Ach, die gute alte Zeit, als man noch den zehnbändigen Brockhaus im Bücherregal stehen hatte, in dem man nachschlug, wenn man etwas wissen wollte! Und als mein Vater mit der riesigen Landkarte am Straßenrand im Auto saß und versuchte, herauszufinden, wo er hinfahren musste! Das geht heutzutage natürlich alles einfacher - demzufolge ist es natürlich auch eine mittlere Katastrophe, wenn Wikipedia mal für 24 Stunden ausfällt. Spätestens seit Beginn meiner Studienzeit ist das Internet auch ein integraler Bestandteil meines Lebens. Und spätestens seit dem Arabischen Frühling kann es auch gesellschaftliche Umbrüche bewirken.
In letzter Zeit ist eine Jugendliche in aller Munde - die sechzehnjährige Greta Thunberg. Eigentlich sollte das klar sein, aber ich folge mal dem Beispiel des Volksverpetzers und stelle zuerst mal eines klar: Greta ist nicht meine Heldin oder mein Idol. Ich begrüße es durchaus, dass sie den Mut hatte, aufzustehen und sich für eine Verbesserung der Lebensbedingungen auf unserem Planeten einzusetzen. Aber das macht mich nicht zu ihrem "Fan". Jugendliche und junge Erwachsene sind oftmals naiver als Ältere - aber ihre Unbedarftheit und ihr Optimismus sind oftmals besser dazu geeignet, sich Problemen zu stellen, als die Abgestumpftheit und Resignation der Älteren. Die Hippies in den Sechzigern hatten naive Ideale, die in ihrer Gesamtheit nicht durchführbar sind, aber das Umdenken der Jugend in der damaligen Zeit hat durchaus auch Dinge verändert, und das nicht zum Negativen - beispielsweise den liebevolleren Umgang mit den eigenen Kindern, den offeneren Umgang mit Sexualität oder, wenn auch nicht Gleichberechtigung, so doch eine erhebliche Verbesserung der Stellung der Frau. Klar, manche sehen das heute nicht mehr als Verbesserung an - am besten wäre es wohl für manche, wir würden in die fünfziger Jahre zurückkehren - zumindest in das, was sie sich als die fünfziger Jahre vorstellen. Aber hatten wir das nicht schon?
Jedenfalls hat sich die Jugend vorgenommen, Gretas Beispiel zu folgen und für eine Lösung der Klimakrise zu demonstrieren. Ja, ich weiß, dafür setzen sie ihre Zukunft aufs Spiel, weil sie der Schule fernbleiben. Aber machen wir uns doch nichts vor - es sind diese Menschen, denen wir diesen Planeten hinterlassen. Und es ist uns Erwachsenen offenbar scheißegal. Sonst würden wir auf ihre Forderungen eingehen, anstatt Fake News in die Welt zu setzen, uns via Internet den ganzen Tag über die inkonsequenten Schulschwänzer aufzuregen und einen Teenager zu diskreditieren.
Natürlich kann man einwenden, dass der Friedensnobelpreis vielleicht ein bisschen hoch gegriffen ist. Aber ganz ehrlich - es haben schon Leute für deutlich weniger diesen Preis bekommen. Greta ist vielleicht nicht die Heldin, für die sie viele halten, aber sie hat es zumindest geschafft, junge Leute zu mobilisieren und den Dialog über die Klimakrise anzuheizen. Wir werden die Klimaschutz-Ziele, die wir uns gesetzt haben, mit Sicherheit nicht erreichen, aber irgendwie scheint das keinen zu stören. Ganz im Gegenteil - es gibt genügend Leute, die den menschengemachten Klimawandel immer noch leugnen, mit dem Argument, das Klima sei nicht statisch. Klar - das stimmt schon. Aber sind wir uns doch ehrlich - nie hat sich das Klima so rasant verändert wie in den letzten Jahren und Jahrzehnten.
Doch anstatt Themen wie dieses aufzugreifen, wird einfach an allem vorbeigeredet und auffällig viel Energie darauf verschwendet, gegen die böse Jugend zu wettern und speziell ein Kind in Misskredit zu bringen. Dabei ist es doch unsere Schuld, dass ausgerechnet ein Teenager sich dieses Problems annimmt - wir tun es ja nicht. Und ja, es mag sein, dass der eine oder andere von dem Gesicht dieses Mädchens schon genervt ist - aber das rechtfertigt nicht die mediale Hetze gegen sie, es rechtfertigt keine Fake-Profile mit ihrem Namen, deren Profilbild nicht sie, sondern ein kleines Mädchen mit Down-Syndrom zeigt und in denen gegen Jugendliche und Menschen mit Behinderung gehetzt wird, und es rechtfertigt nicht, dass über sie ständig Fake News und Verschwörungstheorien verbreitet werden. Ganz offensichtlich sind etwa 50% der Accounts, die Lügengeschichten über Greta vertreiben, ebenfalls gefaket - was wohl bedeutet, dass man hier noch mehr Kritiker "erfindet", als es tatsächlich gibt. Mein Lieblingsargument ist, dass ihr Urgroßvater angeblich den Klimawandel erfunden hat und ein guter Freund von Alfred Nobel gewesen sein soll - und überdies den Nobelpreis für Chemie erhielt. Selbst wenn - der Mann ist seit 90 Jahren tot. Sehr unwahrscheinlich, dass er sie dazu "angestiftet" hat. Ganz abgesehen davon, dass man den Klimawandel genauso wenig "erfinden" kann wie die Gravitation. Und die Geschichten über ihre Familie sind teilweise auch ganz schön an den Haaren herbeigezogen - ich werde aber unten noch einen Artikel dazu verlinken. Am schlimmsten finde ich aber die diskriminierenden Äußerungen aufgrund ihres Asperger-Autismus. Ja, ich weiß, heutzutage scheint echt jeder Experte zu sein, wenn es um Autismus geht. So gibt es diejenigen, die behaupten, dass sie ihre Aktionen aufgrund ihres Autismus gar nicht selbst gestartet haben kann - sie sei ja geistig eingeschränkt und deswegen gar nicht fähig dazu. Dazu kann ich nur eines sagen: Nein, Menschen mit körperlichen und/oder geistigen Einschränkungen sind nicht unfähig, selbst zu denken oder sich eine eigene Meinung zu bilden. Und nein, Asperger-Autismus ist keine "Krankheit" - es beschreibt lediglich eine Entwicklungsstörung, die sich aber nicht oder nur sehr leicht auf die kognitiven Fähigkeiten auswirken. Was bedeutet, dass Asperger-Autisten größtenteils normal oder sogar überdurchschnittlich intelligent sind. Und ich sage es noch einmal: Autisten haben sehr wohl Gefühle, es fällt ihnen lediglich schwer, die Gefühle ihrer Mitmenschen einzuordnen, weshalb sie in ihrer Kommunikationsfähigkeit häufig eingeschränkt sind. Und die Leute werden auch nicht müde, ständig dieses langweilige Bild von Greta beim Essen im Zug zu posten, auf dem ein paar Plastikverpackungen zu sehen sind. Abgesehen davon, dass man von niemandem verlangen kann, absolut perfekt zu sein - ich denke, wer sich über den eigenen Plastikverbrauch keine Gedanken macht, braucht auch nicht solche Memes zu teilen.
Aber die Diskreditierung und Fake News beschränken sich nicht nur auf die Person Greta Thunberg, sondern auf alle Jugendlichen, die sich für Klimaschutz einsetzen. Und mir drängt sich der Gedanke immer mehr auf, dass es hauptsächlich darum geht, weiterhin ungestört über die heutige Jugend herziehen zu können. Vor nicht allzu langer Zeit reichte es, darüber zu klagen, dass sich die jungen Leute heutzutage nur noch für ihre Smartphones interessieren. Jetzt interessieren sie sich für was anderes, und das ist in den Augen vieler auch falsch - und viele dieser "Kritiker" lassen es auffällig an dem Anstand und Respekt mangeln, den sie von der Jugend so dringend fordern. Doch es geht nicht nur darum - es geht auch darum, dass man das eigene bequeme Leben nicht aufgeben muss. Denn Plastik ist praktisch, Fleisch schmeckt gut und Müll trennen ist anstrengend, ebenso wie der zeitweilige Verzicht aufs geliebte Auto. Ein beliebtes Argument ist ja auch, die Jugend solle lieber gegen Altersarmut auf die Straße gehen - warum zum Geier die Jugend und nicht wir selbst? Und wenn uns die Schulausbildung unserer Kinder so wichtig ist, warum kümmern wir uns dann nicht selbst um den Klimaschutz? Ganz offensichtlich wollen wir die Verantwortung einfach nur abschieben - weil es viel bequemer ist, sich vom Wohnzimmersessel aus zu empören.
Darüber hinaus ist es für mich schon sehr auffällig, dass sich ganz plötzlich alle, ob Eltern bzw. Lehrer oder nicht, total für die Ausbildung unserer Jugend interessieren. Die ganze Zeit davor hat das ja auch niemanden gejuckt, der nicht unmittelbar betroffen war - und oft nicht mal diejenigen, wie betroffen waren. Ständig wird über Lehrermangel und Budgetkürzungen gejammert, dauernd werden Reformen gefordert, aber irgendwie geht da schon seit Ewigkeiten nicht wirklich was weiter. Und überdies - seit es die Schulpflicht gibt, gibt es auch Schulschwänzer. Wer kann behaupten, dass es in der eigenen Generation, die ja sowieso das Maß aller Dinge zu sein scheint, keine Schulschwänzer gab? Oder dass er oder sie überhaupt gar nie im Leben schon mal Schule geschwänzt hat? Und nicht, um auf Demos zu gehen, sondern um fernzusehen oder sich herumzutreiben. Klar, man wird nicht ganz verhindern können, dass es Schüler gibt, die tatsächlich die günstige Gelegenheit zum Schwänzen ergreifen - aber kann man es ihnen verdenken? Und überdies holen die Schüler, soweit ich den Überblick habe, die Fehlstunden sowieso nach. Und überhaupt - auch Arbeiterstreiks finden nicht in der Freizeit statt, außerdem wurde auch an schulfreien Tagen demonstriert. Abgesehen davon - wenn man nicht will, dass die Kinder die Schule schwänzen, warum hört man sich ihre Sorgen dann nicht an und übernimmt sie vielleicht selbst? Ach ja, das hab ich vergessen - weil einem dann die Zeit fehlt, um über andere herzuziehen.
Denn das ist ja lustig und überdies auch bequem. Und so werden nicht nur dreiste Lügen über Greta, sondern auch über die Demonstrierenden an sich verbreitet. Ich sehe dieser Tage oft Fotos demonstrierender Schüler, deren Plakate mit irgendeinem Computerprogramm bearbeitet wurden, so dass die Botschaften auf einmal ganz anders lauten als ursprünglich. Die Fälschungen sind so schlecht und billig, dass ich mich ernsthaft frage, ob der Verursacher sich nicht dafür schämt - aber anscheinend fällt das vielen nicht auf. Warum auch - wenn das bearbeitete Foto die eigenen Vorurteile bestätigt, reicht das doch. Was natürlich die Frage aufwirft, warum man Argumente erfinden muss, wenn man doch sowieso vollkommen recht hat. Oder ob man dies nicht vielmehr deswegen tut, um sich nicht mit den Argumenten auseinandersetzen zu müssen.
Und natürlich dürfen wir nicht vergessen: Diese Argumente sind null und nichtig, weil Greta etwas aus einer Plastikverpackung gegessen hat und weil die Schüler nach der Demo auch Müll produziert haben - aber macht das das Thema weniger wichtig? Keiner der Menschen, die jemals versucht haben, die Welt zu verändern oder zu verbessern, war völlig fehlerfrei; ich bin es nicht, meine lieben Leser und Innen sind es nicht und all die kritisierenden Besorgtbürger sind es auch nicht - warum sollte es Greta und warum sollten es die anderen Schüler sein? Kein Mensch verlangt, dass wir im Wald leben müssen - es geht nicht darum, dass Autos und Plastik überhaupt nicht mehr benutzt werden dürfen, es geht darum, den wahnwitzigen Verbrauch von Ressourcen zu reduzieren. Und nein, auch Aussagen wie "dann sollen sie sich nicht von den Eltern mit dem SUV zur Schule kutschieren lassen" gelten nicht - denn wie der Satz schon erklärt, fahren die Eltern den SUV und nicht die Schüler, und wenn man so wahnsinnig besorgt um das Kind ist, kann man es auch zu Fuß zur Schule begleiten. Auch hier - es sind in erster Linie die Erwachsenen gefordert. Und überdies scheinen sich viele Schüler ja tatsächlich ernsthaft Gedanken um Fleischkonsum oder Mülltrennung zu machen, seit dieses Thema präsent ist - was interessieren uns da die paar, die das nicht tun? Zeitweise habe ich aber auch das Gefühl, dass da auch sehr viel schlechtes Gewissen und Scham dabei ist; wir mussten von den Kindern auf die Probleme unserer Klimapolitik aufmerksam gemacht werden - ist es dann aber nicht ebenso peinlich, wenn wir von ihnen verlangen, dass sie uns ökologische Nachhaltigkeit vorleben?
Dieser ganze Shitstorm, den wir auf die nächste Generation herabregnen lassen, ist also leicht zu durchschauen - es geht darum, uns wieder mal über die Jugend von heute aufzuregen und gleichzeitig vom Thema abzulenken. Aber wir dürfen eines nicht vergessen - diese jungen Leute müssen eines Tages diese Welt selbst gestalten. Und wir hinterlassen ihnen einen Haufen Probleme, die wir selbst verursacht haben oder immer noch verursachen. Abgesehen davon: Hören wir endlich auf, so zu tun, als würden wir uns für Themen interessieren, die uns eigentlich, salopp gesagt, am Arsch vorbeigehen! Das ist nämlich tatsächlich Heuchelei - und zwar von der übelsten Sorte.
vousvoyez
Fake News über Greta: https://www.volksverpetzer.de/hintergrund/geruechte-greta/
Klimaquiz debunked: https://scilogs.spektrum.de/klimalounge/das-klimaquiz-der-afd-die-aufloesung/