist die drittgrößte unseres Bundeslandes, und obgleich sie in meiner Wahrnehmung mittlerweile geschrumpft ist (wohl auch, weil ich gewachsen bin), muss ich bei ihrem Anblick immer noch an die wandelnde Glocke denken.

Im Gegensatz zu mir essen die meisten Kinder nicht allzu gern Spinat - wobei sich mir manchmal der Gedanke aufdrängt, das liegt eher an den Kochkünsten der Mutter als am Spinat selbst. Ich denke, ich habe schon einmal davon erzählt, dass es in der Nachkriegszeit fälschlicherweise hieß, Spinat enthalte besonders viel Eisen, weshalb so viel wie möglich in die Kinder reingequält werden müsste. Dieser Mythos entstand allerdings bereits vor dem Zweiten Weltkrieg; um den Kindern den Spinat schmackhaft zu machen, war dieser in der 1933 erstmals ausgestrahlten Zeichentrickserie Popeye ein tragendes Element. Der Popeye-Comic existierte schon seit 1919 - bei der Verfilmung wurde die außergewöhnliche Stärke des Seemannes Popeye dem Dosenspinat zugeschrieben, nach dessen Verzehr seine Muskeln stets auf das Doppelte anschwollen. Auf diese Weise gelang es, den Eltern das passende Werkzeug in die Hand zu geben - diese erzählten ihren Kindern nämlich fortan, dass das Essen von Spinat sie stark mache.

In manchen Haushalten wurde davor gewarnt, sein Essen in der Toilette zu entsorgen - angeblich würden sonst Ratten aus dem Klo kommen. In manchen deutschsprachigen Regionen wurden die Kinder außerdem dazu angehalten, bei Dunkelheit zu Hause zu sein, weil sie sonst der Nachtkrapp holen würde, ein vogelartiges Wesen, das einen dann auffressen würde. Im Burgenland gibt es allerdings auch die Geschichte des guten Nachtkrapps, eine Art Rabe, der die Kinder zudeckt und sanft in den Schlaf wiegt. Anderen wurde auch einfach erzählt, dass sie dann die Ratten beißen würden. Es gab eine Zeit, da behauptete man, dass die Kinder andernfalls von den "Zigeunern", wie die Roma und Sinti früher abwertend genannt wurden, geholt würden. Der Stiefvater meiner Mutter behauptete sein Leben lang, ihm sei das tatsächlich einmal passiert. Anderen Kindern drohte man damit, sie an die "Zigeuner" abzugeben, wenn sie nicht brav seien.
Früher wurde ein bestimmtes Verhalten außerdem bei Jungen geduldet, bei Mädchen aber nicht. Meine Mutter erzählte mir, dass man Mädchen verbot, sich auf der Straße umzudrehen. Außerdem war Mädchen das Pfeifen nicht erlaubt - von jemand anderem hörte ich, dass man sagte, wenn ein Mädchen pfeift, weinen die Engel im Himmel. Singen und Pfeifen beim Essen war wiederum für beide Geschlechter verboten - eine Deutsche hat mir erzählt, ihre Eltern haben behauptet, wer beim Essen singt, bekommt einen besoffenen Mann.

In Österreich und Deutschland werden Kinder zumeist im 6. Lebensjahr eingeschult. Ein Satz vor dem ersten Schultag ist uns wohl allen im Gedächtnis geblieben: "Jetzt beginnt der Ernst des Lebens!" Vielleicht war das mit ein Grund, warum ich mich auf die Schule nicht so richtig freuen konnte. Der Komiker Michael Mittermeier schreibt in seinem Buch Die Welt für Anfänger, er hätte immer versucht, sich diesen Ernst vorzustellen. Als wir dann älter wurden und zu rauchen anfingen, wurde uns erzählt, vom Rauchen bekäme man kurze Beine - ich habe trotzdem geraucht und bin 1.73 cm groß geworden. Also wieder Fake News! Damals gab's auch den dummen Spruch "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr" - der in Walter Wippersbergs Buch Konstantin wird berühmt allerdings abgewandelt wurde zu "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans immer noch".
Sehr unangenehm ist ja bekanntlich auch der Schluckauf - laut Asterix und die Normannen im europäischen Norden, wo man angeblich die Angst nicht kennt, eine schier unheilbare Krankheit. Bei uns heißt es, wenn du Schluckauf hast, denkt jemand an dich. Und wenn das Essen versalzen ist, ist der Koch verliebt.

Ich habe herausgefunden, dass viele dieser "Mythen" in praktisch allen Regionen der Welt gleich sind. Andere wiederum variieren je nach Land. In Westafrika erzählte man mir, dass man den Kindern sagte, wenn sie nicht genug äßen, seien sie zu leicht, und dann käme ein großer Vogel und nähme sie mit. Natürlich werden wir irgendwann einmal erwachsen und wissen, dass das alles gelogen ist. Häufig lacht man darüber - und manchmal wird man auch zum Atheisten. Ihr kennt bestimmt auch noch andere Mythen aus eurer Kindheit, die ich hier nicht angeführt habe. Fallen euch welche ein? Viel Spaß beim Gedankenspiel!

vousvoyez

Samstag, 15. Juni 2019

Wenn das allgemeine Verhüllungsverbot gilt, darf die Polizei dann überhaupt noch verdeckt ermitteln?

Wir erinnern uns: Vor fast zwei Jahren, kurz vor den Nationalratswahlen, wurde eine Verordnung erlassen, nach der man sich in Österreich nicht mehr öffentlich das Gesicht bedecken durfte - bis auf Ausnahmefälle, etwa bei extremer Kälte. Das Ziel war klar: Muslimischen Frauen sollte das Tragen von Burka und Niqab nicht mehr erlaubt sein. Demzufolge wurde dieser Erlass im Volksmund auch "Burkaverbot" genannt. Ich muss dazu sagen, in meiner Wohngegend gibt es viele Menschen mit Migrationshintergrund - und natürlich auch viele Muslime. Ich sehe häufig Frauen mit Kopftuch - aber nur selten mal einen Niqab, bei dem nur die Augen sichtbar sind, und nicht einmal eine Burka. Und das war auch schon vor dem allgemeinen Verhüllungsverbot so. Es wundert also nicht, dass die Folgen dieses Gesetzes hauptsächlich Leute trafen, die sich etwa den Schal zu tief ins Gesicht gezogen haben oder Staubmasken trugen, und weniger echte Burka-Trägerinnen. Was jetzt nicht heißt, dass ich für die Burka wäre - ich finde nur, das Gesetz dagegen war einfach unsinnig. Zumal es heute kein Thema mehr ist. Und es soll auch nicht Thema dieses Artikels sein.

Wie wir ja wissen, ist die Regierung bei uns in Österreich inzwischen Geschichte - zumindest vorläufig. In den Wochen nach der Ibiza-Affäre habe ich die Debatte sehr aufmerksam verfolgt - und auch nicht vor den Kommentarspalten von Tageszeitungen und Fernsehsendern nicht zurückgeschreckt. Da gab es immer noch ausreichend FPÖ-Fans, die diese Geschichte überhaupt nicht zu beeindrucken schien. Was besonders auffällig war - viele von denen, die am lautesten "jetzt erst recht" skandierten und die meisten blauen Herzen teilten, outeten sich in ihren Profilen als ausnehmend tierlieb. Einige hatten als Profilbild nicht ihr eigenes Konterfei, sondern das des Hundes oder der Katze, und in ihrer Chronik riefen sie unermüdlich zum Schutz und Respekt von Tieren auf.

Man möchte meinen, dass Tierliebe eher eine Sache des linken Sektors sein sollte. Wer allerdings aufmerksam die sozialen Netzwerke verfolgt, bemerkt sehr schnell, dass dem nicht so ist. Unter denjenigen, die Fotos von Flüchtlingsbooten im Mittelmeer mit "absaufen" kommentieren und sich am meisten darüber aufregen, dass Asylwerber in Österreich eine Lehre machen dürfen oder mehr als 1.50 € pro Stunde für gemeinnützige Arbeit bekommen sollen, sind auffallend viele, die nicht zögern, den herzlosen Umgang der Menschen mit ihren tierischen Mitgeschöpfen anzuprangern und beim Anblick eines verletzten Katzenbabys in mitfühlende Tränen auszubrechen.

Dass gerade Tierfreunde so oft Fans von Rechtsparteien sind, liegt wohl daran, dass sich diese sehr geschickt an jene verkaufen können. Vor vier Jahren rechtfertigten auffällig viele ihre Sympathie für die FPÖ damit, dass diese das Schächten von Tieren verbieten wolle - ein Brauch, der bei Juden und Muslimen praktiziert wird. In welcher Weise dies Massentierhaltung und unethische Praktiken auf Schlachthöfen rechtfertigen soll, ist mir zwar schleierhaft, aber gut. Mir war schnell klar, dass es nicht um Tierschutz ging, sondern lediglich darum, Feindbilder zu schaffen und Stimmen zu generieren - denn keiner sprach davon, seinen Fleischkonsum zugunsten besserer Lebensbedingungen von Schlachtvieh zu reduzieren. Auffällig ist auch, dass FPÖ-Politiker gerne mit Tieren fotografieren lassen - H. C. Strache war da besonders fleißig, und seine liebe Ehefrau ist ja auch bekannt für ihre Herz erwärmende Tierliebe. Fest steht - Rechtspopulisten setzen sich weitaus medienwirksamer für Tiere ein als alle anderen Parteien. Und kassieren entsprechend natürlich auch mehr tierliebe Stimmen. Auf diesen Zug sind auch Rechtsparteien in anderen Ländern, beispielsweise bei unseren deutschen Nachbarn, bereits aufgesprungen: Auch die NPD spricht sich immer wieder für Tier- und Umweltschutz aus, und die AfD setzt sich jetzt auf einmal gegen das Shreddern von niedlichen Küken ein (was ihnen bisher komplett egal war). Der Sinn dieser Aktionen und Äußerungen ist leicht durchschaubar: Einerseits passen Tierliebe und Misanthropie gut zusammen, andererseits nährt man damit dem Gedanken: "Wer tierlieb ist, kann kein schlechter Mensch sein."

Diese Haltung ist keineswegs neu - wir wissen, dass Adolf Hitler vegetarisch lebte und ein großer Hundefreund war, und dereinst verbot auch er Schächtungen unter dem Deckmantel des Tierschutzes, während es in Wirklichkeit nur darum ging, Juden als grausam darzustellen und ihre Religionsfreiheit einzuschränken. Medizinische Versuche an Tieren waren verboten - während sie gleichzeitig an Menschen praktiziert wurden. Im Rechtsextremismus wird häufig die "Natur" als unhinterfragbare Instanz hochgehalten - zumindest das, was Vertreter rechten Gedankenguts unter Natur verstehen. Während man die Zivilisation und Kultur als "Werteverfall" kennzeichnet, soll das Tier als Vorbild für den Menschen dienen - eine Art braun gefärbte Back-to-Nature-Ideologie.

Dem Beispiel rechter Politiker folgen viele ihrer Anhänger - mit übertriebenem Einsatz für den Schutz und die Rechte von Tieren stellen sie sich als besonders empathisch hin, während sie ihre seelischen Abgründe an Ausländern ausleben. Die Intention der Rechtsparteien trägt Früchte - mit tierfreundlichen Parolen kommt man eben (noch) weiter als mit offen rassistischen, und das wird ausgenutzt. Umso ironischer, dass die FPÖ in letzter Zeit gerade viele Stimmen von Tierfreunden in den Sand gesetzt hat - indem sie sich gegen ein Verbot des Shredderns von Küken und der Haltung von Schweinen auf Vollspaltböden entschieden.

Und jetzt möchte ich einmal eines klarstellen: Ich habe vollsten Respekt vor Leuten, die sich für Tiere einsetzen und sogar bereit sind, dafür auf Annehmlichkeiten zu verzichten. Und ich kenne selbst einige, die sich trotzdem gegen Menschenhass aussprechen. Pauschalisieren ist nie gut. Ganz allgemein möchte ich nur sagen: Ehe man sich für eine Partei entscheidet, sollte man sie als Ganzes betrachten und nicht nur auf ein paar einfache Parolen anspringen. Und man sollte sich immer die Frage stellen: Geht es wirklich um meine Anliegen oder geht es nur um Stimmenfang?

vousvoyez

Freitag, 14. Juni 2019

Meiner Großmutter ist es sicher langweilig im Himmel, weil sie dort niemanden zum Katholizismus bekehren kann

Meine Großmutter war eine kleine, zierliche Frau mit messerscharfem Verstand, die vor nichts und niemandem Angst zu haben schien. Sie war die sprichwörtliche starke Frau hinter ihrem erfolgreichen Mann - wobei sie sich mit der Hintergrund-Position nicht begnügte - und mit vielen Talenten gesegnet. Doch obgleich die Familie, aus der sie stammte, wohl kaum aus konventionell zu bezeichnen ist, war der Katholizismus für sie quasi das Wichtigste auf der Welt. Man kann sagen - sie war verantwortlich dafür, dass ich einen Teil meiner Kindheit in eiskalten Kirchen bei langweiligen Predigten verbrachte. Und doch hat sie im Laufe ihres langen Lebens - sie starb mit 98 Jahren - eine Menge dazugelernt. So war sie am Ende ihres Lebens eine leidenschaftliche Verfechterin für das Ende des Zölibats, und obgleich sie versuchte, eine hundertjährige Protestantin zum Katholizismus zu bekehren, schien sie sich auch sehr zum Islam hingezogen zu fühlen. Im Prinzip ist sie trotz oder vielleicht auch wegen ihrer Religiosität eines der schon erwähnten Beispiele für all die starken, intelligenten Frauen in meiner Familie.

Tja, momentan ist ja die Zeit der Ersatzreligionen - zumindest seit der Jugendrevolte der 1960er Jahre, aber heutzutage wird es immer mehr, zumal man ja durch das Internet auch leichter Zugang zu unterschiedlichen Weltanschauungen hat. Was Vor- und Nachteile bringt. Zeitweise sind es ja, wie ich schon angemerkt habe, gerade ganz alltägliche Dinge, die zu einer Religion werden können - Ernährung, Kindererziehung, Tierhaltung oder Sport.
Zurzeit kursiert im Netz das Foto einer Schaufensterpuppe aus einem Nike-Store in der Oxford Street in London. Das Besondere an dieser Puppe - sie ist dick. Womit sie natürlich neben den dünnen, athletisch gebauten Modellen, die vorführen, wie Größe XS aussieht, heraussticht. Neben der Plus-Size-Puppe sind auch Modelle mit Handicap ausgestellt - der Hersteller erklärt, dass damit Diversität im Sport gezeigt werden soll, der ja nicht nur von schlanken, athletischen, gesunden Menschen ausgeübt werden darf oder soll.

Jetzt hat die britische Journalistin Tanya Gold, die für die Zeitung The Telegraph schreibt, aber wohl was dagegen. Ich konnte den Original-Artikel leider nicht lesen, da ich keine Lust habe, den Telegraph nur wegen eines einzigen Artikels kostenpflichtig zu abonnieren. Auf Twitter schreibt sie, dass diese Puppe ein "schrecklicher Zynismus" seitens der Hersteller sei - eine Person dieser Gewichtsklasse könne gar nicht laufen, sie sei wahrscheinlich auf dem besten Weg zu Diabetes und einer Hüftprothese. Sie erklärt, dass man durch mollige Puppen suggeriere, Übergewicht sei okay - mit einem Wort, man verbreite eine "gefährliche Lüge". Natürlich gehen die Wogen jetzt hoch - vor allem Frauen, die selbst Übergewicht haben, fühlen sich angegriffen.

Nun ja - dass eine zu starke Abweichung von der Norm, ob im oberen oder unteren Bereich, nicht gesund ist, wissen wir ja alle. Ebenso, wie wir wissen, dass Übergewicht in den satten Industrienationen immer mehr zum Problem wird. Als ich 17 Jahre alt war, war ich für zwei Wochen in Florida. Einer der auffälligsten Eindrücke, wenn man damals als Europäer in den USA war, waren die vielen extrem übergewichtigen Menschen - Erwachsene und Kinder. Eine meiner "Weisheiten" war ja der selbst erfundene Amerikaner-Witz, der eigentlich gar nicht witzig war und der das Übergewichts-Problem der amerikanischen Bevölkerung aufs Korn nahm. Besonders in Fast-Food-Restaurants hatten überdurchschnittlich viele Menschen - oft Kinder oder Jugendliche - extremes Übergewicht, in einem Ausmaß, wie man es damals in Europa noch gar nicht kannte.

Heute ist das anders geworden - auch hier in Europa gibt es immer mehr übergewichtige Menschen. Und ja, auch ich kenne dieses Problem. Auf der anderen Seite wird besonders uns Frauen schon seit Jahrzehnten eingeredet, wir müssten unbedingt schlank sein - um jeden Preis. Mit Dicksein geht häufig das Vorurteil einher, man sei faul, undiszipliniert und gierig. Schon in meiner Jugend dachte man bei Modenschauen oft an Brot für die Welt angesichts der dürren Gestalten, die da über den Laufsteg wankten. Bis heute fällt mir immer die Simpsons-Folge ein, in der ein Magermodel mit riesigen Augenringen über den Laufsteg geht und unsichtbar wird, als es sich zur Seite dreht. Oder Michael Mittermeier und sein erstes Programm Zapped, in dem er unter anderen über die berühmten Werbespots der Calvin-Klein-Parfumreihe Obsession spricht und erklärt, er denke beim Anblick der jungen Kate Moss eher an Brot für die Welt. In Zeiten von Photoshop wird auf Fotos auch noch oft nachgeholfen, damit ja keine "Problemzonen" sichtbar sind, und auch bei Germany's Next Topmodel ist Normal- oder gar Übergewicht eher weniger angesagt. Und natürlich gibt es da auch oberflächliche Internet-Formate wie Instagram, auf denen Influencer(innen) ihr vermeintlich perfektes Leben und auch ihre perfekten Körper zur Schau stellen. Was besonders sehr junge Frauen und Mädchen dazu veranlasst, zu hungern oder sich nach dem Essen zu übergeben - was im schlimmsten Fall zum Tod führt.
Auf der einen Seite wird besonders in den USA die Body-Positivity-Bewegung vorangetrieben, die besonders Frauen dazu veranlassen soll, sich so wohlzufühlen, wie sie sind - egal ob dick oder dünn. Andererseits gibt es da auch den Fitness-Hype, der viele in die Fitnessstudios treibt, um den schlanken, durchtrainierten Körper zu erhalten, der heutzutage so begehrt ist. Dort unterhält man sich dann, wie viele Kilometer man heute schon auf dem Fahrrad zurückgelegt hat, bei welchem Marathon man nächste Woche wieder mitläuft und wie sportlich man beim letzten Urlaub doch unterwegs war.

Nun ja. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen - wer in puncto Gewicht bzw. Figur etwas zu weit von der Norm abweicht, wird gerne kommentiert. Im Fall von Übergewicht wird einem besonders gerne nahegelegt, Sport zu machen. Was ja an sich vernünftig ist - der menschliche Körper ist nicht dazu da, immer nur im Büro zu sitzen oder auf der Couch vor dem Fernseher zu liegen. Und jeder weiß, dass zu einer gesunden Gewichtsreduktion ausreichend Bewegung einfach dazugehört. Es ist halt nur so - für Sport braucht man auch adäquate Kleidung. Das heißt, Kleidung, die nicht zu schlabberig, aber auch nicht zu beengend ist. Und ab einer gewissen Körperfülle ist es nicht mehr so einfach, etwas zu finden, das nicht zwickt, rutscht oder flattert. Dazu kommt auch noch, dass man nicht wirklich eine Vorstellung davon hat, wie man mit dieser Kleidung aussieht, weil die Puppen und Models, die sie vorführen, natürlich immer superschlank sind. In diesem Lichte sind Mrs. Golds Worte schon sehr fragwürdig - ganz abgesehen von der Behauptung, Dicke könnten nicht laufen. Was soll das aussagen - dass Dicke keinen Sport machen dürfen, während man ihnen doch ständig damit in den Ohren liegt, dass sie genau das tun sollen?

Sicher ist es nicht sehr zielführend, wenn man jetzt anfängt, so zu tun, als sei es wünschenswert, zu dick zu sein. Übergewicht ist ungesund und kann krank machen - das wissen wir alle. In dieser Hinsicht hat Frau Gold schon nicht unrecht; anstatt Schaufensterpuppen einfach etwas realistischer zu gestalten, schwankt man zwischen zwei Extremen, nämlich zu dünn oder zu dick. Wobei ich mich auch frage, warum sie kein Wort über die Size-Zero-Puppen zu verlieren scheint. Aber die dicke Puppe hat möglicherweise auch eine positive Wirkung auf Übergewichtige, die gerne Sport machen würden, sich aber nicht trauen, weil sie sich für ihren Körper schämen und ihn deswegen nicht zeigen wollen.

Wie zuvor schon erwähnt - heutzutage begegnet man Menschen, die zu dick oder zu dünn sind, gerne mit Vorurteilen. Sehr Dicke sind faul und verfressen, sehr Dünne sind zickig und essen nichts. Tatsache ist - egal wie ein Mensch aussieht, man kann von außen nicht beurteilen, warum er oder sie diesen und jenen Körper hat. Es gibt Menschen, die von klein auf mit Übergewicht zu kämpfen hatten, es gibt welche, die durch Medikamente oder gesundheitliche Probleme zu dick sind, und es gibt andere, die nicht zunehmen, obwohl sie ausreichend essen, oder die einfach nicht so viel essen können. Es gibt Menschen, die vom Körperbau her kräftiger sind und andere, sie eher zierlich sind. Die einen können auch mit noch so viel Hungern keine Modelmaße erreichen, die anderen werden nie besonders dick werden. Es gibt Menschen, die sehen am schönsten aus, wenn sie etwas mehr auf den Rippen haben, und andere, die sehen besser aus, wenn sie schlanker sind. Was wir brauchen, ist Vielfalt und keine Welt, in der alle total gleich aussehen. Nach dem Ideal von heute müssten alle Frauen dünn, blond, hellhäutig und langbeinig sein, mit kleiner Nase und langen Haaren. Wollen wir das wirklich? Zumal auch nicht alle Männer den gleichen Geschmack haben - und sich dieser mit dem Älterwerden auch ändern kann. Das gilt ja auch für Frauen - wenn man jung ist, sind die Kriterien eher oberflächlich, aber mit der Zeit passen sich die optischen Wünsche immer mehr den charakterlichen an, und vieles ist nicht mehr so wichtig. Wenn ich mir heute Dating-Shows ansehe, antworten Frauen auf die Frage, wie der Traummann aussehe, fast immer zuerst mit "Er soll größer sein als ich." Was im Gegensatz zu Mittermeier steht, der in seinem Programm Back to Life verwundert war, dass für Frauen der Humor eines Mannes am wichtigsten zu sein scheint, und die Frage in den Raum stellt, ob das Aussehen wirklich so egal ist, wie manche behaupten. Nun gut.

Dünne Menschen bemängeln oft, dass man mit ihrer äußerlichen Erscheinung weit weniger sensibel umgeht als mit der von Dicken. Ich kann das schon verstehen - es ist in keinem Fall besonders erhebend, wenn jeder seinen Senf dazugeben muss. Andererseits neigen die Leute aber eher dazu, zu glauben, nur Dicke müssten ihren Körper verstecken - ich habe eher selten gehört, dass jemand gesagt hat: "Sie sollte nicht so kurze Sachen tragen - da sieht man ja jeden Knochen!" Kritik an Übergewichtigen ist durchaus weniger offen als Kritik an Untergewichtigen - angenehm ist aber beides nicht. Wie schon gesagt - keiner weiß allein vom Hinsehen, warum eine Person dick oder dünn ist. Trotzdem ist man mit seiner Meinung zum Körpergewicht eines anderen oft sehr vorschnell - auch wenn man es im Grunde genommen nur gut meint. Aber häufig greift da auch der Dunning-Kruger-Effekt - selbst wenn das Aussehen einer Krankheit verschuldet ist. Zumindest, wenn sie psychisch ist. Wer von psychischen Erkrankungen keine Ahnung hat, stellt sich das Leben häufig sehr einfach vor - Depressive müssen einfach nur mehr lachen; Leute, die SVV betreiben, müssen einfach nur damit aufhören; Süchtige müssen einfach aufhören, ihre Suchtmittel zu konsumieren; Fettsüchtige müssen einfach nur weniger essen; Bulimiker müssen einfach nur aufhören zu kotzen; Magersüchtige müssen einfach nur anfangen zu essen. Ich möchte nur anmerken - wenn es so einfach wäre, dann gäbe es keine psychischen Erkrankungen. Denn dann könnte man einfach das tun, was ich zuvor angeführt habe, und schon wäre man wieder gesund. Das ist ungefähr so, als würde man jemandem, der Krebs hat, raten, er solle einfach aufhören, krank zu sein.

Was bleibt noch zu sagen? Nun - ich würde es durchaus nicht schlecht finden, wenn Models und Schaufensterpuppen etwas unterschiedlichere Figuren hätten. Wenn man den Menschen endlich mehr in seiner Vielfalt zeigen würde. Heutzutage gibt es so viele Models unterschiedlicher ethnischer Prägung - was ich toll finde. Wäre es nicht auch wünschenswert, wenn auf den Laufstegen nicht immer die gleiche, für die meisten Leute unrealistische Figur gezeigt würde? Ich erinnere mich daran, wie vor Jahren einmal Leggings für Männer gezeigt wurden. Ich muss sagen, attraktiv finde ich sowas nicht - aber in der Sendung, in der diese Hosen gezeigt wurden, sahen sie nicht so schlecht aus, wie man hätte meinen können. Allerdings waren die Männer, die sie vorführten, natürlich Models mit Idealmaßen. Bei einem durchschnittlichen Mann würden Leggings eher lächerlich aussehen - man braucht sich ja nur einen Durchschnittsmann in Radlerhosen ansehen. Ob Mode gut oder schlecht aussieht, hängt oft von der Person ab, die sie trägt - und da der Großteil der Menschheit keine Modelmaße hat, kann er sich wohl kaum mit denjenigen identifizieren, die die neueste Kollektion vorführen. Ganz allgemein würde ich es besser finden, wenn man einen Menschen dazu ermutigt, sich in dem Körper wohl zu fühlen, der ihm geschenkt wurde. Ich bin mit meinem Aussehen auch nicht vollauf zufrieden - da kann ich abnehmen, soviel ich will. Aber das ist eben menschlich - ich denke, es kommt vor allem darauf an, das Beste aus sich zu machen.

vousvoyez

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