Donnerstag, 24. März 2022

Ist Klavierspielen eigentlich rassistisch, weil es mehr weiße als schwarze Tasten gibt?

Photo by Sarah Brown on Unsplash
Zugegeben, das geht schon mehr in Richtung mehr als nur flach. Keine Ahnung, warum ich den damals so lustig fand, dass ich ihn sogar zur Weisheit der Woche kürte, aber egal - einmal geäußerte Weisheiten müssen auch genutzt werden. Ich denke, dass ich einfach wieder mal genervt war davon, dass es für manche Leute offenbar nur Schwarz und Weiß gibt - und Differenzierung da keinen Platz hat. Aber okay, neue Ideen durchleben immer eine Zeit der Extreme, und ich hoffe, dass sich das irgendwann einmal einpendelt und Platz für eine gewisse Meinungsvielfalt ist. Zumindest eine, die ohne Menschenfeindlichkeit auskommt.

In meiner Trilogie zur Rechtsesoterik habe ich ja ziemlich ausführlich auf die Schnittpunkte zwischen Esoterik, der Hippie-Ideologie und Rechtsextremismus verwiesen. Gleichzeitig habe ich auch ein wenig erklärt, warum der sonnenselige Hippie-Traum von Liebe und Frieden ziemlich schnell ausgeträumt war und dabei auf toxische Gruppierungen verwiesen, welche diesen unter anderem zerstörten. Heute möchte ich auf eine von ihnen eingehen, weil ich kürzlich einen recht spannenden Podcast dazu gehört habe und Lust hatte, mich ein wenig damit auseinanderzusetzen. Also habe ich beschlossen, dies mit euch zu teilen. Deswegen möchte ich heute ein wenig näher auf Charles Manson und seine berüchtigte "Familie" eingehen.

Charles Manson wird gerne als einer der berüchtigtsten Serienkiller bezeichnet - dabei wird allerdings oftmals vergessen, dass er kein Mörder im klassischen Sinne war. Tatsächlich haben zwar einige Menschen durch seine Schuld auf grausame Art und Weise ihr Leben verloren, aber er hat keinen von ihnen eigenhändig umgebracht - er war bei den Morden nicht einmal persönlich zugegen. Trotzdem wird er bis heute als der Inbegriff des Bösen gehandelt, hatte bis zu seinem Tod eine beachtliche Fanbase und ist aus der Popkultur auch heute nicht mehr wegzudenken. Deswegen möchte ich heute der Frage nachgehen, wer er eigentlich war und versuchen, mal ein bisschen eine andere Perspektive aufzuzeigen.

Charles Miles Maddox wurde 1934 in Cincinnati, Ohio als uneheliches Kind der sechzehnjährigen Kathleen Maddox geboren. Ein paar Monate nach der Geburt ihres Kindes heiratete sie William Manson, dessen Nachnamen Charles annahm - seinen leiblichen Vater lernte er nie kennen. Kathleen entstammte wohl selbst einer eher verwahrlosten Familie und war wohl keine Person, der man ein kleines Kind anvertrauen würde - fünf Jahre nach der Geburt ihres Sohnes wurde sie wegen bewaffneten Raubüberfalls inhaftiert, der Junge kam in dieser Zeit bei Verwandten unter. Nach ihrer Entlassung lebte sie mit Charles in heruntergekommenen Hotels, hatte Alkoholprobleme und zahlreiche Affären. Mit zwölf kam Manson in ein Erziehungsheim, wo er als launenhaft, nicht anpassungsfähig und wenig lernbereit eingestuft wurde, außerdem attestierte man einen Verfolgungswahn. Bis er zwanzig war, verbrachte er die meiste Zeit in verschiedenen Jugendstrafanstalten und Gefängnissen, dazwischen brach er immer wieder aus und war an verschiedenen Raubüberfällen beteiligt. Man erkennt also, dass er eine sehr instabile Kindheit hatte und schon früh kriminelles Verhalten zeigte; die wichtigste Überlebensstrategie für ihn war jedoch manipulatives Verhalten, das er sich schon sehr früh aneignete und das bis zu seinem Tod sein hervorstechendes Merkmal bleiben würde. Die schwierige Kindheit ist selbstverständlich keine Entschuldigung für seine Taten - sie zu verstehen, hilft jedoch dabei, ihn als Menschen adäquat einordnen zu können. Mit etwa achtzehn schien er sich jedoch zu rehabilitieren - er brachte sich selbst Lesen und Schreiben bei und ging zum ersten Mal einer geregelten Arbeit nach. Am 8. Mai 1954 wurde er wegen guter Führung auf Bewährung entlassen.

1955 heiratete er, seine Frau wurde schon bald schwanger, und er versuchte, sich ein halbwegs solides Leben aufzubauen - eine Ambition, die jedoch nicht lange vorhielt, und so landete er bald wieder im Gefängnis. Seine Frau lernte inzwischen einen anderen Mann kennen und ließ sich scheiden, auch zu seinem Kind hatte er von da an keinen Kontakt mehr. Auch seine zweite Ehe hielt nicht lange, dazwischen verdingte er sich als Zuhälter und verstieß mehrmals gegen die Bewährungsauflagen, so dass er 1961 eine zehnjährige Haftstrafe antreten sollte. In dieser Zeit beschäftigte er sich mit der Scientology-Lehre und lernte, auf der Gitarre zu spielen. Mitte der 1960er Jahre entdeckte er die Beatles und ihre Musik, die seinen Bestrebungen eine neue Richtung gaben - die ungeheure Popularität der vier jungen Liverpooler und die riesige Masse an Fans, die sie anzogen, erweckten in dem 1,57 m kleinen Häftling den Wunsch, ebenfalls ein berühmter Musiker zu sein und Menschenmassen zu begeistern, und er begann, zu komponieren - nach den Morden nahm er während seiner Haft sogar ganze Alben auf. Im März 1967 wurde er vorzeitig entlassen - er war 32 Jahre alt und hatte mehr als die Hälfte seines Lebens in Besserungsanstalten und Gefängnissen verbracht. Es überrascht also nicht, dass er in Gefangenschaft besser zurechtkam als in Freiheit.

Als Manson entlassen wurde, war die Hippie-Ära gerade auf ihrem Höhepunkt. Die Jugend suchte nach Orientierung, stellte die Werte der konservativen Gesellschaft in Frage, wollte Freiheit, lehnte sich auf, suchte nach neuen Regeln und Werten und war entsprechend auch für vieles offen. Dies waren ideale Bedingungen für Manson - vertraut mit manipulativem Verhalten, erfasste er intuitiv sehr schnell, auf welche Weise er dadurch seine persönlichen Vorteile ziehen konnte. Also ging er nach Berkeley, verdingte sich dort als Bettler und Straßenmusiker und lernte schließlich die 23jährige Bibliotheksgehilfin Mary Brunner kennen, bei der er einzog und die in Folge das erste Mitglied der Manson Family wurde - außerdem war sie die Mutter seines dritten Sohnes. Ihr folgte die neunzehnjährige Obdachlose Lynette Fromme, genannt "Squeaky". Den Sommer 1967, in der Popkultur als "Summer of Love" bekannt, verbrachte Manson mit ihnen und ein paar anderen in Haight-Ashbury, einem der Zentren der Hippie-Kultur. Sie praktizierten "freie Liebe", machten Musik, lebten von dem Gratis-Essen, das von gemeinnützigen Organisationen verteilt wurde, und nahmen natürlich auch Drogen - vor allem LSD. Von Anfang an pickte sich Manson die jungen Leute, vor allem Mädchen und Frauen, heraus, die aus problematischen Familienverhältnissen kamen und nach einer Vaterfigur suchten, wobei er es verstand, sich ihre Naivität zunutze zu machen. In meinem Artikel über Wahrsagen habe ich ja erklärt, was Cold Reading bedeutet - in etwa so ist auch Manson vorgegangen, und so gelang es ihm, eine Gruppe junger Frauen und ein paar Männer um sich zu scharen, die bereit waren, ihm überallhin zu folgen, ohne ihn je in Frage zu stellen. Sie reisten zuerst in einem VW-Bus, dann in einem schwarz angemalten Schulbus durch verschiedene Bundesstaaten der USA - wie es damals halt bei vielen so üblich war. Unterwegs sammelten sie etliche weitere Anhänger und Innen ein, die Jüngste war erst vierzehn - und Manson schaffte es tatsächlich, nach ein wenig LSD ihren Vater davon zu überzeugen, sie bei ihm zu lassen. Ende November, Anfang Dezember 1967 zog die "Familie" in ein Haus im Topaga Canyon im Los Angeles County, das einer Satanistin gehörte.

Das vielleicht Merkwürdigste an Manson ist, dass seine Weltanschauung nicht so recht zur gängigen Hippie-Philosophie zu passen schien. So hielt er beispielsweise absolut nichts von der damals allmählich erstarkenden Frauenbewegung, im Gegenteil - er war der Ansicht, dass sich die Frau dem Mann klaglos unterzuordnen und ihm zu dienen habe und dass Frauen ganz allgemein keine Seele hätten. Da er jedoch die Herrscher- in eine Beschützerrolle umdeutete, konnte er seine Anhängerinnen davon überzeugen, dass alles nur zu ihrem Besten geschehe. Und da er die Schwachpunkte anderer schnell erkannte, schuf er schon bald eine sektenartige Struktur innerhalb seiner "Family", die er mit strenger Autorität führte; neue Mitglieder wurden mit Hilfe von Drogen und Sex angeworben und gefügig gemacht. Außerdem war Mansons Philosophie zutiefst rassistisch: Er prophezeite, dass die schwarzen Amerikaner 1969 einen Aufstand beginnen und in den Villen reicher Weißer grausame Morde begehen würden, die nur die Manson Family überleben würde. Da die Schwarzen jedoch zu dumm seien, um ihren Herrschaftsstatus aufrecht zu erhalten, würden sie irgendwann einmal ihn, Charles Manson, freiwillig mit der Weltherrschaft betrauen. Er lockte also mit dem üblichen Versprechen: der Zugehörigkeit zu einem exklusiven "Club", der allen anderen überlegen sei. Um die vollständige Unterwerfung all seiner Anhänger zu gewährleisten, sortierte Manson allerdings immer wieder Mitglieder aus, die es wagten, etwas von ihm in Frage zu stellen - auf diese Weise blieben nur diejenigen übrig, die ihn kritiklos anbeteten und ihm widerspruchslos folgten. Denen erzählte er dann, dass er Jesus und Satan in einer Person sei sowie die Wiedergeburt von Aleister Crowley.

Viele Anhängerinnen Mansons schafften Geld und Nahrungsmittel durch Prostitution herbei, außerdem schickte er immer wieder die Hübschesten von ihnen aus, um neue Mitglieder anzuwerben. So lernten zwei seiner Mädchen beim Trampen Dennis Wilson, den Schlagzeuger der Beach Boys, kennen, und machten ihn mit Manson bekannt. Die beiden philosophierten, nahmen gemeinsam Drogen, machten Musik und schrieben Songs miteinander; in Folge nahmen er und seine Brüder ein Demo-Band mit Manson auf. Die Manson Family nistete sich außerdem in Wilsons Villa am Sunset Boulevard ein und ließ sich von ihm durchfüttern. Mansons musikalische Ambitionen hingen wohl mit seiner narzisstischen Persönlichkeit zusammen - zur damaligen Zeit sind ja nicht nur die Beatles, sondern auch viele andere junge Musiker mit ihrem Talent sehr erfolgreich geworden, und er erhoffte sich ebenfalls einen Platz in diesem Olymp. Wie viele, die aus einem Umfeld stammen, das gesellschaftlich geächtet wird, war es sein Ziel, eines Tages reich und berühmt zu sein. Gleichzeitig baute er die Beatles sehr in seine Phantasiegeschichten mit ein - vor allem ihr Weißes Album hatte es ihm angetan, auch wenn es nach meinem Dafürhalten nicht unbedingt ihr bestes ist. In seiner "Lehre" bezog er sich auf viele Songs gerade aus diesem Album. So bezeichnete er seine apokalyptischen "Visionen" eines Rassenkrieges in Anlehnung an einen dieser Songs als "Helter Skelter", während er das Lied "Piggies" auf dessen angebliche Opfer, die Oberschicht, bezog. Außerdem behauptete er, die Beatles würden als die vier apokalyptischen Reiter ihn und alle Mitglieder der Manson Family zusammen mit Jesus in die ewige Seligkeit führen. Bei der Methode, sie gefügig zu machen, spielten auch Drogen eine nicht unwesentliche Rolle - vor allem LSD, mit dessen Hilfe er ihr Bewusstsein und ihre Empfindungen veränderte. Dabei nahm er insgeheim nie so viel wie die anderen, um den Eindruck absoluter Selbstkontrolle zu erwecken. Und so schaffte er es, sie glauben zu machen, was sie vorher nie geglaubt hatten, und zu tun, was sie sonst nie getan hätten - und je mehr ihrer persönlichen Grenzen er zerstörte, desto leichter war es für ihn, sie dazu zu bringen, zu tun, was er wollte.

Über Dennis Wilson lernte Manson den Musikproduzenten Terry Melcher, Sohn der Sängerin und Schauspielerin Doris Day, kennen. Dieser zeigte zwar Interesse an seiner Musik, doch das reichte nicht aus, ihn tatsächlich unter Vertrag zu nehmen. Dafür übernahmen die Beach Boys die Melodie seines Songs Cease to Exist, der Text wurde jedoch stark verändert und trug am Ende den Titel Never Learn Not To Love. Das waren wohl die beiden stärksten narzisstischen Kränkungen, die Manson zugefügt wurden - auf der einen Seite der Produzent, der ihm den Plattenvertrag verwehrte, auf der anderen Seite die Band, die einen seiner Songs übernahm und ihn nicht einmal als Autor erwähnte. Wie alle Betrüger, so schätzte auch er es nicht, wenn er auf einmal der Betrogene war, und Gerechtigkeit war in seiner Welt nur das, was für ihn selbst gerecht war. Nun kann man natürlich spekulieren, was gewesen wäre, wenn es anders gekommen wäre, aber das hat wenig Sinn - im Großen und Ganzen kann man aber sagen, dass diese Kränkungen offenbar etwas in ihm ausgelöst hatten: Als er begriff, dass er nicht Superstar werden konnte, beschloss er, stattdessen als Superschurke in die Geschichte einzugehen und sich gleichzeitig zu rächen.

Mitte 1968 zog die Family auf die Spahn Movie Ranch, ein Filmgelände in der Nähe von Los Angeles, das vor allem für Westernfilme sehr beliebt war. Es hatten sich inzwischen psychische und physische Gewalt in die Kommune eingeschlichen, vor allem aber wuchs die Gewalt gegen Außenstehende. Der erste Mord an dem Musiklehrer Gary Hinman war wohl so etwas wie ein Test, der zeigen sollte, wie weit zu gehen Mansons Anhänger bereit waren. Mansons zutiefst instabiler Charakter zeigte sich vor allem dadurch, dass er immer die absolute Bestätigung von seinen Anhängern forderte und mit dieser dennoch nie zufrieden war. Es ging ihm eigentlich nur darum, sich selbst aufzuwerten, indem er seinen Anhängern den liebenden Vater vorspielte - in Wirklichkeit waren sie ihm aber vollkommen egal, und sie waren auch austauschbar. Er bestimmte alles, was innerhalb der Kommune geschah, einschließlich der Frage, wer mit wem Sex haben durfte, und wer kritische Fragen stellte, wurde aussortiert. Eine tiefgründige Philosophie schuf er nicht, und ich bin mir auch nicht sicher, ob er auch nur die Hälfte von dem, was er verzapft hat, tatsächlich auch selbst glaubte. Er hat aber ganz offensichtlich recht gut begriffen, dass Sekten immer mit einem gewissen Eliteversprechen arbeiten - und Rassismus war in der damaligen Zeit auch nichts Ungewöhnliches. Den Mord an Hinman ließ er einen seiner wenigen männlichen Anhänger, den Musiker Bobby Beausoleil, ausführen, nachdem er selbst den Raum verlassen hatte - er wollte zwar Macht über Leben und Tod, hatte aber kein Interesse daran, selbst Hand anzulegen. Nach dem Mord schrieben sie mit Hinmans Blut "Political Piggy" an die Wände. kurz darauf wurde Beausoleil gefasst und in Untersuchungshaft genommen.

Inzwischen war Wilson aus seiner Villa in Bel Air ausgezogen, sein Management hatte die Manson Family vor die Tür gesetzt; nachdem Manson mit der Entführung seines Sohnes gedroht hatte, beschlossen er und Melcher, für eine Weile unterzutauchen. Melcher vermietete sein Haus an den Regisseur Roman Polański und dessen schwangere Ehefrau Sharon Tate, deren Gesicht vielen von uns sicher noch aus dem Film Tanz der Vampire bekannt ist. In der Nacht vom 8. auf den 9. August 1969 drangen vier Mitglieder der Manson Family gewaltsam in das Haus ein; Polański weilte noch in London, Tate war mit Freunden in dem Haus. Sie alle wurden mit Messerstichen und Schüssen auf bestialische Weise ermordet, nachdem sie zuvor einen jungen Mann getötet hatten, der mit dem Hauswart befreundet und zufällig gerade anwesend war. Sharon Tate soll ihre Mörder noch vor ihrem Tod angefleht haben, wenigstens ihr Kind zu verschonen - anschließend schrieb Susan Atkins, die Manson auf einer Party in Haight-Ashbury kennen gelernt hatte, mit dem Blut der Schauspielerin "PIG" an die Haustür. Manson waren hier ganz offensichtlich nicht die Opfer wichtig, sondern der Schauplatz - außerdem wollte er wohl auf diese Weise die von ihm vorausgesagten Rassenunruhen provozieren und gleichzeitig eine Atmosphäre der Angst schaffen. Außerdem griff er die aktuelle Stimmung in der Gesellschaft auf, denn die Angst vor einem Bürgerkrieg war damals allgegenwärtig. Einen Tag später ermordeten ein paar Mitglieder der "Family" das erfolgreiche Unternehmer-Ehepaar Leno und Rosemary LaBianca in ihrem Haus in Los Feliz, Los Angeles. In Leno LaBiancas Bauchdecke war das Wort "WAR" geritzt worden, in seiner Kehle steckte ein Brotmesser, in seinem Bauch eine Gabel. Auf dem Kühlschrank standen mit Blut die Worte "Healter Skelter", an den Wänden waren "Rise" und "Pigs" hinterlassen worden. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass Rosemary LaBiancas Geldtasche in einem Schwarzenviertel deponiert worden war, damit die Leute dort ihre Kreditkarten benutzten und man ihnen die Morde anlasten konnte. Der Grund, warum ausgerechnet die LaBiancas ausgewählt wurden, die die Mansons nur vom Sehen kannten, ist bis heute unklar - möglicherweise wollte Manson damit signalisieren, dass niemand vor ihm sicher war.

Eine Woche später wurden einige Mitglieder der Manson Family wegen Autodiebstahls festgenommen. Manson verdächtigte den Stuntman Donald "Shorty" Shea, sie verraten zu haben - nach der Entlassung der Family-Mitglieder verschwand er spurlos, seine Leiche wurde jahrelang nicht gefunden. Am 12. Oktober wurde die Manson Family bei einer Razzia festgenommen, nachdem sie eine Straßenbaumaschine angezündet hatten, und wegen Brandstiftung und schweren Diebstahls angeklagt. Eine Woche nach ihrer Inhaftierung stellte sich heraus, dass Susan Atkins vor zwei ihrer Mitgefangenen mit ihrer Beteiligung an den Tate- und LaBianca-Morden angegeben hatte - schon bald konnte man ihnen die Urheberschaft daran nachweisen, ebenso wie an dem Mord an Gary Hinman und dem Verschwinden von Donald Shea. Selbst in dieser Situation hatte Manson seine "Jünger" noch fest im Griff, und es war auch offensichtlich, dass sie die meiste Zeit unter dem Einfluss von Drogen standen, die während der Verhandlung ins Gefängnis geschmuggelt worden waren. Während des Prozesses ritzte sich Manson ein X auf die Stirn - symbolisch dafür, dass er sich aus der Gesellschaft ausgestrichen hatte -, was seine Anhänger sofort nachmachten. Im Prozessverlauf wandelte er dieses X in ein Hakenkreuz um, das bis zu seinem Tod sehr prominent zu sehen war. Am 29. März 1971 wurden die Angeklagten zum Tode in der Gaskammer verurteilt - nach der Abschaffung der Todesstrafe 1972 wurde die Strafe in lebenslänglich umgewandelt. Manson starb 2017 im Alter von 83 Jahren im California State Prison Corcoran an Darmkrebs.

Auffällig ist, dass er auch während seiner Zeit im Gefängnis noch Anhänger generierte - und das, während viele Mitglieder der Family zu ihrer Haftzeit anfingen, sich zu distanzieren und ihre Taten zu bereuen. Tatsächlich haben manche von ihnen eine erstaunliche Entwicklung hinter sich, wurden erwachsen und reflektiert - was natürlich das, weswegen sie in Haft sind, nicht relativiert, aber vielleicht hilft es anderen, daraus zu lernen und ein wenig vorsichtiger zu sein. Wobei ja nicht alle Menschen in gleichem Maße anfällig sind für Manipulation - deswegen selektierte Manson seine Mitglieder auch immer wieder und fokussierte sich vor allem auf junge, unerfahrene Menschen mit problematischem familiärem Hintergrund, die er mit Hilfe gruppendynamischer Methoden in Verbindung mit Drogen gefügig machte. Auf diese Weise brachte er zu dem Punkt, an dem sie nicht mehr hinterfragen konnten, da sie sonst nicht mehr Teil jener "Familie" gewesen wären, bei der sie ein Zuhause gefunden hatten - emotionale Erpressung, wie es in vielen Sekten auch üblich ist. Auch diejenigen, die die Morde begingen, wurden schon sehr genau ausgewählt - und das waren vor allem jene, die sich schon in hinreichendem Maße abhängig gemacht hatten. Der ideologische Part tat dabei sein übriges - sie wussten sehr wohl, dass das, was sie taten, falsch war, aber sie taten es ja sozusagen für einen "höheren" Zweck, und deswegen waren sie in diesem Moment überzeugt, etwas Gutes zu tun. Etwas Ähnliches hatten wir ja beispielsweise auch bei dem Mord in Idar-Oberstein: Der Täter war überzeugt, zu den "Guten" zu gehören, aber um ein Ziel zu erreichen, das er für "gut" befand, musste er etwas Schlechtes tun.

Doch obwohl die meisten ehemaligen Mitglieder der Familie sich im Gefängnis von ihm abwandten, gab es noch diejenigen, die unverbrüchlich zu ihm hielten - allen voran die bereits schon erwähnte Lynette Fromme, die bei den Morden interessanterweise nie dabei war und deshalb natürlich auch nicht mit den anderen inhaftiert wurde. Sie fungierte nach den Verhaftungen immer noch als sein Sprachrohr, und der missglückte Anschlag auf US-Präsident Gerald Ford hatte im Großen und Ganzen nur das Ziel, ins Gefängnis zu kommen und ihrem "Guru" nahe zu sein. Sie kam aus einer der kaputtesten Familien und schaffte es offenbar nie, aus der Rolle, die ihr zugeteilt wurde, herauszukommen - bis heute erklärt sie in Interviews, dass sie Manson liebt und dass er ihr Gott ist. Und es gab noch Jahre später neue Fans, beispielsweise Afton Elaine Burton, die sich "Star" nannte und Manson jahrelang Briefe ins Gefängnis schrieb, ihn sogar heiraten wollte - sie sieht der 2009 verstorbenen Susan Atkins äußerlich sehr ähnlich und war zumindest zu Mansons Lebzeiten in ihrem Verhalten ein Abbild der Frauen aus der Manson Family, die alle sehr kindlich wirkten. Das war auch genau Mansons Beuteschema, denn bei erwachsenen, selbstbewussten Frauen wäre er niemals so erfolgreich gewesen. Die Frage ist, ob sich "Star" ihrem Idol unbewusst untergeordnet hat oder ob sie, genauso wie er, ebenfalls eine Betrügerin gewesen ist - es gibt ja den Verdacht, dass sie nach seinem Tod Anspruch auf seinen Leichnam erheben wollte, um auf diese Weise Geld zu verdienen.

Das vielleicht wirklich Tragische an der ganzen Geschichte ist, dass Manson im Gefängnis genau das bekommen hat, was er immer schon wollte - nämlich Aufmerksamkeit. Da er den Großteil seines Lebens in Gefängnissen verbracht hatte, war er in Haft möglicherweise glücklicher als in Freiheit - und zusätzlich hatte er auch noch eine riesige Fanbase. Die größte Strafe für ihn wäre mit Sicherheit gewesen, wenn er gänzlich in Vergessenheit geraten wäre, aber daran war von Anfang an nicht zu denken - schon der Prozess war von gewaltigem öffentlichem Interesse, und Manson wusste sehr genau, dass sein Ruhm noch über seinen Tod hinausreichen wurde. Tatsächlich wird der Manson-Kult von Generation zu Generation weitergetragen - schon in den 1970er Jahren wurden Merchandise-Artikel mit seinem Konterfei verkauft, an denen er teilweise sogar mitverdiente, bis heute wird er immer wieder als düstere Ikone der Popkultur und Personifikation des absolut Bösen stilisiert, viele berühmte Musiker bedienten sich an seinen Songs oder Zitaten. Brian Warner wählte sogar seinen Künstlernamen, indem er den Vornamen der Schauspielerin Marilyn Monroe mit dem Nachnamen von Charles Manson verknüpfte, um als Marilyn Manson zwei Extreme der Popkultur einander gegenüberzustellen. Wobei ich zugeben muss, dass ich seine Musik eine Zeitlang rauf und runter gehört habe. Auch Guns N'Roses haben eine Zeitlang ziemlich intensiv mit Mansons Image kokettiert - sie coverten seinen Song Look At Your Game, Girl, und Sänger Axl Rose trat mit einem T-Shirt auf, auf dem sein Gesicht aufgedruckt war. Und auch Manson selbst wurde im Gefängnis ziemlich oft interviewt und zierte die Titelseiten von Life und Rolling Stone, man schrieb Bücher und drehte Filme über ihn.

Auch im Gefängnis trieb er sein Spiel weiter - er war nicht so dumm, zu glauben, dass er bei Berufungsverhandlungen eine Chance hätte, aber sie gaben ihm die Gelegenheit, weiterhin die Rolle des Unverstandenen zu spielen. Viele haben sich von seinen seltsamen Äußerungen angesprochen gefühlt, andere haben sich darüber aufgeregt - im Grunde genommen hat er sie aber alle verarscht. Ich finde, man sollte ihn als das sehen, was er war - eben ein lupenreiner Betrüger und keiner, den man bewundern sollte. Nicht nur, weil er für diese grausamen Morde verantwortlich war, sondern auch, weil er sich eigentlich ziemlich feige verhalten hat: Er hat Menschen zu Morden angestiftet, bei denen er nicht einmal zugegen war; er hat diejenigen vorgeführt, die ihm gegenüber absolut loyal waren; er hat seinen Anhängerinnen sogar noch während der Gerichtsverhandlung so sehr manipuliert, dass sie alle Schuld auf sich nahmen. In Wirklichkeit war er ein Opfer, das sich aufgespielt hat, als wäre es mächtig, das aber niemals authentisch war - und in das alle hineinprojizieren konnten, was sie wollten. Er hatte noch nicht einmal die Stärke, die Taten, zu denen er andere angestiftet hatte, selbst mit anzusehen - eine Schwäche, die er bis an sein Lebensende zu vertuschen suchte. Bis zu seinem Tod ist der kleine Junge geblieben, der von seiner Mutter verstoßen wurde und der sich nie wertvoll gefühlt hat. Das sollten wir uns alle vor Augen halten, und das ist auch der Grund, warum ich diesen Artikel geschrieben habe: Damit wir endlich aufhören, Charles Manson als Ikone zu sehen, und anfangen, ihn als das zu sehen, was er wirklich war - nämlich ein Betrüger. Ich weiß, dass ich nicht genügend Reichweite habe, um ein breites Umdenken zu bewirken, aber wenn ich zumindest einen klitzekleinen Teil dazu beitragen kann, dann hat es sich gelohnt.

vousvoyez

Mittwoch, 16. März 2022

Was wollten diejenigen, die versucht haben, den Reichstag zu stürmen, dort eigentlich machen - ein Furzkissen auf Merkels Sitz legen?

© vousvoyez
Diese Frage habe ich mir auch schon oft gestellt. Wobei mir auffällt, dass gerade diejenigen, die bei uns eine Revolution anzetteln wollen, häufig keinen Plan von nichts haben - sie fordern zwar, haben aber meist keine Ahnung, wie das, was sie wollen, überhaupt funktionieren soll. Das macht das Ganze auch so gefährlich - diese Leute wollen vehement etwas durchsetzen, das nicht möglich ist, und weil sie ihr Ziel nicht erreichen können, werden sie aggressiv. Das Ergebnis hat man schon öfter gesehen - beispielsweise eben vor anderthalb Jahren, als in Deutschland einige meinten, den Reichstag stürmen zu müssen. Was sie dort aber zu tun gedachten, hätte mich tatsächlich auch interessiert. Ich fürchte allerdings, dass sie es selbst nicht so genau wissen

Für viele dieser Leute scheint ja Verschwörungsglaube so eine Art Ersatzreligion geworden zu sein. Ich habe ja darüber gesprochen, dass viele mehr oder weniger nach einer Art Glaubensersatz suchen - und das eigentlich schon seit geraumer Zeit. Ich habe in meiner Jugend viele Romane von Jack Kerouac gelesen, in denen es ja bis zu einem gewissen Grad auch um die Gottsuche ging - was für ihn allerdings in Trunksucht und Desillusionierung geendet hat. Ich bin inzwischen über diese Bücher hinausgewachsen, aber irgendwie ist für mich offensichtlich, dass sie meine Art zu schreiben auch ein Stück weit beeinflusst haben - auch wenn das anderen vielleicht nicht so auffällt. Wie auch immer, jedenfalls hat diese Suche nach einem neuen Glauben sicherlich auch sehr viel damit zu tun, dass die Religionen, mit denen wir aufgewachsen sind, uns nicht mehr das bieten können, wonach wir uns sehnen. Ich bin beispielsweise, wie die meisten von euch schon wissen, katholisch erzogen worden - wie die meisten Kinder in Österreich. Allerdings ist ebenso bekannt, dass die katholische Kirche schon seit geraumer Zeit mit Imageproblemen zu kämpfen hat - beispielsweise durch die vielen vertuschten Fälle von Kindesmissbrauch, die erst so nach und nach ans Licht kommen. Was natürlich auch bewirkt, dass sich immer mehr Leute von dieser Glaubensrichtung abwenden, selbst wenn sie nach wie vor gläubig bleiben.

Ein weiterer Aspekt, der ein eher düsteres Licht auf die katholische Kirche wirft, ist aber auch deren Umgang mit apotropäischen Handlungen - also mit dem, was in unserem Kulturkreis als Exorzismus bezeichnet wird. Nun ist ja das Austreiben von Teufeln, Dämonen und Geistern nichts, was lediglich der katholischen Glaubensgemeinschaft geläufig ist - apotropäische Handlungen waren schon im alten Ägypten geläufig. So stammt der erste dokumentierte Exorzismus von der Bentresch-Stele, einer Inschrift auf einer Sandsteintafel, welche 1828 im Karnak-Tempel in Luxor gefunden wurde und heute im Louvre in Paris besichtigt werden kann. Im Gegensatz zu dem, was wir aus der Populärkultur kennen, wird der Exorzismus hier noch verhältnismäßig sanft beschrieben - auch geht es nicht um die Austreibung von etwas, das als nicht religionskonform identifiziert wird, wie wir es etwa aus der katholischen Kirche kennen. In Verbindung mit antikem Exorzismus ist übrigens auch der antike griechische Philosoph Apollonius von Tyana eine interessante Figur: Er wird in vielen Kreisen als eine Art Gegenentwurf zu Jesus Christus dargestellt, da manche heute glauben, dass viele seiner Wundertätigkeiten heute Jesus zugeschrieben werden - was nicht ungewöhnlich wäre, immerhin war es bei der Bibel üblich, sich fleißig an anderen Quellen zu bedienen und deren Inhalte in biblischen Kontext zu stellen.

Nun ist unser Bild von Exorzismus heutzutage, wie schon gesagt, ehr von der Popkultur geprägt - speziell von Filmen wie etwa Der Exorzist von William Friedkin und William Peter Blatty, den ich ja schon öfter erwähnt habe. Wobei man Filme natürlich auch, wie ich ebenfalls schon öfter ausgeführt habe, im Kontext der Zeit und Gesellschaft betrachten sollte, in der sie gemacht sind - die Geschichte einer von einem Dämon besessenen Zwölfjährigen, die 1973 in die Kinos kam, spielt meiner Interpretation nach auf den Generationskonflikt der damaligen Zeit an und steht symbolisch für die Ratlosigkeit vieler Eltern, deren kleiner, süßer Engel zu pubertieren beginnt und sich plötzlich verändert. Und natürlich ist die Darstellung der besessenen Regan äußerst überspitzt gewählt - dass reale "Besessene" unter der Decke schweben oder ihren Kopf um 360 ° herumdrehen, kommt äußerst selten vor. Eigentlich eher nie. Die Austreibung von Teufeln und Dämonen ist aber selbstverständlich keine alleinige Spezialität der katholischen Kirche - sie ist nahezu jeder Glaubensrichtung zu finden. Was logisch ist, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass es so etwas schon im alten Ägypten gegeben hat. Und selbstverständlich findet man das auch im Judentum und Islam, ebenso wie in Luthers Lehren, wenn auch der evangelische Exorzismen nicht mit Reliquien und heiligen Messen arbeitet, sondern mit Bibelzitaten und Gebeten.

Die Besonderheit des katholischen Exorzismus wiederum ist, dass dieser sich bis heute auf das Rituale Romanum von 1614 bezieht, eine Liturgie, die eine detaillierte Anleitung für den sogenannten "großen Exorzismus" enthält - und 1925 durch den Exorcismus in satanam et angelos apostaticos ergänzt wurde, der 1890 von Papst Leo XIII. veröffentlicht worden war. Wer sich diese Psalmen zu Gemüte führt, dem wird schnell klar, dass die Intention weit weniger friedlich ist als noch im alten Ägypten: Der Text ist hochgradig aggressiv, und es geht nicht mehr um die Heilung einer Krankheit, sondern um die gewaltsame Vertreibung eines Feindes der Kirche, ob imaginär oder nicht. Das Gefahrenpotenzial erkennt man auch daran, wann ein Mensch laut dieser Schriften als "besessen" gilt: Wenn er "übermenschliche Kräfte" entwickelt; wenn er in einer Sprache spricht, die er eigentlich gar nicht können sollte (das bekannte "in fremden Zungen reden"); oder wenn er Wissen preisgibt, das er eigentlich gar nicht haben kann. Wo hier die Grenze gezogen wird, wird allerdings nicht verraten - was erlaubt, alles mögliche als "besessen" zu interpretieren.

Selbstverständlich werden Exorzismen heute nicht mehr im gleichen Maße durchgeführt wie noch vor etwa einem halben Jahrhundert - heute braucht es dafür etwa ein von einem Psychologen und einem Psychiater verfasstes Gutachten, und die Handlung muss vom jeweiligen Bischof genehmigt werden. Und natürlich sind Exorzismen in Deutschland und Österreich nicht mehr so verbreitet wie etwa in Frankreich und Italien oder auch Osteuropa, Afrika und Lateinamerika - aber es gibt sie durchaus. Und das, obwohl sie sogar gegen geltendes Kirchenrecht verstoßen - und die Psychiater eine wissenschaftlich fundierte Unterscheidung treffen sollen zwischen einer psychischen Erkrankung und etwas, für das es keinerlei wissenschaftliche Belege gibt. Heute gehen viele davon aus, dass neben körperlichen Erkrankungen wie Epilepsie oder Tollwut auch häufig psychische Probleme früher als "Besessenheit" interpretiert wurde - etwa starke Depressionen, schizophrene Erkrankungen oder affektive Psychosen, speziell, wenn es zu Wahrnehmungsstörungen kommt. Wobei man vielleicht auch annehmen kann, dass so eine Teufelsaustreibung in Zeiten, in denen es für psychisch Erkrankte noch keine wirkliche Hilfe gab, vielleicht auch so etwas wie einen Placebo-Effekt bewirken konnte - die Frage ist halt nur, ob das heutzutage, wo es weitaus bessere Methoden gibt, diesen Menschen zu helfen, noch legitim ist. Und ob die Symptome sich nicht möglicherweise bei manchen durch die Aufmerksamkeit, die ihnen dadurch zuteil wird, noch verstärken könnten.

Der bekannteste Fall eines Exorzismus in modernen Zeiten ist natürlich der von Anneliese Michel in Deutschland, welcher tödlich endete. Das Besondere daran ist, dass es offiziell der letzte große Exorzismus war, der auf deutschem Boden zu finden ist. Sehr offensichtlich ist außerdem, dass die angebliche Besessenheit der jungen Frau von den Priestern, die sich ihrer annahmen, für ihre Zwecke missbraucht wurde. Die 1952 geborene Anna Elisabeth Michel wuchs in einem kleinen niederbayerischen Dorf in einer erzkatholischen Familie auf. Schon als Kind litt sie an gesundheitlichen Problemen; gleichzeitig war sie sehr fromm und neigte schon früh zu extremer Selbstkasteiung. Die strengen Moralvorstellungen ihrer Mutter verwehrten ihr eine normale Jugend mit Partys, Jungs und Freunden. Mit sechzehn traten bei ihr erstmals Krampfanfälle auf, eine neurologische Untersuchung diagnostizierte eine schwere Epilepsie, die medikamentös behandelt wurde. 1970 erkrankte sie an Tuberkulose und einer Lungenentzündung und verbrachte mehrere Monate in einem Sanatorium im Allgäu, wo sie auch die ersten visuellen und akustischen Halluzinationen gehabt haben soll, die später in "Visionen" umgedeutet werden sollten, außerdem litt sie auch unter depressiven Episoden - ein Arzt diagnostizierte eine beginnende paranoide Psychose. 1973 begann sie ein Studium an der Pädagogischen Hochschule in Würzburg und zog in ein katholisches Wohnheim; 1975 legte sie erfolgreich ihre Prüfung zur Erlangung der kirchlichen Lehrerlaubnis ab, 1976 ihr Staatsexamen.

Die erste, die in ihren immer wiederkehrenden Krampfanfällen und psychischen Störungen eine "Besessenheit" zu erkennen glaubte, war eine Freundin der Familie aus dem Heimatort der Michels, die jährliche Wallfahrten nach San Damiano organisierte, einem von der katholischen Kirche nicht anerkannten Wallfahrtsort in Norditalien, an denen auch Anneliese Michel teilnahm. Sie vermittelte die junge Frau an einen Geistlichen in Aschaffenburg, der über den Kaplan einen Kontakt zu dem Geistlichen Ernst Alt herstellte, welcher sie wiederum Pater Adolf Rodewyck vorstellte. Dieser galt als Experte für Dämonologie und glaubte tatsächlich, bei ihr Indizien für eine "Besessenheit" entdeckt zu haben. Ihre Eltern waren nur allzu bereit, daran zu glauben, da sie die medizinische Erklärung für ihre Leiden nicht akzeptierten, und auch sie selbst gab sich mit dieser Erklärung zufrieden. Freunde berichteten, dass bei ihr durchaus auch eine Suizidgefahr vorhanden war; nachdem sich dies für sie als streng gläubige Katholikin natürlich verbot, berichtete sie von einer Marienerscheinung, bei der ihr aufgetragen worden sei, für die Sünden ihrer Generation zu büßen.

Im Juli 1975 unterzog sich Anneliese Michel einem ersten Exorzismus - erneute Anfälle sowie ein bedenklicher Gewichtsverlust, der auf eine Essstörung hindeutete, hatten sie so stark geschwächt, dass sie ihr Studium nicht fortsetzen konnte und zu ihren Eltern zurückkehrte. Im August wurde erneut ein Exorzismus durchgeführt - ihr seelischer Zustand verschlechterte sich rapide, aber ihre Eltern verweigerten die von Ernst Alt angeratene Einweisung in eine psychiatrische Klinik, und auch sie selbst wollte nichts davon wissen - alle drei befürchteten, dass ihr dadurch die angestrebte Karriere als Religionslehrerin verwehrt bleiben würde. Im September leitete Rodewyck die Anordnung eines großen Exorzismus nach dem Rituale Romanum an - insgesamt wurden an Anneliese Michel bis zu ihrem Tod Anfang Juli 1976 von Pater Arnold Renz 67 exorzistische Sitzungen vorgenommen. Dieser hatte durch seinen Einsatz für die Seligsprechung der Seherin Barbara Weingand schon eine gewisse Bekanntheit erlangt. Ab der zweiten Sitzung ließ Renz ein Tonbandgerät mitlaufen - diese Protokolle sind auch heute noch überall im Netz zu finden, aus Pietätsgründen möchte ich sie allerdings nicht verlinken. Ich habe schon einmal die schwere Psychose einer jungen Frau miterlebt - das, was auf dem Tonband zu hören ist, erinnert mich tatsächlich sehr daran. Sie sprach mit stark veränderter Stimme und unflätigem Vokabular, unterbrochen von markerschütternden Schreien. Die Exorzisten wollen nicht nur den Teufel gehört haben, sondern auch verschiedene Dämonen, etwa Judas, Nero und Hitler. Zwischen den Exorzismen pendelte Anneliese Michel immer wieder nach Würzburg, um ihr Studium fortzusetzen. Mit Beginn der Fastenzeit Anfang März 1976 hörte sie auf zu essen - ihr körperlicher und seelischer Zustand verschlechterten sich dramatisch, ab Mitte April konnte sie ihr Bett im Wohnheim nicht mehr verlassen, aber ihre Schwester verhinderte, dass Annelieses Mitbewohner einen Arzt riefen. Im Mai wurde sie in ihr Elternhaus zurückgebracht - sie aß nach wie vor nicht, schlug um sich und verletzte sich selbst. In den letzten Wochen vor ihrem Tod musste sie zeitweise ans Bett gefesselt werden, um weitere Verletzungen zu verhindern - sie war überzeugt davon, die Wunden an Händen und Füßen gingen auf die Wundmale Jesu Christi zurück. Der letzte Exorzismus wurde am 30. Juni 1976 durchgeführt - am 1. Juli starb sie an den Folgen extremer Unterernährung in Kombination mit einer verschleppten Lungenentzündung. Sie wurde nur 23 Jahre alt.

Schon am Tag ihres Todes wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wegen Verdachts auf fahrlässige Tötung. 1978 ließen die Eltern den Leichnam ihrer Tochter exhumieren - angeblich, um ihn in einen Sarg umzubetten, in Wirklichkeit hatte jedoch eine Laienschwester behauptet, Anneliese Michel sei ihr im Traum erschienen und habe verkündet, dass ihr Leichnam nicht verwest sei. Augenzeugen, die bei der Öffnung des Sarges zugegen waren, bestätigten jedoch einen dem Zeitrahmen entsprechenden Verwesungszustand. Ende März 1978 begann die Gerichtsverhandlung gegen Michels Eltern sowie gegen Alt und Renz vor dem Landgericht Aschaffenburg, der große mediale Aufmerksamkeit erfuhr. Ein Gutachter der Nervenklinik der Universität Würzburg stellte fest, dass eine rechtzeitige Behandlung den Tod der jungen Frau verhindern hätte können - das hohe Maß an Selbstgefährdung hätte auch eine Einweisung gegen ihren Willen rechtfertigen können. Auch zwei weitere Gutachter kamen zu demselben Ergebnis. Letztendlich wurden die Geistlichen zu einer Geldstrafe verurteilt - für die Eltern wurde kein Strafmaß festgesetzt, da sie nach Ansicht aller mit dem Verlust ihrer Tochter schon ausreichend bestraft worden seien.

Der Fall Anneliese Michel, der auch Filme wie den Thriller Der Exorzismus von Emily Rose von Scott Derrickson sowie Requiem von Hans-Christian Schmid inspirierte, rüttelte viele wach - besonders deutsche Bischöfe sprachen sich für eine Überarbeitung der Exorzismuslehre aus. Ein weiterer Exorzismus mit Todesfolge, der 2012 in dem Film Jenseits der Hügel verarbeitet wurde, fand 2005 in Rumänien statt. Irina Maricica Cornici trat ins rumänisch-orthodoxe Kloster der Heiligen Dreifaltigkeit ein; kurz darauf wurde bei ihr eine beginnende Schizophrenie diagnostiziert, welche von Priester Daniel Corogeanu als "Besessenheit" umgedeutet wurde. Er fesselte die junge Frau mit Hilfe von vier Ordensschwestern an Armen und Beinen; als diese Behandlung nach drei Tagen nicht die erhoffte Wirkung erzielte, ketteten sie sie an ein Kreuz und knebelte sie, um den "Geist" daran zu hindern, sich zu äußern. Sie schlugen sie in regelmäßigen Abständen und verweigerten ihr Essen und Trinken, bis sich ihr Zustand so rapide verschlechterte, dass ein Krankenwagen gerufen wurde. Irina Maricica Cornici starb auf dem Weg ins Krankenhaus - auch sie wurde nur 23 Jahre alt. Die Verantwortlichen wurden festgenommen und inhaftiert; Daniel Corogeanu wurde zu vierzehn Jahren, die Nonnen zu jeweils fünf bis acht Jahren Gefängnis verurteilt, außerdem wurden sie exkommuniziert.

Wie ihr also seht, ist das Thema Exorzismus, auch wenn es uns höchst mittelalterlich anmutet, bis heute noch nicht aus der öffentlichen Diskussion verschwunden. Wobei man sagen muss, dass die reißerischen Szenen in besagtem Film nichts mehr mit psychischen Störungen zu tun haben, sondern rein der Phantasie des Autors zugeschrieben werden kann. Was man auch noch beobachten kann, ist das suggestive Verhalten derjenigen, die Exorzismen durchführen - dies erkennt man häufig, wenn man evangelikale Exorzismen beobachtet, aber auch in den Tonbandprotokollen des Exorzismus von Anneliese Michel. Abschließend kann man sagen, dass jeder Fall von angeblicher "Besessenheit" individuell betrachtet werden muss - eventuell sollte man auch einfach akzeptieren, dass die moderne Medizin zwar durchaus weit fortgeschritten, aber auch nicht vollkommen ist und nicht jedem Menschen geholfen werden kann. Und wie schon zuvor angemerkt, muss man die Exorzismus-Filme auch im zeitlichen und gesellschaftlichen Kontext betrachten - so fällt auf, dass diejenigen, an denen ein Exorzismus durchgeführt wird, ausschließlich Mädchen und junge Frauen sind. Ihre "Besessenheit" wird immer durch spezielle Krisensituationen herbeigeführt, wie eben das Erwachen der Sexualität. Meist wird eine alte, patriarchal strukturierte Ordnung in Frage gestellt, die durch einen erfolgreichen Exorzismus wiederhergestellt wird - diese Filme beinhalten also häufig ein nicht unerhebliches Maß an Konservativismus. Ich persönlich stehe dem Ganzen schon deshalb kritisch gegenüber, weil ich aus eigener Erfahrung weiß, dass dadurch eine erfolgreiche Therapie nicht nur verhindert werden kann, sondern Menschen mit psychischen Erkrankungen das Verständnis derselben oft erschwert wird. Aber das ist nur eine unbedeutende Laienmeinung, für die es keine Gewähr gibt. Ich hoffe, dass euch mein kleiner Exkurs gefallen hat und ihr beim nächsten Mal wieder dabei seid. Bon voyage!

vousvoyez

Sonntag, 13. März 2022

Das war kein Sturm auf den Reichstag, das waren Deppen auf Treppen

© vousvoyez
An jenem Tag Ende August 2020 hätten wir uns wohl nie vorstellen können, dass kaum ein halbes Jahr später eine aufgehetzte Meute, angeführt von einem Typen mit Büffelhörnern und Kriegsbemalung, das Capitol in Washington stürmen würde. Und zu diesem Zeitpunkt haben wir uns noch gedacht, absurder kann es nicht mehr kommen - aber momentan erkennen wir: Sag niemals nie! Was von dem Versuch, den Reichstag zu stürmen, blieb, sind angesichts dessen die Bilder von ein paar Halblustigen mit Fahnen, die sich grinsend auf der Treppe vor dem Eingang positionieren, als die Polizei gerade mal ein paar Minuten nicht aufgepasst hat. Und diese Halblustigen sind es, vor denen unsere Politiker eingeknickt sind - die meisten Corona-Maßnahmen sind inzwischen aufgehoben, obwohl die Inzidenz so hoch ist wie nie. Und als wenn das nicht reichen würde, war es für mich noch nie so ungünstig wie aktuell, mir eine Infektion einzufangen. Was gerade passiert, ist unverzeihlich - und dazu kommt noch die Eskalation der Ukraine-Krise und das Welt- und Atomkrieg-Gerede der Medien. Mit anderen Worten: Wir sind ganz schön im Arsch.

Aber ganz so schlimm ist es natürlich auch wieder nicht - noch sind viele Optionen offen. Gerade Rechtspopulisten und Konservative, sehr prominent etwa Armin Laschet und Sebastian Kurz, haben im letzten Jahr einen Satz beständig rausgehauen: 2015 darf sich nicht wiederholen. Damit meinen sie allerdings nicht die humanitäre Katastrophe, die sich damals ereignet und viele Menschen zur Flucht gezwungen hat, sondern die Art und Weise, wie viele damals reagiert haben - nämlich die sogenannte "Willkommenskultur", die Bereitschaft vieler Länder, Menschen nicht im Regen stehen zu lassen und vor allem die Hilfsbereitschaft vieler Privatpersonen. Dieses Framing gibt Leuten, die nichts für die Vertreibung aus ihrer Heimat können, indirekt eine Mitschuld an den damaligen Umständen, und rückt das Engagement für diese in ein negatives Licht. Damit kann man seine politische Verantwortung ganz bequem in den Hintergrund verschieben. Umso positiver ist es, dass sich 2015 aktuell doch wiederholt und dass eine große Anzahl an Menschen bereit ist, den von der Eskalation des Krieges betroffenen Ukrainern zu helfen. Und dass wir uns nicht falsch verstehen: Ich weiß sehr gut, dass da zum Teil erheblich mit zweierlei Maß gemessen wird, und das ärgert mich genauso - aber diejenigen, die jetzt auf die afghanischen und syrischen Geflüchteten verweisen, für die man sich angeblich nicht engagiert habe, sind auffällig oft auch die gleichen, die noch vor ein paar Monaten kein Problem damit hatten, Menschen im Mittelmeer ertrinken zu lassen und die Leute in den Lagern in Moria ihrem Schicksal zu überlassen.

Vor kurzem bin ich auf einen Tweet gestoßen, in dem aufgefordert wurde, zu erzählen, auf welche Weise sich bei uns so etwas wie ein politisches Bewusstsein gebildet hat. Ich habe zwar nicht geantwortet, aber lange darüber nachgedacht, und dabei ist mir tatsächlich etwas eingefallen: Als ich zehn Jahre alt war, starb meine Großmutter an Bauchspeicheldrüsen-Krebs. Zuvor nahm sie jedoch ihrer Tochter, meiner Mutter, das Versprechen ab, nach ihrem Tod die Briefe, die ihr erster Ehemann, mein Großvater, ihr geschrieben hatte, als er beim Militärdienst war, zu vernichten. Meine Mutter hat keine Erinnerungen an ihren leiblichen Vater - er starb im Alter von 26 Jahren an der Front, sie war damals zweieinhalb Jahre alt. Ich erinnere mich noch, wie sie mit dem Stapel alter Briefe in unserem Wohnzimmer saß, jeden einzelnen durchlas und ihn dann ins Feuer des offenen Kamins warf. Ich saß vor dem Feuer und nahm die Umschläge entgegen, da ich die Briefmarken für meine Sammlung haben durfte - als ich sie betrachtete, fiel mir jedoch auf, dass da nicht Republik Österreich stand oder CCCP wie auf den Marken der ehemaligen Sowjetunion, sondern Deutsches Reich, und dass das Motiv eigentlich immer dasselbe war: Das Profil eines grimmig dreinsehenden Mannes mit Schnurrbart und Seitenscheitel. Ich fragte meine Mutter, was das zu bedeuten hätte - und sie erzählte mir von Adolf Hitler und vom Zweiten Weltkrieg; von den Menschen, die vertrieben, eingesperrt, zu Schwerstarbeit gezwungen und getötet wurden, weil sie nicht in das Idealbild eines Diktators passten; von dem Krieg, bei dem viele Menschen sinnlos verheizt wurden; von den Vätern, die gar nicht oder an Körper und Seele verwundet zu ihren Familien heimkehrten; und von meinen Großeltern, die sich damals ineinander verliebten, bis mein Großvater, zu dieser Zeit noch Student, zum Kriegsdienst verpflichtet wurde und letztendlich zu den vielen Opfern gehörte, die dieser Krieg gefordert hatte, ebenso wie der kleine Bruder meiner Großmutter, der, noch nicht mal volljährig, irgendwo in Sibirien verschollen ist. So gut man das einem kaum elfjährigen Kind halt erklären kann. Ich habe danach lange in die Flammen geschaut, die die Briefe des jungen Mannes, der mein Großvater war, vernichteten, und nachgedacht - dann habe ich die Umschläge genommen und ins Feuer geschmissen. Ich hätte es niemals in Worte fassen können, aber damals war mir klar, dass ich eine Ideologie, die so viel Leid über die Menschen gebracht hat, niemals unterstützen hätte können - und diesem Prinzip bin ich bis heute treu geblieben.

Ich habe schon öfter gehört und gelesen, dass Sammeln zu den Urtrieben des Menschen gehört. Das klingt auch plausibel - immerhin dient es vielen Tieren dazu, Vorräte für Zeiten des Mangels anzulegen. Spätestens seit den Hamsterkäufen 2020 sollte jedem von uns bewusst sein, dass die Anlagen hierzu auch bei uns vorhanden sind. Wobei es angesichts der Ukraine-Krise offensichtlich wieder soweit ist - wie ich erfahren habe, ist Speiseöl, besonders Sonnenblumenöl, aktuell vielerorts ausverkauft, und auch die Angst vor dem Tod mit einem dreckigen Hintern scheint wieder groß zu sein. Übrigens ist der sparsame Umgang mit Öl generell nicht nur gut für die Geldtasche, sondern auch für die Gesundheit - nur ein kleiner Tipp meinerseits. Anscheinend gibt es aber auch Leute, die dumm genug sind, die erhöhten Spritpreise damit zu kompensieren, dass sie Speiseöl in ihr Auto kippen - eine Strategie, die vor allem bei denjenigen, die selber denken, sehr beliebt ist. Wie dem auch sei - in Zeiten des Wohlstands verlagert sich der Sammeltrieb des Menschen ganz offensichtlich, und er hortet vor allem Dinge, die für sich gesehen größtenteils vollkommen nutzlos sind. Meine Schwester hat beispielsweise Getränkedosen gesammelt, die jahrelang auf dem Kinderzimmerregal verstaubt sind. Trotzdem brachten sie mir, als wir den Raum dann ausräumten, die Erinnerung an jene Zeit zurück, als die Dosenringe nicht aufgeklappt, sondern weggezogen wurden - das klingt zwar vollkommen unwichtig, aber ich habe später immer wieder mal gehört, dass Leute sich am Strand die Füße zerschnitten haben, weil der Mensch nun mal ein Schweinderl ist und seinen Abfall überall verstreuen muss, wo er nicht hingehört, wenn man ihn nicht daran hindert. Ich habe übrigens eine Zeitlang Dosenringe gesammelt, sie aufgefädelt und an meinen Schulrucksack gehängt - am liebsten mochte ich die der Sondereditionen, die farbig waren. Mein Cousin wiederum hat Flaschen gesammelt - und in dem Film Drei Herren von Nikolaus Leytner sammelt ein alter Mann Kronkorken von Bierflaschen, um sich eine Kindheit zurückzuholen, die nicht seine eigene ist.

Es gibt aber auch Sammlerstücke, die mit der Zeit an Wert gewinnen - wie eben Briefmarken. Dabei sind das im Prinzip nur kleine Papierstückchen, die für ein paar Kröten in jeder Trafik zu haben sind. Aber ich habe durch das Sammeln eine Menge gelernt - beispielsweise, dass Länder früher oft anders geheißen haben. Oder, dass die Welt größer ist, als man es sich als Kind überhaupt vorstellen kann. Oder eben, dass man keinen Nazis hinterherläuft. Und dabei kannte ich kein anderes Mädchen, das Briefmarken sammelte - meine Schulkameradinnen beispielsweise haben, gemäß dem Trend der Neunziger, Sticker gesammelt. Oder Pickerl, wie man in Österreich sagt. Und natürlich haben auch Unternehmen den Sammeltrieb schon für ihre Geschäftsmodelle genutzt - etwa das italienische Verlagsunternehmen Panini, das vor allem durch seine Sammelalben bekannt ist. Die niemand je voll gekriegt hat - weil, ehe ein Heft vollständig war, schon das nächste auf den Markt kam. Ich denke, jeder hatte mindestens eines dieser Alben in seinem Kinderzimmer herumliegen. Ich hatte immer wieder mal eines zu einem gerade aktuellen Kinofilm - aber da waren kaum mal mehr als fünf Aufkleber drin, weil ich immer vergessen habe, fleißig zu sammeln, und die Hefte in den unendlichen Weiten meines Kinderzimmers verschollen sind. Das Franchise Pokémon wiederum stützt sich fast gänzlich auf den Sammeltrieb - als es jedoch bei uns wie eine Bombe einschlug, war ich schon ein Teenager, weshalb ich den Hype darum nur aus zweiter Hand mitbekam.

In meiner Familie wurden vor allem VHS-Kassetten gesammelt - als Familie mit vier Kindern haben wir jahrelang so viel auf Leerkassetten aufgenommen, dass wir die Dinger am Ende sogar nummeriert und aufgelistet haben, um überhaupt noch etwas zu finden. Noch als ich ausgezogen war, hatte ich alte Kassetten, auf denen diese Nummern drauf waren - selbst wenn ich sie nicht mehr katalogisierte. Auch die alten Familienaufnahmen wurden irgendwann auf Videokassette überspielt - und später auf DVD. Wie viele Männer, so war auch mein Vater in jungen Jahren sehr technikaffin, und so besaß er schon ziemlich bald nach Markteinführung eine Schmalfilmkamera - die ersten mir bekannten Super-8-Aufnahmen stammen aus dem Jahr 1969, als meine Mutter mit meinem ältesten Bruder schwanger war. Das Super-8-Format wurde 1965 von Kodak auf den Markt gebracht und war eine Weiterentwicklung von Normal-8, das ebenfalls hauptsächlich für den privaten Gebrauch genutzt wurde, wurde aber in den Achtzigern praktisch komplett von der Videotechnik abgelöst. Vielen, die die damalige Zeit miterlebt haben, ist das Ritual des Filmeschauens allerdings noch wohlbekannt - das Aufstellen der Leinwand, das Rattern des Projektors, das Flackern der Filme und die anfangs noch stummen Bilder, zu denen man immer dazugeredet hat. Ich war allerdings nicht mehr Teil dieses Rituals - von mir existierten nur noch Aufnahmen auf Magnetband: Mitte der 1980er besaß mein Vater bereits eine Video-8-Kamera, die mit Kassetten lief und die man an ein normales Fernsehgerät anschließen konnte - was das Aufstellen von Leinwand und Projektor natürlich überflüssig machte, und Bild- und Tonqualität waren auch weitaus besser. Der Camcorder begleitete mich durch meine gesamte Kindheit und Jugend - ich habe sogar Freunde, die mit diesen Geräten ihre Karriere als Filmemacher begonnen haben. Heute ist die Filmfunktion jedes Smartphones den alten Formaten qualitativ weit überlegen - aber natürlich kann man Filter über die Hochglanz-Aufnahmen legen, um die Illusion eines alten Schmalfilms zu erzeugen. Nostalgie ist halt nach wie vor in.

Das gilt natürlich auch für das gute alte Fahrrad - das Klapprad, auf dem ich fahren gelernt habe und das später durch ein hochmodernes Citybike ersetzt wurde, bevölkert heutzutage wieder die Straßen, sowohl in altem als auch in neuem Gewand. Meines habe ich von meinem Bruder geerbt - die Grün-Metallic-Lackierung blätterte schon ab, doch ansonsten war es einwandfrei. Und es war für Kinder beliebt, weil es "mitwachsen" konnte. Bei meinen Eltern war das noch anders - meine Mutter nutzte beispielsweise ein "Waffenrad", wie man die von der Oesterreichischen Waffenfabriks-Gesellschaft in Steyr hergestellten Fahrräder damals nannte. Sie und ihr Cousin fuhren zu zweit darauf, mit dem Fuß auf jeweils einem Pedal. Als ich anfing zu fahren, waren gerade die BMX-Räder in Mode, und mein altes, zuverlässiges Modell stank gegen die meiner Cousins natürlich ab, jedoch war nicht mal daran zu denken, meine Eltern darum zu bitten, mir auch eines zu kaufen. So war mein Interesse am Fahrrad fahren auch nicht besonders groß, aber irgendwann hab ich es dann doch gelernt - und zur Belohnung ein ganz tolles Citybike bekommen, in Weiß mit orangefarbenen und neongrünen Sprühflecken, fünfzehn Gängen und Trinkflasche dabei. Im Nachhinein ein bisschen viel Schnickschnack dafür, dass ich es hauptsächlich auf städtischen Straßen nutzte - aber mit dem Fahrrad anzugeben war damals ungefähr so beliebt wie heute mit dem neuen Smartphone.

Neben dem Fahrrad fahren war es als Kind natürlich ganz wichtig, schwimmen zu lernen - zuerst mit, dann ohne Schwimmflügel. Wobei es natürlich zu jeder Zeit total cool ist, wenn man die meistens leuchtend orangefarbenen Gummikissen, die einem sowieso gefühlt die Oberarme zerquetschen, wenn sie frisch aufgeblasen sind, nicht mehr nötig hat. Und da ich vor allem als Kind außerhalb der Saison viel Zeit in Hallenbädern verbrachte, bin ich auch noch mit Badehauben vertraut - oder Badekappen, wie unsere deutschen Nachbarn auch gerne sagen, da wir uns bei der Sprache bekanntlich nie einig werden. Erhältlich sind Badehauben bereits seit dem Rokoko - damals schützten die Damen ihre Haare bei der Morgentoilette mit Spitzenhäubchen. Sich beim Baden die Haare zu schützen, ist allerdings schon seit dem Mittelalter üblich - damals trug man dabei so eine Art Turban. Im 19. Jahrhundert war die Kopfbedeckung aus Wachs oder Stroh, bis Charles Goodyear den Gummi entdeckte und das Material auch für Badehauben verwendet wurde. In den 1920er Jahren kamen die den Kopf eng umfassenden Hauben mit Kinnband auf, in den 1930er Jahren die plastische Musterung. In den 1960er Jahren wurde in Schwimmbädern die Badehaubenpflicht eingeführt, damals waren bei den Damen Blumen- und Blätterapplikationen sehr beliebt - die Männer trugen Textilhauben in Schwarz mit breitem weißen Mittelstreifen, die ich auch in meiner Kindheit noch ab und zu sah. Es gibt auch noch Fotos aus den 1970ern von meiner Mutter mit einem dieser geblümten Ungetüme, die damals so in waren. In meiner Kindheit waren Badehauben allmählich aus der Mode gekommen und wurden nur noch in Hallenbädern getragen - dort allerdings nach wie vor verpflichtend. Ich besaß für die Schwimmkurse zwei Silikon-Hauben, beide ganz 90er-like in schreienden Neonfarben - sie waren eng, beeinträchtigten das Gehör, und deppert ausgeschaut haben sie auch. Am schlimmsten war es, die Dinger hinterher wieder auszuziehen - die Haare waren statisch aufgeladen und blieben an der Innenseite der Haube kleben, so dass man das Gefühl hatte, sie gleich mit auszureißen. Auf Skiurlaub in Bad-Hofgastein gingen wir abends häufig ins Thermalbad - dort konnte man, wenn man keine Badehaube mit hatte, billig eine kaufen. Das waren bessere Plastiksackerl mit Gummizug, die eher an OP-Hauben erinnerten - wenn man länger mit denen im Becken war, sammelte sich das Wasser am Hinterkopf, und am Ende leerte man gleich das halbe Schwimmbecken mit aus. Ihr könnt euch vorstellen, dass ich heilfroh war, als die Badehaubenpflicht auch in Hallenbädern Geschichte war.

Als Österreicherin war neben Radfahren und Schwimmen auch das Erlernen des Skifahrens für mich obligatorisch. Gefragt, ob ich das will, hat mich niemand, aber meine ganze Familie und der Großteil meiner Freunde fuhr Ski, und ich bereue heute auch nicht, es gelernt zu haben, auch wenn ich schon seit zwanzig Jahren nicht mehr gefahren bin. Zum ersten Mal auf Skiern stand ich mit vier oder fünf Jahren in Kitzbühel, gelernt habe ich in verschiedenen Kursen. Da ich ein Kind war und noch wuchs, wurde die Ausrüstung meist ausgeliehen, erst später bekam ich eine eigene. Wir haben alle noch mit diesen überlangen, vollkommen geraden Skiern angefangen, mit denen man nur um die Kurven kam, wenn man die Knie eng zusammenpresste - an dieser Technik erkannte man später vor allem die älteren Fahrer. Als ich ein Teenager war, setzten sich allmählich die taillierten Carving-Ski durch, die kürzer waren und mit denen man leichter um die Kurve kam. Auch Helmpflicht gab es damals auf der Skipiste noch nicht - weil Leute damals die steileren Pisten in der Regel nur dann befuhren, wenn sie schon über ein gewisses Können verfügten. Die einzigen, die schon in meiner Kindheit und Jugend ein wenig gefährlich waren, waren die Snowboarder - aber denen konnte man meist noch ausweichen, oder man ließ sie vorfahren. Helme wurden eigentlich nur von kleinen Kindern getragen - solchen, die einem bis zur Hüfte reichten und die dich auf der Abfahrt vor dem Skilift, die Knie gebeugt und den Oberkörper weit nach vorne gelehnt, in einem Affenzahn überholten. Damals gab es zum Teil noch uralte Skilifte aus Holz und Metall, auf denen man an kalten Tagen fast festfror und deren Sicherheitsbügel den Namen nicht verdiente - man schwebte, nur von einer dünnen Metallstange gehalten, über dem Abgrund, und an der Einstiegsstation rasten sie nur so daher und schlugen dir in die Kniekehlen. Lustig waren auch die Schlepplifte an steilen Hängen - auf der Tauplitz gab es so einen, da bin ich zusammen mit einem Freund mal an der steilsten Stelle ausgerutscht, so dass wir beim Rausfallen auch noch ein halbes Dutzend anderer mitgerissen haben. Ich erinnere mich noch heute, wie ich mit zusammengepressten Augen den Abhang hinunterkullterte, mitten in die Leute hinein - ich konnte es beim besten Willen nicht verhindern.

Das sind so die Erlebnisse, die einen prägen - und an die man sich noch zurückerinnert, wenn das Leben längst ernster und schwieriger geworden ist. Manchmal hätte ich heute noch gerne, dass mein größtes Problem ist, dass ich aus dem Schlepplift geflogen bin und kein BMX-Rad bekomme. Dass die jüngere Generation nicht in dieser Sorglosigkeit aufwachsen kann, macht mir bewusst, wie wertvoll es war, diese Zeit erlebt zu haben - auch wenn es natürlich nichts bringt, sie zurückzufordern, und ich auf diese Idee auch gar nicht kommen würde. Ich versuche einfach, das Beste aus der jetzigen Situation zu machen - und euch, wann immer es möglich ist, mit Artikeln zu erfreuen. Ich hoffe, dass ihr euch amüsiert habt und beim nächsten Mal wieder vorbeischaut. Bon voyage!

vousvoyez

Donnerstag, 10. März 2022

Wäre Konrad Duden nicht schon tot, würde er sich jetzt umbringen


© vousvoyez
Diesen Gedanken habe ich sehr oft, wenn ich mir ansehe, wie wenig Wert heutzutage auf Schreibkompetenz gelegt zu werden scheint. Aber egal, wie höflich und umsichtig du darauf hinweist - Kritik ist nicht erwünscht. Denn wer anderer Leute Rechtschreibung korrigiert, ist frustriert und hat keine Freunde. Aber egal - wir sind nicht hier, um uns über Rechtschreibsünden zu beschweren. Ich habe ja in letzter Zeit sehr ernsthafte Themen angesprochen, vor allem der letzte Artikel hatte es in sich. Es könnte auch sein, dass ich mir in Zukunft das eine oder andere von der Seele schreiben muss - aber da ich mit meinem Blog nicht nur Trauer und Angst verbreiten will, möchte ich mich heute wieder mal einem Thema widmen, das nicht ganz so ernst ist. Ich möchte heute nämlich wieder einmal über Kryptozoologie sprechen.

Ich habe dazu schon mal was geschrieben, das ist aber doch schon wieder eine ganze Weile her, ihr könnt den Artikel hier finden, wenn ihr Lust habt, ihn zu lesen. Zur Erinnerung: Kryptozoologie bezeichnet im Prinzip eine Pseudowissenschaft, die bereits seit den 1980er Jahren um Anerkennung als seriöse Wissenschaft kämpft - da sie sich aber mit Lebewesen beschäftigt, für deren Existenz es keinerlei stichhaltige Beweise gibt, sind da die Chancen eher mau. Zudem wäre das auch paradox, denn würde man Yeti & Co. als möglicherweise tatsächlich existierende Lebewesen anerkennen, fielen sie in den Bereich der Zoologie, die ja durchaus eine seriöse Wissenschaft ist. Aber natürlich gibt es ab und zu auch Überschneidungen mit der Zoologie oder auch Paläozoologie - wie wir ja schon am Beispiel des Loch-Ness-Monsters und des Mokele-Mbembe gesehen haben. Gerne wird von Kryptozoologen auch der Quastenflosser, der lange als ausgestorben galt, bis man in den 1930er Jahren in Südafrika auf ein lebendes Exemplar stieß, als Beweis dafür herangezogen, dass es Nessie & Co. doch geben könnte - allerdings übersieht man da gerne mal die Logiklücken, etwa, dass es von einem solchen Tier mehrere Exemplare geben müsste und dass es äußerst unwahrscheinlich ist, dass ein See voller Plesiosaurier so lange nicht auffallen könnte. Aber gut - kommen wir also zu den Kryptiden, über die ich heute sprechen möchte.

Bestandteil vieler Mythologien ist den sogenannte Riesenkraken, die allerdings nicht verwechselt werden dürfen mit dem tatsächlich existierenden Enteroctopus, der im Indischen und Pazifischen Ozean sowie im südlichen Atlantik beheimatet ist. Der mythologische Riesenkrake ist dem Seemannsgarn zuzurechnen, also Geschichten vermeintlicher Erlebnisse auf Seefahrt, deren Glaubwürdigkeit eher zweifelhaft ist. Der Riesenkrake ist Bestandteil vieler Mythologien, besonders bekannt ist er allerdings im nordischen Raum. Es handelt sich hierbei um ein riesenhaftes Seeungeheuer, das in manchen Geschichten die Ausmaße ganzer Inseln hat und Schiffe in die Tiefe ziehen kann. Natürlich wissen wir, dass die unerforschten Tiefen des Meeres schon von jeher die menschliche Phantasie angeregt haben, was vor allem daran liegt, dass wir die Lebewesen der Tiefsee in lebendigem Zustand meist gar nicht zu Gesicht bekommen: Da sie den hohen Wasserdruck ihres natürlichen Lebensraums gewöhnt sind, gehen sie in seichteren Gewässern elend zugrunde. Dies erklärt natürlich, warum es gerade über die Fauna unter dem Meer so viele Geschichten und Legenden gibt - von denen die eine oder andere allerdings auch einen wahren Kern enthält. Geschichten über krankenähnliche Monster gibt es schon seit der Antike - in Homers Odyssee lesen wir beispielsweise über Skylla, ein Meeresungeheuer mit dem Oberkörper einer jungen Frau und einem aus sechs Hunden bestehenden Unterleib, und über Charybdis, deren Schlund einen riesigen Sog erzeugt, dem sich kein Objekt zu entziehen vermag. Plinius der Ältere wiederum erzählt von einem riesenhaften "Polypen" mit zehn Meter langen Armen, der die Fischteiche nahe der Küste im spanischen Carteia bedroht habe. Im 17. Jahrhundert schreibt der schwedische Bischof Olaus Magnus über einen etwa 16 Meter großen Kopffüßer, den er "den Kraken" nennt; er habe einen viereckigen Kopf mit langen Hörnern und sei von tiefroter Farbe. In seinem Roman 20.000 Meilen unter dem Meer schreibt Jules Vernes von einigen Begegnungen mit Riesenkalmaren, von denen manche heute ausgehen, dass diese mit den "Riesenkraken" gemeint sind - in der Geschichte kommt auch ein tatsächlicher Bericht über eine Begegnung mit einem etwa zwölf Meter langen Riesenkalmar vor. Allerdings ist anzumerken, dass bei Verne die Begriffe "Kalmar", "Krake" und "Polyp" synonym verwendet werden, obwohl es sich hier in Wirklichkeit um unterschiedliche Tiere handelt - und dass die Bezeichnung "Riesenkrake" auf einen Übersetzungsfehler zurückgeführt werden kann, das englische Wort kraken wird nämlich allgemein für große Kopffüßer verwendet. Häufig gehen Übersetzer englischsprachiger Internetseiten übrigens ähnlich nachlässig vor. Man muss allerdings auch sagen, dass man, obwohl Riesenkalmare seit gut 200 Jahren wissenschaftlich bekannt sind, niemals einen solchen in natürlicher Umgebung beobachtet hat - was bedeutet, dass wahrscheinlich nicht alle Legenden vom Riesenkraken mit dem Riesenkalmar zu tun haben.

Ein weiteres Wesen, das es zumindest beinahe gibt, ist Sucuriju Gigante, die sagenhafte Riesenanakoda. Nun wissen wir ja, dass die Große Anakonda, eine südamerikanische Schlangenart aus der Familie der Boas, etwa zehn Meter lang werden kann. Die sagenhafte Riesenanakonda soll jedoch etwa viermal so lang sein, und die Spekulationen ihrer Existenz wurden durch Funde von bis zu vierzehn Meter langen Schlangenfossilien aus dem Eozän natürlich noch einmal angeheizt. Gesehen worden sein soll sie hauptsächlich im Amazonasgebiet, wo auch die tatsächlich existierende Große Anakonda beheimatet ist - wenn man Legenden glauben will, hat sie den Fluss sogar selbst erschaffen. Im Jahr 1907 behauptete Major Percy Fawcett, im Rio Negro eine 17 Meter lange Schlange getötet zu haben; Pater Hainz berichtete von einer Schlange, die er in der Nähe der Stadt Óbidos gesehen haben wollte und die angeblich über 24 Meter lang gewesen sein soll, woraufhin er anfing, Geschichten über vermeintliche Sichtungen zu sammeln - die Größe der Schlange variierte hier zwischen 15 und 300 Meter. Wie man also sieht, sind der Phantasie hier keine Grenzen gesetzt - sowieso scheint die Kryptozoologie ein außerordentliches Faible für Riesenwuchs zu haben, jedenfalls fällt auf, dass viele Kryptide um ein Vielfaches größer sind als überhaupt möglich, denken wir nur etwa an den Riesenwurm, über den ich in meinem letzten Artikel schon geschrieben habe.

Ein anderer Fall ist da der sogenannte Marozi oder Fleckenlöwe, der in den Bergregionen Ostafrikas vermutet wird. Es soll sich hierbei um eine kleine Löwenart handeln, deren Fell gefleckt ist wie das eines Leoparden - anders als bei Löwen oder Leoparden üblich, sollen sie jedoch meistens paarweise auftreten. Erste Berichte von Europäern über die Sichtung dieser Tiere stammen aus dem frühen 20. Jahrhundert; die einheimischen Kikuyu sollen schon länger mit ihnen vertraut gewesen sein. Angeblich wurden die sagenhaften Fleckenlöwen nur in schattigen Bergregionen gesehen, was ihre geringe Größe, das fleckige Fell und die fehlende Mähne erklären würde - diese deutet auf natürliche Anpassung hin. Gesicherte Erkenntnisse gibt es jedoch nicht, ebenso wenig wie Fotografien oder Filmmaterial, weshalb die meisten Experten davon ausgehen, dass es sich um keine neue Löwenart handelt, die sich an die Bergwelt angepasst hat. Manche gehen bei den Sichtungen von optischen Täuschungen aus; andere wiederum glauben, dass es sich um eine Mutation handeln könnte und die erwachsenen Löwen die Flecken, die normalerweise nur bei Jungtieren zu finden sind, einfach nicht verloren haben; wieder andere glaubten, es könnte sich um Leoponen gehandelt haben, Hybride aus Löwe und Leopard, die in Zoos durchaus vorkommen; eine abenteuerlichere Hypothese ist, dass der Fleckenlöwe ein Hybrid aus Löwe und Hyäne sein könnte, was jedoch aufgrund der sehr unterschiedlichen genetischen Zusammensetzung nicht möglich ist. Der einzige Beweis sind die Überreste zweier von einem Bauern geschossener Exemplare, die jedoch nur aus einem Fell und Teilen der Schädel bestehen - aber selbst das wird nicht als sicherer Beweis für die Existenz einer unentdeckten Löwenart gewertet. Ich fürchte, wir müssen uns mit dem Gedanken anfreunden, dass es auch keine Fleckenlöwen gibt - selbst wenn mir die Existenz dieser Tiere von allen Kryptiden bisher am Plausibelsten scheint.

Ganz anders sieht es da mit dem Man-Eating Tree, dem Menschenfressenden Baum, aus - auch wenn man den wohl wahrscheinlich eher im Bereich der Kryptobotanik verzeichnet, aber ich erwähne ihn hier trotzdem. Nun wissen wir ja, dass es durchaus fleischfressende Pflanzen gibt - ein paar Prachtexemplare gibt es bei uns im Botanischen Garten, ewa die Venusfliegenfalle, die ich als Profilbild gewählt habe -, aber bekanntlich stehen bei denen eher Einzeller, Insekten oder höchstens Amphibien auf dem Speiseplan. Selbst die Nephentes Rajah auf Borneo, die größte bekannte fleischfressende Pflanze, ist nicht groß genug, um einen ganzen Menschen zu verzehren. Trotzdem hält sich hartnäckig der Glaube, es könnte zumindest in der Vergangenheit eine Pflanze gegeben haben, die dazu in der Lage war. So findet sich in Polynesien der Mythos, dass der Papiermaulbeerbaum ursprünglich eine menschenfressende Pflanze gewesen sei, die jedoch vom Gott Maui bezwungen und den Menschen zur Domestizierung geschenkt worden sei. Am bekanntesten ist jedoch der menschenfressende Baum auf Madagaskar, über den es aus dem 19. Jahrhundert zahlreiche Erzählungen gab: 1881 schrieb der Entdecker Carl Liche, er habe beobachtet, wie indigene Völker dieser Pflanze ein Menschenopfer dargebracht hätten. Diese Geschichte wurde wenig später aufgegriffen und verbreitet - angeblich sollen sowohl Missionare als auch Indigene sie bestätigt haben, aber Beweise gibt es dafür wieder einmal nicht. In Teilen Mittel- und Südamerikas, aber auch in Afrika und am Rande des Indischen Ozeans soll außerdem die Ya-te-veo-Pflanze existieren, die sich von großen Insekten ernähren, aber auch schon versucht haben soll, Menschen zu fangen. Sie habe einen kurzen, dicken Stamm und lange Ranken, mit deren Hilfe sie ihre Beute fängt - manche behaupten sogar, sie hätte ein Auge, mit dem sie ihre Beute lokalisieren kann. Und im Jahre 2007 kursierte eine Geschichte aus Indien, laut derer ein Baum versucht habe, eine Kuh zu verschlingen, die aber von dem Hirten und einigen Dorfbewohnern mit Stöcken befreit werden konnte. Es gab damals wohl mehrere solcher Geschichten, aber außer ein paar zerborstener Äste konnte nichts gefunden werden, was nur irgendwie für einen Beweis getaugt hätte.

Einer der bekanntesten Kryptiden in den USA ist der Mothman, der auch häufig in der Popkultur, etwa Romanen oder Videospielen, vertreten ist. Beschrieben wird er als etwa zwei Meter große menschenähnliche Gestalt, die trotz des Namens eher einer Eule als einer Motte ähnelt; sie hat Flügel von etwa 15 Metern Spannweite auf dem Rücke. Die Farbe divergiert von Braun über Grau bis hin zu Schwarz, die Augen sind leuchtend oder reflektierend. Die Begegnung mit dem Wesen soll monate- oder gar jahrelange psychische Probleme hervorrufen, die sich meist in extremen Angstattacken äußern.

Im November 1966 behaupteten fünf Männer, in einem Baum auf einem Friedhof in Virginia eine braune Kreatur mit großen Flügeln gesehen zu haben, die allerdings mehr einem Menschen als einem Vogel geähnelt haben soll. Anschließend gab es zahlreiche Leute, die den "Mottenmann" gesehen haben wollen - am häufigsten in einem alten Munitionslager, das als TNT AREA bekannt ist, in dem früher Munition und Dynamit hergestellt worden waren und in dessen Nähe sich ein bewaldetes Naturschutzgebiet befindet. 1979 wurde bekannt, dass Chemikalien aus dem Lager in die Gewässer gelangt waren, so dass dieses Areal in den 1980er Jahren als das am meisten verschmutzte Naturschutzgebiet des Landes galt. Bereits drei Tage nach der ersten Sichtung sollen zwei junge Pärchen dort um Mitternacht den Mothman gesehen haben: Eines der Mädchen habe riesige leuchtende Augen im Dunkel gesehen; ihr Schrei machte die anderen auf eine etwa zwei Meter große menschliche Gestalt mit riesigen, auf dem Rücken zusammengefalteten Flügeln aufmerksam. Die vier Jugendlichen, die im Auto unterwegs waren, seien schleunigst Richtung Stadt geflohen und von der Kreatur bis dorthin verfolgt worden, wo sich jedoch jede Spur von ihr verloren haben soll. Anscheinend waren sie ungefähr gleich dumm wie die Protagonisten in Slasher-Filmen, jedenfalls wollen sie noch einmal zurückgefahren sein, um sich zu vergewissern, dass sie sich nicht getäuscht hatten - tatsächlich sollen sie das Wesen dort wieder gesehen haben, aber sobald der Scheinwerfer es traf, soll es in die Bäume geflogen sein. Diesmal fuhren sie zum Sheriff und berichteten, was sie gesehen hatten - dieser rief daraufhin aus unerfindlichen Gründen nicht in der Psychiatrie an, sondern schickte die Polizei aus, um das Gebiet abzusuchen. Diese konnte aber natürlich nichts finden - dafür erreichte die Geschichte die Medien, und auf einmal wollten alle möglichen Leute den Mottenmann gesehen haben. Aber solche Geschichten gibt es nicht nur in den USA - auch anderswo sollen solche Kreaturen vor allem kurz vor dem Eintreten einer Katastrophe gesichtet worden sein. So sollen in einer Mine Bergleute von einer mottenähnlichen Kreatur aus dem Stollen gescheucht worden sein, ehe dieser zusammenstürzte, und vor der Kernschmelze in Tschernobyl soll auf dem Gelände des Atomkraftwerks ein solches Wesen herumgeflattert sein. Vor dem Einsturz der beiden Türme des World Trade Center wurden in New York zwei angebliche Fotos vom Mothman geschossen, woraufhin die Leute überzeugt waren, dass er die Leute vor Katastrophen warnen wollte. Wie ihr euch allerdings denken könnt, gibt es auch für die Existenz dieses ominösen Mottenmannes keinen Beweis - alle angeblichen Bildbeweise stellten sich im Nachhinein als falsch heraus. Manche vermuten, dass es sich bei angeblichen Sichtungen um einen großen Reiher oder einen Kranich gehandelt haben könnte, andere gingen aufgrund der leuchtenden Augen von einer Eule aus. Wieder andere behaupten, es könnte sich auch um einen Dämon oder Engel gehandelt haben. Seit 2002 findet außerdem am dritten Wochenende im September in West Virginia das Mothman Festival statt, auf dem sich die Hauptperson allerdings nie blicken hat lassen - wie unhöflich!

Eine weitere Mensch-Tier-Kombination soll am häufigsten in Louisiana, Texas und Maryland in Erscheinung getreten sein - ein Wesen mit dem Kopf einer Ziege und der Gestalt eines Menschen, weshalb es "Goatman" genannt wird. Dieser "Ziegenmann" soll ein äußerst unangenehmer Zeitgenosse sein - so wird darüber berichtet, dass er Menschen vergewaltigt und Haustiere und junge Paare tötet. Manche behaupten, beim Goatman handle es sich um einen verrückt gewordenen Ziegenhirten, andere gehen von einem missglückten Experiment aus einer Forschungseinrichtung in Beltsville, Maryland, aus - Geschichten über solche Fabelwesen lassen sich aber schon seit der Antike zurückverfolgen. Berichte über den Goatman lassen sind bis in die späten 1950er Jahre bekannt - damals soll er in Prince George's County, Maryland sein Unwesen getrieben haben. Manche Leute glaubten, er lebe in einer Höhle nahe der Stadt Bowie, andere behaupteten, er hause an einer Brücke in Beltsville oder in der Nähe von Davidson. Aber nicht nur in Maryland, auch in Alabama, Texas und Kentucky soll der Goatman gesehen worden sein - sogar aus Kanada gab es Augenzeugenberichte. Ähnliche Wesen sind etwa der Waterford Sheepman, der 1970 in Pennsylvania eine Kleinstadt terrorisiert  haben soll; das Pope Lick Monster, das nicht nur einen Ziegenkopf, sondern auch Ziegenbeine haben soll; und das Proctor Valley Monster, das über sieben Meter groß sein soll. Als "Beweise" gelten vor allem verstümmelte Tiere und Gipsabdrücke angeblicher Fußspuren - ansonsten kann die Existenz von Mensch-Ziegen-Hybriden nicht bestätigt werden, und darüber sollten wir eigentlich auch froh sein, denn besonders sympathisch finde ich die Beschreibung eines mordenden, vergewaltigenden Ziegenmonsters ehrlich gesagt nicht.

Das nächste Wesen ist nichts für Arachnophobiker - es handelt sich nämlich um J'ba Fofi, eine Riesenspinne, die im kongolesischen Urwald hausen soll. Angeblich gräbt sie unter den Bäumen Tunnel, tarnt ihn mit Blättern und webt ein nahezu unsichtbares Netz zwischen ihrem Versteck und den umliegenden Gewächsen. Ihre Eier sollen hellgelb bis weiß sein und wie Erdnüsse geformt sein; sie kommt sie hellgelb violettem Bauch zur Welt, mit dem Alter wird sie dunkler werden bis ins Bräunliche. Früher soll die J'ba Fofi sehr verbreitet gewesen sein, in jüngster Zeit sei aber selten geworden. Es wird behauptet, dass sich in den 1890er Jahren eine Gruppe britischer Missionare in einem Netz verfangen habe, woraufhin sie von zwei Riesenspinnen angegriffen worden sei. Einer von ihnen sei von einer gebissen worden, habe sich aber retten können, indem er sie erschoss. In der Folge habe er Grippesymptome und eine Schwellung um die Bisswunde entwickelt; er habe deliriert, sei bewusstlos geworden und am Ende seiner Verletzung erlegen. Der Kryptozoologe George M. Eberhard schrieb über ein englisches Paar, das 1938 in den belgisch kolonisierten Kongo reiste, wo ihnen die J'ba Fofi über den Weg lief - die sie zunächst für eine Raubkatze oder einen Affen gehalten haben sollen. Ein anderer Kryptozoologe namens William J. Gibbons hörte, als er gerade auf der Suche nach dem von mir schon behandelten Mokele Mbembe war, von Indigenen Geschichten über braun gefärbte Riesenspinnen mit violetter Zeichnung am Bauch, deren Beinspannweite 1,5 Meter betrüge - sie jagten Waldantilopen, Vögel und anderes Kleinwild, ihr Gift sei jedoch auch für den Menschen gefährlich. 2013 tauchte ein YouTube-Video von einer Nachtsichtkamera bei einem Wasserloch auf, das eine J'ba Fofi zeigte - die Echtheit wird jedoch angezweifelt. Einen wissenschaftlichen Nachweis der Riesenspinne zu erbringen, ist bis jetzt noch nicht gelungen, und ich fürchte, dass das auch so bleiben wird.

Einer der bekanntesten Kryptiden ist mit Sicherheit das Ungeheuer von Loch Ness, über das ich ja bereits berichtet habe - in einem anderen schottischen See, und zwar Loch Morar, soll allerdings ebenfalls ein Monster leben. Auf Schottisch wird es Mhorag, auf Gälisch Mòrag genannt - ein Kofferwort, der sich aus dem Namen des Sees und dem in Schottland üblichen weiblichen Vornamen Morag zusammensetzt -, manche sagen aber auch Maggie. Ähnlich wie bei Nessie, so soll es sich auch bei Mhorag um ein Wesen handeln, das einem Plesiosaurier ähnelt. Erste Augenzeugenberichte stammen aus dem 19. Jahrhundert; 1958 erstellte ein Dr. George Cooper eine Zeichnung von dem Monster, nachdem er es angeblich gesehen hatte. Am bekanntesten ist die Geschichte zweier Fischer aus dem Jahr 1969, die in ihrem Boot mit Mhorag kollidiert sein sollen, woraufhin das Monster angriff und sie sich mit Messer und Schusswaffen zur Wehr setzten, bis es sich entfernte und im Wasser verschwand. Ab den 1970er Jahren werden immer wieder Expeditionen unternommen, um Mhorag zu suchen, aber bisher ohne Erfolg - 1996 stieß ein Taucher auf der Suche nach dem Monster auf das Skelett eines Hirsches auf dem Seegrund, welches er für Mhorags Beute hielt. Fotografische "Beweise" sind selten, gefunden habe ich nur eine Aufnahme eines privaten Blogs, auf der man jedoch nur mit sehr viel Phantasie etwas erkennen kann. Wenn ihr mich fragt, ist Mhorag genauso real wie Nessie, nämlich gar nicht - aber natürlich kann ich mich auch irren. *zwinker zwinker*

Aber nicht nur vermeintliche Fotos, auch archäologische Funde geben mitunter Rätsel auf - so etwa die Zwergenmumie von Wyoming. 1932 fanden zwei Goldgräber in den San Pedro Mountains eine knapp 40 Zentimeter kleine mumifizierte Leiche, sitzend, mit gekreuzten Armen und Beinen in einer Höhle, den Schädel eingeschlagen oder offen. Die bald als "Pedro" bekannte Mumie wurde von verschiedenen Wissenschaftlern untersucht, die bestätigten, dass es sich tatsächlich um einen Menschenkörper handelte, man fertigte auch Röntgenbilder an - die Kreatur verschwand jedoch, ehe die wesentlichen Fragen beantwortet waren, nachdem sie in den Besitz eines amerikanischen Unternehmers überging, dem sie in New York gestohlen worden sein soll.

Experten sind sich uneinig, ob es sich um einen zwergwüchsigen Erwachsenen oder ein deformiertes Kind handelt - manche glauben an eine ausgestorbene kleinwüchsige Ethnie amerikanischer Ureinwohner. Da "Pedro" jedoch unwiederbringlich verloren ist, kann man sich nur auf Berichte der damaligen Zeit stützen: Bekannt ist, dass die Mumifizierung der Gestalt aufgrund der Witterung natürlich erfolgte; sowohl die Haut als auch die Fingernägel sowie das Gebiss waren intakt, die Gesichtszüge jedoch ungewöhnlich, mit flacher Nase und Schädel, dicken Augenlidern und dünnen Lippen. Eine Theorie besagt, dass es sich bei "Pedro" um einen Säugling gehandelt habe, der mit einer Behinderung auf die Welt kam, aufgrund derer er nur wenige Stunden überlebte - dazu würde auch passen, dass Teile des Schädels fehlen, allerdings nicht das vollständige Gebiss. Leider werden wir es wohl nie erfahren, da der wichtigste Teil des Puzzles, die Mumie selbst, nie wieder aufgetaucht ist.

Wie ihr also seht, gibt es haufenweise Geschichten über Lebewesen, die angeblich existieren oder die uns zumindest Rätsel aufgeben. Ich denke, dass es Leute gibt, die daran glauben, hat mit unserer Sehnsucht nach Geheimnissen zu tun, die durch die immer neuen Erkenntnisse der Wissenschaft nach und nach verschwinden - obwohl in Wirklichkeit ja jede gewonnene Erkenntnis wieder tausend neue Fragen aufwirft, aber das scheint wohl manchen zu kompliziert zu sein. Ich hoffe, ich konnte euch für ein paar Minuten von den eher düsteren Nachrichten dieser Zeit ablenken, und dass ihr beim nächsten Mal wieder dabei seit. Bon voyage!

vousvoyez

Sonntag, 6. März 2022

Viele Menschen sind zu gut erzogen, um mit vollem Mund zu sprechen, aber sie haben keine Skrupel, es mit leerem Kopf zu tun

Photo by Olga Subach on Unsplash
Leider begegnen uns solche Leute heutzutage viel zu häufig, so dass der Satz aktueller ist denn je. Und gerade in der momentanen Situation habe ich schon wieder einiges gehört und gelesen, was mir beinahe die Sprache verschlagen hat. Da ich gerade viel um die Ohren habe, war ich, was diesen Blog betrifft, in letzter Zeit etwas nachlässig, und ich habe gehofft, dass ich mich mit einem etwas vergnüglicheren Thema zurückmelden kann. Die Situation ist ähnlich wie vor zwei Jahren in der Pandemie: Schreibe ich darüber oder nicht? Mir ist klar, dass ich keine umfassende Analyse zustande bringen werde - dafür passiert einfach zu viel, und es ist nicht immer möglich, echte von Falschnachrichten zu trennen. Zudem kann ich verstehen, dass viele von dem Kriegsthema so ein bisschen die Nase voll haben. Trotzdem muss ich ein paar Eindrücke zusammenfassen - zumindest in diesem Artikel. Ich habe aber schon wieder ein paar andere Themen am Start, die nicht so schwer sind. Also: Augen zu und durch!

Nun sind ja auch Politiker sowie Medien - auch jene, die sich als seriös verstehen - nicht immer so akkurat, was ihre Berichterstattung angeht. Denn ja - dass Putin seinen Krieg mit der Ukraine auf das ganze Land ausdehnt, ist neu, aber im Grunde herrscht dort doch schon seit 2014 Krieg. Wir hier im Westen haben es bislang allerdings versäumt, ihn als solchen zu benennen - auch wenn Putin dort bereits seit damals, seit der Annexion der Halbinsel Krim, einen hybriden Krieg führt, in dem Bestreben, das Land immer weiter zu destabilisieren, um es am Ende Russland einverleiben zu können. Womit er dabei nicht gerechnet hat, war die Entschlossenheit der Ukrainer, ihre Unabhängigkeit zu bewahren - dafür gibt er dem Westen bzw. der NATO die Schuld. Und nicht nur, dass wir uns beinahe acht Jahre lang geweigert haben, einen Krieg Krieg zu nennen - es war sogar vom "ersten Krieg in Europa nach 1945" die Rede. Nun - meine Mutter war Ende des Zweiten Weltkriegs keine drei Jahre alt, mein Vater war noch gar nicht geboren. Trotzdem kann ich mich an Kriege in Europa erinnern - und zwar wirklich direkt vor unserer Haustür. Ich spreche natürlich vom Krieg in Jugoslawien, und das ist nicht der einzige, der hier unterschlagen wurde. Später wurde dann vom "ersten Angriffskrieg" gesprochen - was jenen Miloševićs gegen Bosnien im Jahre 1992 relativiert. Überhaupt frage ich mich, warum man auf Teufel komm raus reißerische Superlative finden muss - immerhin ist so ein Krieg per se schon eine Negierung der Menschenrechte, da muss man seine Narrative nicht noch weiter aufblähen. Auch dass aus falsch verstandener Neutralität die Schuld bei beiden Seiten gesucht wird, hat nichts mehr mit seriösem Journalismus zu tun - das ist das Wiederkäuen von Putins Propaganda. Zudem finde ich, dass die aktuellen Ereignisse zu wenig in historischen Kontext gesetzt werden, obwohl das wichtig wäre - ich bin einmal so frei und mache das, danach reden wir weiter.

Der Kampf der Ukraine um Autonomie reicht bereits weit zurück in die Vergangenheit und manifestiert sich im Grunde genommen schon in dem seit dem 19. Jahrhundert gebräuchlichen Namen für dieses Gebiet - ukraina ist der altostslawische Begriff für "Grenzland". Im 8. Jahrhundert gründeten eingewanderte skandinavische Händler zusammen mit ansässigen slawischen Völkern auf dem Gebiet, auf dem sich heute die Ukraine, Belarus und Russland befinden, den ostslawischen Staat der Kiewer Rus, der bis ins 12. Jahrhundert bestand, ehe er in viele kleine Fürstentümer zerfiel. Der Streit um die "echten Erben" der Kiewer Rus zwischen Russland, der Ukraine und Belarus hat bis heute Tradition - so behauptet Putin, dass die Ukraine rechtmäßig zu Russland gehört, ganz in der Tradition des zaristischen Russland. Seit dem Zerfall der Kiewer Rus waren Teile der heutigen Ukraine immer wieder unter Fremdherrschaft, etwa Polen-Litauen, die Habsburgermonarchie und das russische Zarenreich. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich eine erste ukrainische Nationalbewegung, die jedoch von russischer Seite massiv unterdrückt wurde. 1869 begann der britische Unternehmer John James Hughes am unbesiedelten Nordufer des Asowschen Meeres, dem heutigen Donbas, vom Zaren unterstützt Abbaugebiete von Steinkohle zu erschließen. Um sein Werk herum entstand die Arbeitersiedlung Juskowa, das heutige Donezk, wordurch der Donbas zum Industriezentrum des russischen Zarenreichs und später der Sowjetunion wurde.

Nach der Russischen Revolution 1917 wurde die Ukrainische Volksrepublik gegründet, deren Territorium jedoch sukzessive von Nachbarstaaten annektiert wurde. 1922 wurde der Rest des Staates als ukrainische, sozialistische Sowjetrepublik (SSR) Teil der Sowjetunion. Tiefe Traumata, die bis heute anhalten, löste zum einen die verheerende Hungersnot 1932/33 (Holodomor), für die viele in Stalins Zwangskollektivierung der Landwirtschaft sowie die Enteignung wohlhabender Bauern und ihre Deportierung in Arbeitslager bzw. Ermordung als Ursache sehen, zum anderen der Zweite Weltkrieg und das Untergehen seiner Opfer in das Kollektiv der ehemaligen Sowjetunion aus. Selbst im eigenen Land überlagert die konfliktreiche Episode der Sowjetunion häufig die kollektive Erinnerung als eigenständiges Land.  Auch nach 1945 blieb die Ukraine Teil der Sowjetunion - 1954 erhielt sie von Nikita Chruschtschow als symbolisches Geschenk zum 300jährigen Jubiläum der russisch-ukrainischen Einheit die Halbinsel Krim, die seit der Besetzung des Zaren im 18. Jahrhundert russisch war, zuvor aber ein Vasallenstaat des Osmanischen Reiches.

Nach dem Zerfall der UdSSR im Jahre 1991 erklärte die Ukraine ihre Unabhängigkeit und den Austritt aus der Sowjetunion - auch mit Zustimmung ihrer der russischsprachigen Bevölkerung, die im Donbas und auf der Krim zur Mehrheit gehört. Drei Jahre später gab die Ukraine im Zuge des Budapester Memorandum ihr Atomwaffenarsenal an Russland ab, das immerhin das drittgrößte der Welt war - im Gegenzug erkannten Russland, die USA und Großbritannien die Souveränität der eigenen Grenzen an, ein Versprechen, das bereits durch die Annexion der Krim und jetzt durch den offensiven Angriff gebrochen worden war. Doch wie viele ehemalige Sowjetstaaten, so kämpfte auch die Ukraine mit wirtschaftlichen Problemen und Korruption. Aus diesen Konflikten gingen einige wenige, aber umso einflussreichere Oligarchen als Sieger hervor. Noch schwieriger gestaltete sich jedoch die Suche nach der eigenen Identität des Landes, da die einzelnen Regionen unterschiedliche historische Erfahrungen hatten: Der Westen orientierte sich eher in Richtung Europa, während der Osten und die Krim sich mit Russland verbunden fühlten. Deshalb richtete die Ukraine ihre Außenpolitik meist in beide Richtungen aus, was jedoch nicht lange gut ging, da sowohl der Westen als auch Russland das Land als strategisch wichtigen Verbündeten wahrnahmen und entsprechend Einfluss auf dessen Wirtschaft und Politik nehmen wollten. Dies manifestierte sich 2004 in den ukrainischen Präsidentschaftswahlen zwischen dem westlich orientierten Wiktor Juschtschenko und dem russisch unterstützten Wiktor Janukowytsch. Der Wahlsieg des Letzteren mündete in den sogenannten Majdan, im Westen die "Orange Revolution" genannt, wochenlange Proteste, bei denen die Menschen orangefarbene Kleidung und Fahnen trugen - die Farbe von Juschtschenkos Wahlbündnis. Nachdem Juschtschenko jedoch in fünf Regierungsjahren keine grundlegende Umwälzung erwirken konnte, erhielt sein einziger Konkurrent Janukowytsch schließlich die Mehrheit der Stimmen. Die Zerrissenheit von Ost und West setzte sich fort: Die Verhandlungen mit der EU über ein Assoziierungsabkommen zogen sich über Jahre und scheiterten 2013 buchstäblich in letzter Minute, woraufhin es neuerliche Proteste gab, deren Lager brutal aufgelöst wurden. So formierte sich 2014 die Massenbewegung des Euromaidan, in der auch gewaltbereite ukrainische Nationalisten kämpften - insgesamt starben bei den Protesten über hundert Demonstranten. Im selben Jahr marschierten russische Soldaten auf der Krim ein, nach einem international kaum anerkannten Referendum wurde die Halbinsel der Russischen Föderation angeschlossen. Währenddessen kam es im Donbas zum Krieg zwischen ukrainischen Soldaten und von Russland unterstützten Kämpfern, ein Konflikt, der nicht nur bis heute ungelöst ist, sondern sich bis zum Einmarsch von Putins Truppen in der letzten Woche auch dramatisch zuspitzte - und einen Beitritt der Ukraine zur NATO unmöglich machte. Dies ist in etwa eine sehr grobe Zusammenfassung der historischen Entwicklung der Ukraine, damit wir überhaupt einmal verstehen, wie die aktuelle Krise zustande kam.

Die Reaktion des Westens auf die Annexion der Krim war 2014 eher zurückhaltend, und auch in den Wochen vor der Ausdehnung des Krieges auf die ganze Ukraine hatte man Putin, dessen Veision eines neuen russischen Imperiums sich allmählich zu manifestieren begann, wenig entgegenzusetzen. Leider wirft diese Zögerlichkeit kein sehr angenehmes Bild auf unsere Gesellschaft - denn wie zuvor durch die Pandemie, so treten ihre Probleme auch durch diesen Krieg deutlicher zutage. Nicht nur haben wir jahrelang so getan, als sei ein Krieg in Europa in der heutigen Zeit unmöglich - wir hielten es auch für unnötig, unserer Demokratie einen wie auch immer gearteten Schutz zu gewährleisten. Mich erschreckt beispielsweise, wie verroht unsere Gesellschaft teilweise schon ist - unter einem Spendenaufruf für die Opfer des Ukraine-Krieges wurde sich in den Kommentaren lang und breit darüber beschwert, dass man es wage, um Spenden zu bitten, wo es einem doch selbst so schlecht gehe. Dies ist offenbar das Resultat von jahrelanger Holocaust-Verharmlosung - jetzt vergleicht man sich schon mit Menschen, die in Bunkern ausharren, aus der Heimat flüchten und männliche Familienmitglieder zwischen 18 und 60 in einem Kriegsgebiet zurücklassen zu müssen, weil der Strom so teuer ist. Mit derselben Rohheit wird zugeschaut, wenn Menschen im Mittelmeer ertrinken, wird in Katar die nächste Fußball-Weltmeisterschaft ausgetragen, gingen die Olympischen Spiele in Peking gerade zu Ende und wird der Abbau wichtiger Rohstoffe unter menschenfeindlichen Bedingungen geduldet - Hauptsache billig.

Genauso hat man tatenlos zugesehen, wie Putins System durch die Inhaftierung und Ermordung unliebsamer Kritiker immer weiter expandieren konnte, während dieser jede Kritik an sich und seinem Regime als "westliche Propaganda" abkanzelte. Er bezeichnet die Ukraine als Bedrohung, weil sie Teil der EU sein wolle, spricht der ukrainischen Bevölkerung die eigene Identität ab und behauptet, er wolle den "Genozid an der russischen Bevölkerung" stoppen, der von einer Regierung aus "drogensüchtigen Nazis" ausgeübt wurde. Das ist schon angesichts dessen, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi selbst Jude und Nachkomme von Menschen ist, die vom Holocaust betroffen waren, mehr als nur ein bisschen lächerlich - es ist grotesk. Und dabei sind diese Behauptungen auch keineswegs neu - man hat sie nur bislang ignoriert. Ebenso, wie ignoriert wurde, dass Putin kein besonders enges Verhältnis zu Fakten hat - und das, obwohl es schon seit langem Beweise gibt, dass diese mit brutalen Mitteln auch außerhalb Russlands unterdrückt wurden. In seinen zwei Jahrzehnten Herrschaft schaltet Putin andere Meinungen aus, zerstört Pluralität und Kritik, lässt Journalisten inhaftieren und foltern sowie alle Medien ausschalten, die es wagen, ihn zu kritisieren. Gleichzeitig betreibt er durch seine Staatsmedien systematische Gehirnwäsche - und das weit über die Grenzen des Landes hinaus, so sehr, dass sie sogar bei ausländischen Wahlkämpfen eine Rolle spielt, sogar hier in Österreich. All dies war hinlänglich bekannt - aber erst jetzt wird darüber diskutiert, ob Medien wie Russia Today und Sputnik für die EU noch tragbar sind. All dies und noch vieles mehr zeigt unseren Unwillen, unsere Demokratie in einer Welt zunehmend erstarkender autokratischer Systeme zu verteidigen.

Ich verstehe auch nicht so ganz, dass jetzt Leute überrascht sind, dass gerade unter Querverrenkern und Rechtsextremen so viele Putinversteher zu finden sind. Dabei argumentieren sie doch genauso wie Putin - auch dieser berief sich in Bezug auf seine militärischen "Übungen" stets auf dieselbe Freiheit und Demokratie, die er in seinem eigenen Land brutal unterdrückt, und stellte alle, die diese Widersprüche benannt haben, als verrückt oder dar Zerstörer des Friedens hin. Genauso werfen jene ganz normalen Leute, die wissentlich mit Kind und Kegel hinter Leuten herlaufen, welche faschistisches Gedankengut verbreiten, jedem, der sie darauf anspricht, die Spaltung der Gesellschaft vor, weil ja auch die, die man nicht "Faschisten" nennen darf, ein Recht auf freie Meinungsäußerung hätten, selbst wenn sie das Gemeinwohl im Namen ihrer Ideologie mit Füßen treten. Entsprechend müssen wir uns auch nicht wundern, dass dieselben Leute Putins Propaganda eins zu eins nachplappern und den Einfall seiner Truppen in die Ukraine als "Selbstverteidigung" betrachten - eigentlich dachte ich immer, dass der Aggressor derjenige ist, der mit zigtausenden Panzern in ein fremdes Land einfällt, und zwar völlig unabhängig von der Vorgeschichte, aber ich bin ja auch nur ein dummes Schlafschaf. Ich habe ja schon in einem anderen Artikel angeführt, dass die großen "Querdenker"-Kanäle ja im Prinzip nichts anderes tun als russische Propaganda wiederzugeben - entsprechend finde ich es auch interessant, dass alle da mitmachen bis auf einen, nämlich Boris Reitschuster, eine der Galionsfiguren der Corona-Leugner. Dieser kritisiert nämlich diejenigen, die sich auf Putins Seite schlagen, und äußert Mitgefühl mit den Ukrainern. Dies bleibt natürlich nicht ohne Folgen - seine ach so treuen Fans sind verwirrt und wütend, weil er ihnen nicht mehr sagt, was sie hören wollen, sondern auf einmal die böse Mainstreammeinung teilt, und kanzeln ihn als "Russlandhasser" ab. Was die anderen betrifft, so bin ich mir nicht sicher, ob sie wirklich so dumm ist und selbst glauben, was sie da schreiben, oder ob sie einfach nur skrupellos sind und kapiert haben, dass man auf diese Weise Kohle aus dem Thema rausschlagen, kann. Was die Kommentatoren betrifft, so fürchte ich, dass sie wirklich dumm genug sind, das alles zu glauben - manche betteln ja sogar darum, dass Putin auch bei uns einmarschiert. Irgendwie scheinen sie nicht zu kapieren, dass es sich hier nicht um einen Egoshooter handelt, sondern um einen echten Krieg mit echten Toten - und dass sie in einem solchen Krieg keine Feldherren wären, sondern genauso Opfer wie alle anderen. Manche haben den Krieg ja anfangs auch geleugnet.

Nun ist es so, dass wir schon über eine Woche mit Kriegsberichten überschüttet werden, und ich fühle mich hilflos und wütend, wenn ich all die jungen Leute sehe, die noch nie eine Waffe in der Hand hatten und die jetzt bereit sind, zu kämpfen. Und ich empfinde Unverständnis, wenn ich mir ansehe, dass hierzulande immer noch Leute gegen eine herbeiphantasierte Diktatur auf die Straße gehen, während in Russland Menschen verhaftet werden, weil sie gegen einen Krieg, den sie nicht wollten, demonstrieren, während es dort verboten ist, ihn überhaupt als Krieg zu bezeichnen. Und deswegen möchte ich auch eines klar machen: Macht nicht die Russen kollektiv für das verantwortlich, was gerade in der Ukraine geschieht - es ist kein "Krieg der Russen", es ist ein Machtspiel Putins. Behandelt eure russischen Mitmenschen also mit demselben Respekt, mit dem ihr auch behandelt werden wollt. Und noch etwas: Obwohl die Lage in der Ukraine katastrophal ist, flaut das Interesse hierzulande langsam ab - und das darf auch sein! Das Leben nimmt nun mal selten Rücksicht darauf, dass man irgendwelche Leute aus einem anderen Land bedauert - irgendwann muss man auch irgendwie weitermachen. Und wahrscheinlich reichen unsere seelischen und geistigen Ressourcen auch gar nicht aus, um all das Leid und Elend dieser Welt angemessen zu betrauern. Ich deute es schon als ein gutes Zeichen, dass viele Menschen aktuell bemüht sind, den ukrainischen Flüchtlingen zu helfen - alles, was ich hoffe, ist, dass nicht die Rechten das Thema irgendwann wieder an sich reißen, wie sie es schon 2015 getan haben.

Was wir gerade erleben, ist absolut irrwitzig, und doch ist es Realität - eine Situation wie diese haben die meisten noch nie unmittelbar erlebt, und das Schlimmste ist, dass man sich ihr völlig ausgeliefert fühlt. Innerhalb von zwei Jahren hat sich die Welt jetzt zum zweiten Mal für immer verändert - und das, nachdem wir endlich hoffen durften, dass wir wieder so etwas wie Normalität erfahren dürfen. Auf die Pandemiesituation konnte man sich noch irgendwie einstellen - das ist jetzt vorbei. Diese Situation hat keiner von uns in der Hand - man kann nur irgendwie weiterwurschteln und hoffen, nicht unterzugehen. Deswegen ist es nur allzu verständlich, dass viele sich dem Thema ganz und gar verschließen - ich persönlich bin da halt anders, ich muss mich damit auseinandersetzen und versuchen, irgendwie zu verstehen, um nicht völlig davon erschlagen zu werden. Gleichzeitig bin ich persönlich gerade in einer Situation, in der ich mich nicht hängen lassen darf, weil es um das Wohl des wichtigsten Menschen in meinem Leben geht - und vielleicht hilft mir das auch dabei, einen klaren Kopf zu behalten. Deswegen nutze ich diesen Blog heute dazu, mir ein wenig Luft zu machen, möchte aber in Zukunft auch versuchen, mich weniger unerfreulichen Themen zu widmen - einfach, damit wir alle mal ein paar Minuten durchatmen können. Es ist vollkommen okay, wenn man Angst hat und sich Hilfe holt - es ist aber auch okay, zu sagen, dass man gerade keine Kraft hat für dieses Thema und Ablenkung braucht. Alles Gute und passt auf euch auf! Und passt vor allem auch auf, welche Nachrichten ihr zu dem Thema teilt - es kursieren zurzeit sehr viele Falschmeldungen. Falls euch das Thema weiterhin interessiert, hänge ich unten noch ein paar Links an. Courage!

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