Freitag, 22. April 2022

Eine Studie hat bewiesen, dass Männer ohne Haare eine Glatze haben

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Und bekanntlich wissen wir ja alle, dass Studien heute unabdingbar sind, um hanebeüchenen Behauptungen etwas entgegenzusetzen. Wobei das ja nicht bei allen funktioniert - ich kann euch gar nicht sagen, wie ermüdend ich mittlerweile Sätze wie "Traue keiner Studie, die du nicht selbst gefälscht hast" finde. Ein Witz verliert halt an Schlagkraft, wenn man ihn zu oft wiederholt. Besonders, wenn er vollkommen unangebracht ist - und von Leuten kommt, die in Wirklichkeit überhaupt nichts von Humor verstehen.

Als ich mir das letzte Video von unserem Schwurbelbarden Xavier Naidoo angesehen habe, ist mir das auch aufgefallen - der Mann hat sich zumindest in seinem Habitus überhaupt nicht verändert. Seine Art zu reden ist so salbungsvoll und bedeutungsschwanger wie eh und je, und das ist halt auch einer der Gründe, weshalb ich diesen Jammerlappen wohl niemals vollends ernst nehmen werde können. Er nimmt sich selbst und alles was er tut so unfassbar wichtig, dass jenes Hirnareal, in welchem bei anderen Menschen der Humor sitzt, bei ihm nur ein gähnendes schwarzes Loch zu sein scheint. Das ist auch das, was er mit den anderen Schwurbelinos und Schwurbelettas gemeinsam hat - selbst diejenigen, die sich ständig als besonders humorvoll inszenieren und pausenlos alles "ironisch" meinen, nehmen das, was sie unter "Humor" verstehen, so bierernst, dass es mit Humor nichts mehr zu tun hat. Und so wirken diejenigen, die sich Eimerchen über den Kopf stülpen oder ihre primären Geschlechtsteile mit OP-Masken bedecken, weder lustig noch mutig, sondern einfach nur jämmerlich - gerade deswegen, weil sie sich besonders clever, frech und kreativ dabei vorkommen. Traurig eigentlich.

Ja, inzwischen müsste auch der letzte Eremit im hintersten Arschlochwinkel mitbekommen haben, dass Xavier Naidoo sich entschuldigt hat. Und jeder, ob wichtig oder unwichtig, hat dazu bereits seine Meinung gesagt - also kommt's auf eine mehr oder weniger auch nicht mehr an, nicht wahr? Nun habe ich mich ja schon vor zwei Jahren bereits zu der singenden Beileidskarte geäußert, nachdem er um ein paar erfundene Kinder geheult hat und so zu einem sehr dankbaren Meme geworden ist - und habe angedeutet, dass er schon zu jenem Zeitpunkt kein unbeschriebenes Blatt mehr war. Um so überraschender kam jetzt sein jüngstes Statement, in welchem er auf einmal das Gegenteil all dessen behauptete, was er vor allem in den letzten beiden Jahren so rausgehauen hatte - und das, nachdem er vor noch nicht allzu langer Zeit noch fleißig russische Propaganda verbreitet hatte. Wobei natürlich die Frage im Raum steht, ob es wirklich so überraschend ist, aber dazu komme ich noch. Und selbstverständlich rennen seine Gesinnungsgenossen jetzt verstört durch die Gegend wie kopflose Hühner - wie kann es sein, dass "ihr" Xavier auf einmal mit "dem Feind" paktieren will? Und wie zu erwarten, mussten sich viele von ihnen auf der Stelle Luft machen - beispielsweise sein enger Kumpel, der vegane Koch und Hirsehitler Attila Hildmann, der mit antisemitischen Schwurbel-Parolen um sich warf und sich dann feige in die Türkei verdrückt hat, als es ihm in Deutschland nicht mehr sicher genug war. Er fühlte sich verraten, zog Parallelen zur Dolchstoßlegende und verglich Naidoo - Gott bewahre! - mit Jan Böhmermann, Olaf Scholz und Annalena Baerbock. Wie gemein!

Aber nicht nur Hildmann hüpft aktuell herum wie das Rumpelstilzchen persönlich - auch Michael Wendler, der sogar noch schlechtere Musik machen kann als der gute Xavier, ließ es sich nicht nehmen, aus seinem selbst gewählten "Exil" in den USA heraus seiner Schockiertheit Luft zu machen. Und auch dem QAnon-Fan und Hetzjournalisten Oliver Janich fielen auf den Philippinen vor lauter Schreck die Beruhigungspillen in die soeben aufgeschlagene Kokosnuss. Nachdem ihm diese anschließend von einem Koboldmaki geklaut worden war, welches kurz darauf selig in einer Baumhöhle schlummerte, berief er zusammen mit zwei anderen Schwurbelköpfen ernsthaft eine "Sondersendung" ein, in der die drei mit todernster Miene den haarsträubendsten Quatsch von sich gaben, so als befänden sie sich gerade in einer höchst gravierenden Staatskrise. Währenddessen erklärte "Volkslehrer" Nikolai Nerling, nachdem er sich an seinen Eiernockerln verschluckt hatte, dass Xavier Naidoo eh nie ein richtiger "Führer" gewesen sei und dass es nun Zeit wäre, sich nach einem neuen umzusehen. Markus Haintz verwandelte sich derweil in ein Fragezeichen und reflektierte scharfsinnig zusammen mit Bodo Schiffmann, der nur mit Mühe die Krokodilstränen zurückhalten konnte, darüber, ob hinter dem Video nicht möglicherweise selbst eine Verschwörung stecken könnte. Wie kreativ! Und nicht nur die beiden stecken ihre Köpfe zusammen - auch beim "gemeinen Fußvolk" auf Telegram ist mittlerweile der Teufel los! Denn diesen scharfsinnigen Geistern ist natürlich nicht entgangen, dass Xavier Naidoo in seinem Video keine Brille trägt! Klar - ich fange auch immer an zu lügen, sobald ich meine Brille absetze. Ich kann einfach nicht anders! Viele vermuten hinter dem Video einen Deep Fake, manche glauben gar, er werde von den pöhsen Satanisten erpresst, welche die Familie seiner ukrainischen Frau als Geisel genommen hätten. Oliver Janich liefert sogar den "Beweis" für eine mögliche Verschwörung - ein noch relativ neues Video vom Spiegel, in dem jemand spekuliert, ob einer der prominenten Verschwörungsideologen möglicherweise mal eine Kehrtwendung macht. So oder so, die Telegram-Bubble ist wieder mal in ihrem Element. Gleichzeitig zeigt sich in Situationen wie diesen, auf welch tönernen Füßen diese "Wahrheits-" und "Freiheitsbewegung" in Wirklichkeit steht - eine einzige Person, die in einem kurzen Video ihre Ansichten revidiert, reicht aus, dass alle sofort Zeter und Mordio schreien und die wildesten Theorien darüber spinnen, wie es nur so weit kommen konnte.

Aber natürlich interessiert euch brennend, wie ich Xaviers Statement einschätze, nicht wahr? Immerhin hat sich vor mir ja noch keiner dazu geäußert, bis auf alle! Und leider kann ich euch auch nichts Neues mitteilen: Ich bin genauso zwiegespalten wie die meisten anderen auch. Nun habe ich ja das Glück, dass sein Sprachrhythmus und seine Reimkunst in mir stets ein Gefühl erzeugen, welches jenem gleicht, das man empfindet, wenn jemand mit sehr langen Fingernägeln über eine Schultafel kratzt - und wenn man kein Fan ist, muss man sich nicht erst mühsam distanzieren. Zumal mir seine Äußerungen auch schon vor vielen Jahren, als er noch ein wesentlich breiteres Publikum hinter sich hatte, suspekt waren. Jajaja, die Frau mit der großen Brille will sich mal wieder profilieren - aber sind wir uns doch ehrlich, der gute Mann war doch in Wirklichkeit nie ein unbeschriebenes Blatt! Seit fast einem Vierteljahrhundert fällt er immer wieder mit antisemitischen, rassistischen, nationalistischen und homophoben Äußerungen auf - all jene Geisteshaltungen, die laut der Aussagen in seinem Video mit seinen Werten nicht vereinbar seien. Und gerade aus diesem Grund sollten wir sein Statement mit Vorsicht genießen. Aber was meine ich damit, dass es vielleicht doch nicht so überraschend kam, wie es scheint?

Aktuell verlieren die "Corona-Rebellen" ja massiv an Bedeutung - die Maßnahmen gegen das Coronavirus werden allmählich aufgehoben, und mit vorsichtigen Schritten kehrt man wieder zur Normalität zurück. Gleichzeitig hat der Ukraine-Krieg das seit zwei Jahren vorherrschende Thema ein wenig mehr aus den Schlagzeilen verdrängt, während die rechte Bubble sich aufgrund dieses Ereignisses so ein bisschen selbst zerlegt. Andererseits laufen auch schon wieder Live-Veranstaltungen an, die ersten Konzerte und Festivals werden bereits auf den Weg gebracht. Wir dürfen nicht vergessen, dass Xavier fast sein halbes Leben lang ein äußerst gefragter Musiker war, der keineswegs nur in der Szene der Rechtsgestrickten und Verschwörungsideologen beliebt war. In den letzten beiden Jahren hat er sich mit seinen Verschwörungserzählungen und menschenverachtenden Äußerungen allerdings endgültig ins Aus geschossen - das einzige, was ihm noch blieb, war seine Reichweite auf Telegram, und selbst die ist jetzt, wo die Pandemie kein so großes Thema mehr ist, im Schwinden begriffen. Und nachdem die meisten Veranstalter mit dem armen Xavier nichts mehr zu tun haben wollen, es aber andererseits wieder etwas ruhiger um ihn geworden ist, ist es jetzt doch besonders günstig, wieder aus der Versenkung aufzutauchen mit einem "Haha, war gar nicht so gemeint, gehen wir wieder zur Tagesordnung über!"

Versteht mich nicht falsch: Ich hoffe wirklich, dass er es ernst meint. Das Ding ist nur: Es ist nicht das erste Mal, dass der gute Herr Naidoo einen solchen Move startet. Das war auch in der Vergangenheit schon immer wieder seine Masche. Der Mann war immer schon ein talentierter Blender - nicht umsonst haben ihn sogar Leute verteidigt, die es eigentlich besser wissen müssten. Auf diese Weise hat er dazu beigetragen, fragwürdige Äußerungen sukzessive in die Mitte der Gesellschaft zu tragen. Nach seinem Rauswurf bei DSDS hat er offen zugegeben, die Medien instrumentalisiert zu haben, um für ein neues Album zu werben und seine Ideologie unter die Leute zu bringen. Bereits 1998 musste in einer MTV-Live-Sendung der Ton abgeschaltet werden, weil Naidoo die Legitimität der Bundestagswahlen negiert hatte. Ein Jahr später bezeichnete er sich in einem Interview als "Rassist [...] ohne Ansehen der Hautfarbe". In vielen seinen Liedern - bevorzugt jenen, die gut versteckt auf seinen Alben publiziert wurden - stellt er die Demokratie in Frage, verbreitet die altbekannten antisemitischen Verschwörungserzählungen und verbreitet Anti-Amerikanismus. Viele seiner Songtexte hätten jeder Rechtsrockgruppe zu Ehren gereicht - in jenem Lied, das ihn seinen Posten als DSDS-Juror kostete und auch den Rest seiner Fans, die noch über einen klaren Kopf verfügten, gegen ihn aufbrachte, nutzt er explizit faschistische Sprache und ruft zu Gewalt und Bürgerkrieg auf. Er machte die Reichsbürgerbewegung einer breiten Öffentlichkeit zugänglich und die QAnon-Sekte im deutschsprachigen Raum bekannt - sprich, er hat in diesem Spiel keineswegs eine passive Rolle gespielt, sondern erheblichen Schaden in der Gesellschaft angerichtet. Und das soll jetzt alles wieder gut sein, nur weil er sich drei Minuten lang vage entschuldigt hat? Ernsthaft? Soll es wirklich genügen, dass jemand sich von den letzten zwei Jahren distanziert, wenn seine eher ... ähm ... schwierige Haltung schon fast ein Vierteljahrhundert zurückreicht? Ist ein kurzes Video genug, damit wir alle Hand in Hand mit ihm barfuß über Blumenwiesen hüpfen und dabei We Shall Overcome singen? Und ich kann verstehen, dass viele die Hoffnung hegen, auch andere verlorene Schäfchen aus dem Sumpf der Verschwörungsideologien zurückholen zu können, wenn man ihm die Hand reicht - aber sollen wir signalisieren, dass jeder Promiente sich nach Belieben wie die letzte Wildsau aufführen darf, solange er sich hinterher artig entschuldigt?

Ich finde, wir sollten bereit sein, jemanden, der in die Gesellschaft zurückkehren will, die Hand zu reichen - aber wir sollen es uns und ihm damit auch nicht zu leicht machen. Wir sollten genau beobachten, wie Herr Naidoo sich in nächster Zeit verhalten wird, anstatt ihm sofort wieder den roten Teppich auszurollen. Und wir sollten skeptische Stimmen nicht in derselben Manier niederschreien, wie unsere Schwurbelfreunde jede Meinung niederschreien, die nicht ihre ist. Wir haben es nun mal nicht mit einem x-beliebigen Typen zu tun, der sich mal in was verrannt hat, sondern mit einem prominenten Musiker, der zwei Jahrzehnte lang bewusst und mit Vergnügen gezündelt hat. Deswegen darf man durchaus skeptisch sein und das auch äußern - und man muss es aushalten, dass es möglicherweise Leute gibt, für die das Thema Xavier Naidoo immer ein bisschen ein rotes Tuch bleiben wird. Das mag dem einen oder anderen unfair erscheinen, aber man kann halt nicht von allen Menschen grenzenlose Geduld erwarten. Es mag sein, dass gerade seine direkte Betroffenheit durch den Ukraine-Krieg - immerhin hat er eine ukrainische Ehefrau - ihn zum Umdenken bewegt hat. Und selbstverständlich ist der Ausstieg aus der rechtsextremen Verschwörungsszene ei großer Schritt, der sehr viel Mut und Selbstreflexion erfordert. Ich möchte euch nicht dazu anhalten, eure Türen für immer zu verschließen - ich möchte euch nur bitten, ein bisschen vorsichtig zu sein. Alles andere wird die Zeit zeigen. Und damit ihr mir nicht böse seid, dass ich euch doch noch mit Xavier Naidoo geärgert habe, füge ich noch ein Foto von einem Koboldmaki hinzu.

vousvoyez

Donnerstag, 7. April 2022

Der Weg zur Rebellion ist nur einen Mausklick entfernt

Photo by Luis Villasmil on Unsplash
Und es ist manchmal wichtig, sich dem Status Quo zu widersetzen - etwa, wenn es darum geht, endlich die Warnungen von Wissenschaftlern ernst zu nehmen und das Schlimmste zu verhindern. Denn obwohl die ersten Anzeichen des Klimawandels bereits zu erkennen sind, gibt es immer noch viel zu viele, die diesen vollkommen ignorieren. Und leider sitzt ein nicht unerheblicher Anteil dieser Leute in Machtpositionen. Und jetzt hat eine Zweigstelle von Fridays for Future sich auch noch selbst ins Aus geschossen - ich spreche natürlich von jenen Aktivisten aus Hannover, die auf ziemlich überhebliche Weise eine Musikerin von ihrer Veranstaltung ausgeladen haben, weil sie weiß ist und dennoch Dreadlocks trägt. Und zwar deswegen, weil ihre Frisur "kulturelle Aneignung" sei und man nicht nur klimafreundlich, sondern auch anti-rassistisch bzw. anti-kolonialistisch sei.

Das ist natürlich ein gefundenes Fressen für all jene, die sowieso schon ein Problem mit jugendlichen Aktivisten und Menschen mit anderer Hautfarbe haben - und die sich nur allzu gerne in der Opferrolle suhlen. Und so haben sich Boulevard-Presse, Konservative und Rechtspopulisten in den letzten Wochen begeistert über den "Woke-Wahnsinn" und die "Cancel Culture" der jungen Generation ereifert - und auf einmal setzen sich die, die in puncto Rassismus sonst nicht gerade zimperlich sind, für das Recht ein, Dreadlocks zu tragen, während jene, die sich eigentlich für gesellschaftlichen Fortschritt einsetzen, auf einmal Töne anschlagen, die man zuletzt von den strafgeilen Konservativen der 1960er Jahre gewöhnt war, welche männlichen Jugendlichen nahelegten, ihre Haare abzuschneiden.

Nun wisst ihr ja, dass ich generell das, wofür sich Fridays for Future eigentlich einsetzt, durchaus befürworte und überhaupt nicht damit einverstanden bin, dass Versäumnisse der Vergangenheit auf dem Rücken der jungen Generation ausgetragen werden soll - sei es Klimawandel, Bildungsmisere oder staatliche Verschuldung. Und selbstverständlich ist mir klar, dass es sich bei FfF Hannover nicht um die gesamte Bewegung handelt, sondern nur um eine regionale Zweigstelle. Andererseits erleben wir jedoch aktuell genau das, was bereits mit vielen Jugendkulturen passiert ist - nämlich die Kommerzialisierung von Fridays for Future. Denn einerseits ist der Name inzwischen eine geschützte Marke, die bereits Milliarden wert ist, andererseits wird der Klimaschutz-Aktivismus bereits seit einiger Zeit von allen möglichen Startup-Unternehmen vereinnahmt - während man bei Talkshows aktuell häufig das Gefühl hat, dass Moderatoren, Gäste und Innen diese nichtsnutzige Jugend am liebsten selbst an die Front schicken würden, auch wenn die meisten von ihnen selbst Krieg nur aus den Medien kennen. Gleichzeitig springen auch die etablierten Unternehmen auf den FfF-Zug auf, indem sie selbst ein bisschen Grünfärberei betreiben - und am Ende geben sich selbst McDonald's und Nestlé besonders nachhaltig und menschenfreundlich. So ist aus ein paar jungen Querulanten, die freitags auf die Straße gingen, inzwischen eine Wirtschaftsmarke geworden, und sowohl Unternehmen als auch Medien schmücken sich gerne mit deren Frontleuten, um eine junge Zielgruppe zu erreichen.

Gleichzeitig darf man jedoch nicht vergessen, dass sie auf eines der wichtigsten Themen unserer Zeit aufmerksam machen wollen - nämlich den menschengemachten Klimawandel, der nun mal ein ganz reales Problem ist und von dem man das Gefühl hat, dass die Verantwortlichen sich mit dem Thema nur sehr peripher auseinandersetzen wollen. Denn obgleich sich die Auswirkungen des Klimawandels schon heute zeigen, ist das Thema immer noch so abstrakt, dass man damit keine Wahlen gewinnen kann - vor allem, weil die Entscheidungsträger die härtesten Konsequenzen wahrscheinlich nicht mehr erleben werden. Entsprechend haben sich die Aktivisten aus Hannover mit ihrer Ausladung der Musikerin Ronja Maltzahn auch ziemlich in die Nesseln gesetzt - denn man kann sich nicht dem Anti-Rassismus verschreiben, gleichzeitig aber Personen aufgrund ihrer Frisur und Hautfarbe ausschließen. Und man kann einer Person nicht mangelnden Respekt an anderen Kulturen unterstellen und ihr im gleichen Atemzug vorschreiben, was sie mit ihren Haaren zu machen hat. Nun habe ich ja bereits einen Artikel geschrieben, in dem ich erklärt habe, wie ich zu dem Thema Cultural Appropriation, also kulturelle Aneignung, stehe. Und ich wiederhole: Selbstverständlich kann ich verstehen, dass Minderheiten über die Entfremdung ihrer kulturellen Attribute nicht gerade erfreut sind - aber anstatt darüber zu diskutieren, schafft man nur wieder jene Barrieren, die man ursprünglich mal einreißen wollte. Und ganz nebenbei spricht man wieder für eine marginalisierte Gruppe, die eigentlich auch ganz gut für sich selbst sprechen könnte - denn soweit ich mitbekommen habe, sind viele BPoC gar nicht erfreut darüber, dass weiße Jugendliche wieder mal über ihren Kopf hinweg über ihre Befindlichkeiten entschieden haben, sie aber jetzt mit den Konsequenzen konfrontiert werden. Im Wesentlichen passiert genau das, was ich vor gut einem Jahr schon kritisiert habe: Nämlich, dass ein Thema, das eigentlich angesprochen werden müsste, inzwischen wieder zu einer dieser ewigen "Wer-nicht-für-uns-ist-ist-gegen-uns"-Debatten geführt hat. Und dass genau das getan wird, was Rechten so gerne vorgeworfen wird: Nämlich, Kultur und Hautfarbe als etwas Statisches, Unveränderliches, klar Abgrenzbares zu definieren, selbst wenn man einem Menschen die ethnische Herkunft nicht immer gleich ansieht. Muss also das hellhäutige Kind einer Person of Colour in Zukunft einen Abstammungsnachweis mit sich führen, um nicht aufgrund seiner Frisur in den Verdacht zu geraten, kulturelle Aneignung zu betreiben?

Und dabei sollten wir inzwischen alle begriffen haben, dass verfilzte Haare in der Menschheitsgeschichte nicht ausschließlich Schwarzen vorbehalten waren, sondern auf allen Kontinenten und in allen ethnischen Gruppen getragen wurden und werden - etwa am spanischen Hof im 16. Jahrhundert, von aztekischen Priestern, den indischen Sikhs und muslimischen Derwischen. Dass sich die Vorstellung manifestiert hat, Dreadlocks seien ausschließlich ein Ausdruck Schwarzer Identität, ist eine popkulturelle Referenz, die ihren Ursprung in der jamaikanischen Rastafari-Kultur hat - einer religiös motivierten Protestbewegung des frühen 20. Jahrhunderts, die später vor allem durch Bob Marley und andere Reggae-Musiker bekannt gemacht wurde. Und dabei entspricht diese Subkultur keineswegs dem woken Ideal, mit dem sich Communities wie Fridays for Future so gerne schmücken - denn das Weltbild der Rastafaris ist extrem patriarchal und homophob. Versteht mich nicht falsch - ich höre selbst gerne Reggae, aber bisweilen irritiert mich doch, wie sehr diese Aspekte immer wieder ausgeblendet werden. Ebenso, wie in der aktuellen Debatte kaum darauf eingegangen wird, dass es keine homogene "schwarze" Kultur gibt - und dass in vielen ethnischen Gruppen Afrikas südlich der Sahara Dreadlocks verpönt sind. Und auch Afrikaner, die sich Dreadlocks stehen lassen, tun dies nicht immer aus kulturellen, sondern bisweilen aus rein ästhetisch-modischen Gründen - was man ebenfalls als "kulturelle Aneignung" verstehen könnte. Und Malcolm X, der Initiator der Black-Panther-Bewegung, sah Dreadlocks als Verleugnung der eigenen Identität, da diese dem Afro-Haar seine Sichtbarkeit nähmen. Im übrigen möchte ich an dieser Stelle anmerken, dass weiße Dreadlock-Träger zwar keine Opfer von Rassismus werden, dass sie aber ebenfalls mit Diskriminierung konfrontiert werden - ob in der Gesellschaft, im Beruf oder auch dadurch, dass sie von der Polizei eher kontrolliert werden als Menschen, die keine Dreadlocks tragen. Klar kann man einwenden, dass Dreads freiwillig getragen werden - aber vielen geht es eben gerade darum, sich diskriminierten Gruppen anzunähern und sich durch ein gewisses Äußeres mit ihnen zu solidarisieren.

Das ist auch der Grund, warum ich bisweilen ein wenig mit meiner Zugehörigkeit zum linken Lager hadere - während die Rechten sich gegen einen "gemeinsamen Feind" größtenteils einig sind, erklären wir unsere Gesinnungsgenossen selbst zum Feind, indem wir versuchen, uns gegenseitig im "Wokesein" zu übertrumpfen und dabei all jene abwerten, die uns nicht zu hundert Prozent nach dem Mund reden. Dabei schießen viele gern über das Ziel hinaus, indem sie allen, bei denen sie Attribute einer anderen Kultur entdecken, pauschal die Fähigkeit absprechen, dieser Respekt entgegenzubringen - und somit aktiv erneut an einer Entfremdung der Kulturen untereinander arbeiten. Dabei vereint Ronja Maltzahn in ihrer Band Künstler aller Kontinente und Kulturen und setzt sich für Diversität und gegenseitige Akzeptanz ein. Und auch auf die Ausladung von FfF Hannover reagierte die 28jährige wesentlich erwachsener als viele, die wesentlich älter sind als sie. Im Großen und Ganzen zeigt sich hier aber eines der Hauptprobleme von FfF - nämlich, dass diese Organisation sich größtenteils aus Menschen zusammensetzt, denen es an Lebenserfahrung fehlt und an Kompetenz, auf die Realität von Menschen einzugehen. Und das meine ich überhaupt nicht böse - im Gegenteil, ich habe früher auch Sachen geglaubt, von denen ich heute weiß, dass sie nicht haltbar sind. Denn als Jugendlicher und junger Erwachsener denkt man, man sei klüger als die meisten anderen und habe die perfekte Lebensformel gefunden, die man sofort aller Welt überstülpen will. Andererseits brauchen wir auch die Energie, Naivität und Leidenschaft der Jugend, um unsere Gesellschaft voranzubringen. Und gerade deswegen ist es auch wichtig, nicht auf den Zug der Konservativen aufzuspringen und alle FfF-Aktivisten als faule Schulschwänzer zu beschimpfen, sondern als gesellschaftliches Korrektiv einzugreifen, wenn diese sich etwas zu weit aus dem Fenster lehnen. Denn letztendlich braucht es uns alle, um etwas zu verändern.

vousvoyez