Samstag, 4. Januar 2020

Ich bin nicht zu dick, ich bin nur gut sichtbar

(c) vousvoyez
Schlagfertigkeit ist natürlich eine wunderbare Eigenschaft, wenn man sich mit dummen Leuten nicht abgeben will. Leider kann das nicht jeder - ich schaffe es auch nicht immer. Das Blöde ist halt, dass ich dann oft zu Unsachlichkeit neige - zumindest in einer Face-to-Face-Situation, wo das Timing passen muss. Und wer sich zu Unsachlichkeiten hinreißen lässt, neigt gleichzeitig dazu, seine Empörung ewig lang mit sich herumzuschleppen.

Ein neues Jahr hat begonnen, ich bin ab nächster Woche auch ein Jahr älter, und ich werde in nächster Zeit auch wieder etwas mehr zu tun haben. Aber derweil genieße ich noch die letzten Tage des Müßiggangs - und was eignet sich da besser, als ein wenig auf das alte Jahr, das alte Jahrzehnt zurückzuschauen und es auf diese Art und Weise auch hinter sich zu bringen?
Nun, das ganze Jahrzehnt oder auch nur das letzte Jahr historisch aufdröseln kann ich jetzt natürlich nicht. Und auch die letzten zehn Jahre meines Lebens würde meine geschätzten Leser und Innen nur langweilen - auch wenn mir das der eine oder andere vielleicht nicht glauben mag. Denn wer auf so bescheuerte großartige Ideen kommt wie ich, der muss ja ein extrem aufregendes Leben haben!

Nun ja, schauen wir uns mal im Groben an, was uns das vergangene Jahr, das Jahr 2019, so gebracht hat: H. C. Strache und Johann Gudenus haben durch eine "b'soffene G'schicht" die Regierung in den Sand gesetzt; Greta Thunberg ist zum amerikanischen Kontinent und wieder zurück gesegelt; verheerende Waldbrände im Amazonas und in Australien; Peter Handke gewinnt den Literatur-Nobelpreis - alles Themen, über die man sich wunderbar aufregen, ja empören kann. Und deswegen will ich heute von Dingen sprechen, über die wir uns im letzten Jahr ereifert und empört haben. Es soll aber nicht um die großen Dinge gehen - die wurden und werden schon ausreichend abgehandelt. Nein, ganz absichtlich gehe ich in diesem Artikel auf die Lappalien ein, über die man eigentlich gar nicht diskutieren muss - aber eben weil so viele Leute sich darüber das Maul zerfetzt haben, zerre ich sie noch einmal erbarmungslos ans Licht der Öffentlichkeit. Jedenfalls, soweit sie mir selbst noch in Erinnerung sind. Panem und circenses, das wussten schon die alten Römer. Aber das dürft ihr jetzt alle ganz fleißig selbst googeln! Hihihi...

Das erste große Fest nach dem Jahreswechsel - vom Tag meiner Geburt natürlich mal abgesehen - ist ja bekanntlich der Fasching, in Deutschland auch Karneval genannt. Dieser wird von unseren geliebten Nachbarn ja noch weitaus exzessiver gefeiert als von uns selbst - auch wenn ich den österreichischen Fasching schon unerträglich finde. Ja, ich hasse den Fasching! Und zwar mehr als alle anderen Feste im Jahr. So, jetzt ist es raus! Reden wir nie wieder darüber.
Jedenfalls ist es ja so üblich, dass man sich im Fasching verkleidet. Natürlich tut man das bei uns mittlerweile auch zu Halloween - darüber kann man sich ja auch empören, weil Halloween keine in unseren Breiten übliche Tradition ist, sondern irgendwann einmal von den Amerikanern übernommen wurde, die es wiederum von den Iren adaptiert haben. Ich war als Kind noch kein so großer Faschingsmuffel wie heute, weshalb ich mich auch verkleidet habe: als Marienkäfer, als Laubfrosch, als Teddybär, als Musketier, als Vampir. Zu den beliebtesten Kostümen bei Kindern zählen seit der Nachkriegszeit sicherlich Cowboy und Indianer; auch im Kindergarten, in der Schule und auf den Kinderfesten, auf denen ich eingeladen war, liefen immer ein paar Cowboys und Indianer herum. Wobei man fairerweise dazu sagen muss, dass unser Indianerbild nicht wirklich von den echten Native Americans geprägt ist, die bis heute noch nicht die Anerkennung als Opfer eines erbarmungslosen Völkermordes erhalten haben, der ihnen gebührt, und jahrzehntelang ihre Wurzeln verleugnen mussten, sondern natürlich von den Abenteuergeschichten Karl Mays, der zu dem Zeitpunkt, als er seine Wild-West-Romane schrieb, Amerika nie gesehen hat. Ich erinnere mich noch daran, wie verblüfft ich war, als mir meine Großmutter einst, als ich noch sehr klein war, das Foto eines Jungen aus einem Volk der amerikanischen Ureinwohner zeigte, der so ganz anders aussah als die Indianer in den Winnetou-Filmen. Deswegen verwende ich das Wort "Indianer" auch nicht als Synonym für Native Americans, sondern bezeichne damit die Phantasiefiguren bei Karl May.
Im letzten Jahr bat die Leitung zweier deutscher Kindertagesstätten anlässlich des bevorstehenden Faschingsfestes, Verkleidungen zu überdenken, die Stereotype bedienen, etwa die des Indianers oder Scheichs. Die deutsche BILD-Zeitung, noch reißerischer als die österreichische Krone, aber wichtiger als das bei uns heimische Müllblatt oe24, behauptete sofort, dass Indianerkostüme in diesen Kitas verboten worden seien, und der gesamte deutschsprachige Raum regte sich kollektiv auf - wobei die Debatte immer mehr ins Reich der Phantasie abglitt. Rechte Medien gaben natürlich wieder der politischen Korrektheit der "Grünen" und der angeblich fortschreitenden "Islamisierung" die Schuld daran, dass "man" sich angeblich nicht mehr im Fasching als Indianer verkleiden darf.
Nun gut, dass man sich in letztere beide Thesen versteigt, ist natürlich mehr als nur lächerlich. Abgesehen davon müssen kulturelle Stereotype nicht zwangsläufig schlecht sein - bei unserem großen Trachtenfest im Herbst werden durchaus auch häufig Asiaten und Afrikaner in unserer Landestracht fotografiert. Ein "Richtig" oder "Falsch" gibt es bei der Geschichte wohl nicht. Auch wenn es mal ein wichtiger Schritt wäre, auch die Gefühle der Betroffenen zu respektieren. Deswegen habe ich hier auch den Artikel eines "echten" Native Americans verlinkt, der all das erlebt hat, was wir hier in Europa in diesem Ausmaß gar nicht kennen. Ich sage nicht, dass man all dem zu hundert Prozent zustimmen muss. Aber man sollte durchaus mal darüber nachdenken, dass es eventuell für andere verletzend sein könnte, wenn man sich gedankenlos einer Tracht bedient, die denjenigen, zu denen sie eigentlich gehört, lange Zeit zu tragen verboten war. Aber statt dass wir uns auf vernünftige Art und Weise mit dem Thema auseinandersetzen, fangen wir an, zu jammern, dass man ja "überhaupt nichts mehr darf". Das ist genauso wie mit den Leuten, die sich das ganze Jahr über darüber beschweren, dass man gewisse Lebensmittelprodukte heutzutage nicht mehr Negerküsse und Zigeunerschnitzel nennt. So als hinge unsere gesamte Kultur ausschließlich von der stereotypen Wahrnehmung anderer Völker ab.

Einrichtungen für Kinder haben in diesem Jahr besonders oft für Empörung gesorgt - beispielsweise die Förderschule in Aschaffenburg, die es wagte, wegen des Ramadans ein Schulfest zu verschieben, ohne erst mal den gesamten deutschsprachigen Raum um Erlaubnis zu fragen. Intention war, dass niemand von dem Fest ausgeschlossen werden sollte, aber offensichtlich veröffentlichte ein Elternteil das Mitteilungsblatt, das darüber informierte, auf Social Media. Sofort machte der Post die Runde, und wieder einmal wurde ein Shitstorm losgetreten, den die Entscheidung einer einzelnen Kleinstadtschule gar nicht wert war. Die Schule erhielt zahlreiche Hass-Mails nicht nur aus Deutschland, sondern sogar aus dem Ausland. Nun, zu jeder Zeit hat schon mal eine Schule ein Fest verschoben. Dass deswegen so ein Theater veranstaltet wird, ist einfach nur dumm - und wäre sogar lustig, hätte es nicht so viel Hass gegen die Kinder gegeben, die für die Fehltritte der Erwachsenen gar nichts können.

Noch schlimmer hat es da zwei private Kindertagesstätten in Leipzig getroffen, deren Leitung es doch tatsächlich gewagt hat, den internen Speiseplan zu ändern - ebenfalls, ohne die Wahnwichtel erst um Erlaubnis zu fragen. Was diesen natürlich überhaupt nicht passte. Was ist letztlich passiert? Nun, die Kitas haben das Schweinefleisch aus dem Speiseplan genommen, um muslimischen Kindern das gemeinsame Essen mit den anderen zu ermöglichen. Was natürlich eine Unverfrorenheit ist, einfach so mir nichts, dir nichts das Schweinefleisch zu verbieten - Moment...
Von einem "Verbot" war gar nicht die Rede - niemand hat behauptet, dass man der deutschen Mutti verbieten müsse, ihr Kind zu Hause bis zum Anschlag mit Schweinefleisch vollzustopfen. Niemand hat behauptet, dass der Deutsche sein geliebtes Schweinefleisch nicht mehr essen darf. Die Debatte ging sogar bis zu uns nach Österreich - gibt's was Peinlicheres? Jawohl - und zwar, dass die mediale Zündelei zu Drohungen gegen die Kita geführt hat. Einer Einrichtung für kleine Kinder!
Das einzig Positive daran: Ich hatte ab und zu auch Spaß. Beispielsweise, als die FPÖ in einem flammenden Post gegen den Verzicht von Schweinefleisch aufrief und dazu ein paniertes Fischfilet postete. (Ich könnte ja fragen, was mit denjenigen geschieht, die aus nicht-religiösen Gründen kein Schweinefleisch essen wollen - beispielsweise, weil es ungesund ist. Und ob man jetzt alle Muslime mit Schweinefleisch zwangsernähren will. Aber ich glaube, das führt zu nichts.)

Wie ich letztes Jahr schon ausgeführt habe, ist auch die Vorweihnachtszeit ein dankbarer Vorwand, um in Hysterie zu verfallen. Darüber habe ich ja im letzten Jahr schon berichtet. In diesem Jahr ging es allerdings schon im Oktober los, als die Supermarktkette Aldi, das deutsche Pendant zu unserem Hofer, den sogenannten "Herbststern" verkaufte, eine Abwandlung des tropischen Wolfsmilchgewächses Euphorbia pulcherrima, das bei uns als "Weihnachtsstern" bekannt und schon seit vielen Jahren traditionell in der Weihnachtszeit als Topfpflanze in vielen Haushalten zu finden ist. Es gab gleich einmal einen riesigen Shitstorm gegen Aldi, obwohl es noch einige Zeit dauern sollte bis Weihnachten. Weiter ging's mit einer anderen Abwandlung namens "Winterstern", so genannt, weil die Hochblätter eine andere Farbe hatten als der klassische Weihnachtsstern. In dem Stil ging's dann die ganze Adventszeit über weiter; ein AfD-Politiker fotografierte die Rückseite eines Adventskalenders der Süßigkeitenmarke Kinder und echauffierte sich darüber, dass da nicht "Adventskalender" drauf stand - nun, ich schreibe auf die Gegenstände, die mich umgeben, auch immer "Tisch", "Stuhl", "Decke", "Wäscheständer" und "Tür" drauf, weil ich von allein nie draufkommen würde, worum es sich handelt. Jeder andere, der das nicht so macht, ist übrigens islamisiert. So wie Nestlé - deren Schoko-Weihnachtsmann heißt nämlich "Klapperklaus". Dass er deswegen so heißt, weil sein Hohlkörper mit Smarties gefüllt ist, die klappern, wenn man ihn schüttelt, dass es diesen bereits seit 2004 gibt und dass es lächerlich ist, dahinter eine "Islamisierung" zu vermuten, kann nur jemand behaupten, der natürlich auch schon islamisiert ist. Am dümmsten aber war die Aufregung gegen den "Zwarte Piet", eine dunkelhäutige Schokofigur, die in der flämischen Kultur - also Belgien und den Niederlanden - als Helfer von Sinterklaas, also dem Nikolaus, bekannt ist. Mit einem Wort: Man hetzte hier gegen eine alte christliche Tradition. Lustig an der Geschichte ist, dass es dieselbe Diskussion auch schon in den Niederlanden gibt - nur andersherum. Dort werden Menschen mit dunkler Hautfarbe nämlich oft abwertend "Zwarte Piet" genannt, weshalb über die Abschaffung dieser Figur diskutiert wird.

Und last but not least möchte ich noch auf ein sehr leidiges Thema eingehen, das in den letzten Tagen des Jahres die Gemüter aufgehetzt hat, die sich bis jetzt noch nicht so richtig beruhigt haben. Und zwar geht es um einen Beitrag des Fernsehsenders WDR 2. Ich muss ganz ehrlich sagen, ich weiß nicht einmal, ob ich den überhaupt noch empfange - seine Inhalte waren für mich, offen gestanden, nie wirklich interessant. Halt ein ausländischer Sender von alten Leuten für alte Leute. Auf diesem Sender wurde Anfang dieser Woche von einem Kinderchor ein Lied vorgetragen, das die Gemüter erhitzte - ich habe es hauptsächlich deshalb mitbekommen, weil es so oft auf Facebook geteilt wurde. Es war eine teilweise umgedichtete Version des beliebten Kinderliedes Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad, das ich im Volksschulalter ebenfalls geliebt habe und das leicht abgewandelt mit dem Schlusssatz "Meine Oma ist 'ne alte Umweltsau" gesungen wurde. Nun bin ich persönlich der Meinung, dass sich dieses Lied den Titel "Satire" nicht wirklich verdient hat - dafür ist es zu platt, es ist einfach nichts anderes als reiner Klamauk, typischer Grundschul-Humor. Für einen Abend am Lagerfeuer im Pfadfinderlager vollkommen okay - in einer Fernsehsendung wohl eher nicht. Auch, weil man als Medienverantwortliche/r eigentlich schon hätte wissen müssen, wohin das führt. Erst recht, wenn bei mir, obwohl meine Medienkompetenz dagegen kaum erwähnenswert sein dürfte, beim Hören dieses Lieds schon alle Alarmglocken läuteten. Und wie sich herausstellen sollte, zu Recht. Nur wenige Stunden später hagelte es nämlich einen Shitstorm von allen Seiten, weil sich gefühlt jeder Zweite bemüßigt fühlte, die eigene Oma sowie ganz allgemein das "Heiligtum" Großmutter zu verteidigen. Der WDR entschuldigte sich in einer Sondersendung und zog das Video zurück. Die Gemüter beruhigt hat er damit nicht - im Gegenteil, jetzt mussten auch noch Leute ihren Senf dazugeben, die gar nicht mehr die Möglichkeit hatten, dieses Lied in seiner Gänze zu hören.

Irgendwie scheinen wir aktuell in einer Zeit zu leben, in der man sich ständig verpflichtet fühlt, die ältere Generation verteidigen zu müssen. Es gibt ein beliebtes Meme, in der die Jugend, die für FFF demonstriert, aufgefordert wird, doch lieber dafür zu demonstrieren, dass deutsche Rentner nicht mehr Pfandflaschen sammeln müssen. Und man hält derzeit besonders krampfhaft am Mythos der "Trümmerfrauen" fest, die sowohl Deutschland als auch Österreich angeblich ganz allein mit den eigenen Händen nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut haben. Entsprechend grub man diese Geschichte auch gleich wieder aus und verteidigte die eigene Oma, die noch Socken gestopft, Pullover gestrickt und ihre Einkäufe per pedes im Einkaufsnetz vom Greißler am Eck nach Hause transportiert habe. Ganz abgesehen davon, dass die Oma in dem Lied, wie schon gesagt, fiktiv ist und auch in den Fünfzigern, als es entstand, wohl kaum eine Oma im Hühnerstall Motorrad gefahren ist, sind die Kinder, die das Lied gesungen haben, wohl doch noch viel zu jung, als dass deren Großmütter noch zu den Trümmerfrauen gerechnet werden können - diese Kinder haben Großmütter, die in den fünfziger und sechziger Jahren geboren sind, die also bereits die Annehmlichkeiten des Wirtschaftswunders genossen haben und die entbehrungsreiche Zeit nach dem Krieg nur noch aus Erzählungen kennen ("Als ich in deinem Alter war, hab ich Steine schleppen müssen!"). Im übrigen habe ich die Originalversion als Kind auch gesungen - und selbst damals schon kapiert, dass damit nicht meine eigenen Großmütter gemeint sind.

Nun, was die Oma betrifft, so hätte ich einen Vorschlag: Statt sich gegenseitig im Internet zu beschimpfen, können doch all diejenigen, die so wahnsinnig empört sind, ein paar Stunden die Woche dafür aufwenden, die eigene Oma besuchen zu gehen. Und wer keine mehr hat, könnte sich ja alternativ um eine der vielen alten Damen kümmern, die keine Enkelkinder haben. Was die oben aufgezählten Lappalien ganz allgemein betrifft: Mir ist aufgefallen, dass alle ihren Ursprung in Deutschland haben. So geht das aber nicht, dass unsere werten Nachbarn uns beim Raunzen so viel Konkurrenz machen! In diesem Jahr hat sich das zu ändern, aber zackig! Gebt euch ein bisschen Mühe, meine lieben Landsleute!

vousvoyez


Kostüme: https://www.mopo.de/hamburg/politisch-korrekter-fasching-hamburger-kita-verbietet-indianer-kostueme--32163248
https://www.vice.com/de/article/zma8ze/liebe-deutsche-indianer-kostume-an-karneval-sind-nicht-lustig

Schulfest: https://www.mimikama.at/allgemein/schulfest-verschoben/

Schweinefleisch: https://www.mimikama.at/allgemein/schulfest-verschoben/

Die Oma: https://www.zeit.de/kultur/2019-12/wdr-kinderchor-umweltsau-oma-klima-kommentar