Sonntag, 21. August 2022

Seit ich quer denke, stoße ich immer gegen den Türrahmen – gerade denken ist weniger schmerzhaft!

©vousvoyez
Nun haben wir ja schon im letzten Artikel besprochen, dass es nicht sehr ratsam ist, quer zu denken, bevor man das Geradeausdenken nicht gelernt hat. Wobei Querdenken ja ursprünglich eine positive Bedeutung hatte - es bedeutete, über den eigenen Tellerrand zu sehen und neue Ideen zu etablieren. Leider tun diejenigen, die sich heute als Querdenker bezeichnen, gerade das nicht - denn sie akzeptieren nur die, die ihre eigenen Phantasien bestätigen. Und bisweilen habe ich den Eindruck, dass viele von ihnen, wenn sie noch Jugendliche wären, diese dämlichen Challenges mitmachen würden, über die ich mich schon seit geraumer Zeit so auslasse.

So habe ich bereits vor über einem Jahr von der Blackout-Challenge berichtet, bei der Kinder und Jugendliche sich vor der Kamera selbst bis zur Bewusstlosigkeit strangulieren, um das Video dann auf TikTok zu stellen. Das ging so weit, dass ein paar von diesen Kindern sich dabei tatsächlich erdrosselten. Kürzlich haben nun Eltern aus den USA TikTok tatsächlich verklagt, nachdem ihre Kinder, ein achtjähriges Mädchen aus Texas und ein neunjähriges aus Wisconsin, bei dieser Challenge ums Leben gekommen waren. Tatsächlich hat TikTok inzwischen mitgeteilt, dass es den Hasthag #BlackOutChallenge in seiner Suchmaschine gesperrt hat. Eine weitere Dummheit, vor der vor allem Anfang 2020, noch vor dem ersten Lockdown, häufig gewarnt wurde ist die Skull Breaker Challenge: Zwei Personen treten einer dritten die Beine im Sprung weg, so dass sie hintenüber auf den Boden knallt, was natürlich ein hohes Risiko für Kopfverletzungen zur Folge hat. Dazu muss man allerdings sagen, dass diese Challenge zwar saudumm ist und absolut nicht nachgemacht werden sollte, aber auch keineswegs so ein großer Trend war wie etliche Beiträge in sozialen Netzwerken es suggerierten. Kein Wunder - die Videos sehen äußerst schmerzhaft aus, und ich hätte auch als Jugendliche liebend gern darauf verzichtet.

Nun sind Internet-Challenges natürlich kein ganz neues Phänomen, und sie sind auch nicht zwangsläufig dumm und gefährlich - man erinnere sich etwa an die im Lockdown so beliebte Jerusalema-Challenge, bei der Menschen aus aller Welt zu einem südafrikanischen Hit tanzten, um in diesen düsteren Zeiten etwas Lebensfreude zu verbreiten. Auch andere Aktionen, die viral gingen, waren einfach nur lustig, wie etwa die Owling Challenge, bei der man sich irgendwo hinhockt und versucht, wie eine Eule auszusehen - einer der wenigen Momente, als ich über Stefan Raab tatsächlich einmal lachen konnte -, oder sollten auf Problematiken aufmerksam machen, etwa die  ALS Ice Bucket Challenge, welche die Krankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) thematisierte: Gesunde Menschen kippten sich einen Eimer voll eiskaltem Wasser über den Kopf, um durch das Gefühl der Lähmung, das dabei für ein paar Sekunden entsteht, nachvollziehen zu können, wie sich Betroffene ihr Leben lang fühlen. Aber auch die älteren, eigentlich harmlosen und ausschließlich lustig gemeinten Challenges konnten auch gefährliche Ausmaße annehmen: So gab es einen Trend, der sich "Planking" nannte und bei dem sich Facebook-User an verrückten Orten gerade und flach mit dem Gesicht nach unten hinlegten - einige begannen jedoch, sich für diese Aktion gefährliche Plätze auszusuchen, wie jener Mann, der in Australien im 7. Stock von einem Balkongeländer stürzte.

Im Laufe des vorigen Jahrzehnts begannen die Internet-Challenges jedoch, sich ganz allgemein in eine ungesunde oder gar lebensgefährliche Richtung zu entwickeln - ich habe ja bereits öfter von solchen berichtet. Am bekanntesten sind wohl die Blue-Whale-Challenge, bei der es darum gehen sollte, Jugendliche in den Suizid zu treiben, und die Tide-Pod-Challenge, bei der junge Menschen auf diesen Waschmittelkapseln herumlutschten. Im vorigen Jahr machten einige jedoch auch bei der Fire Challenge mit - sie rieben sich mit einer brennbaren Flüssigkeit ein und zündeten sich dann selbst an. Wie man so dumm sein kann? Ja, das frage ich mich auch. Natürlich sind Kinder leicht zu manipulieren und neigen dazu, alles nachzumachen, was sie gut finden - bei Personen, die sich allmählich dem Erwachsenenalter nähern, verstehe ich so etwas allerdings echt überhaupt nicht. Das Schlimme daran ist jedoch, dass diese Challenges durch TikTok mittlerweile in immer schnellerer Abfolge zum Trend werden - und wir es dadurch inzwischen nicht nur mit einer alle paar Monate, sondern mit zahlreichen parallel laufenden zu tun haben.

Anders verstörende Challenges sind jedoch schon seit geraumer Zeit vor allem bei jungen Mädchen und Frauen in China sehr beliebt: Dort ist aus dem chinesischen Schönheitsideal einer schmalen, zierlichen Figur ein Trend erwachsen, der im Wesentlichen daraus besteht, dass junge Mädchen in Videos sich gegenseitig dabei übertrumpfen, zu zeigen, wie dünn sie sind. Begonnen hat das Ganze wohl mit der iPhone6-Challenge um 2014, als junge Chinesinnen auf Instragram wetteiferten, wer es schafften, mit geschlossenen Beinen die Knie mit einem solchen Handy zu bedecken. Was an sich schon deshalb absurd ist, weil an so einem Knie ja naturgemäß kein Fett ansetzt, da man ansonsten das Bein nicht abknicken könnte - entsprechend kann man da natürlich auch nicht abnehmen. Außerhalb von China erregte jedoch vor allem um 2016 die A4-Paper-Waist-Challenge, ebenfalls auf Instagram, Aufmerksamkeit und wurde auch von Europäerinnen nachgeahmt: Man hielt sich ein Din-A4-Blatt vertikal vor die Taille, um zu beweisen, dass man mindestens so dünn ist wie dieses 21 cm breite Blatt Papier. Da ich eher groß bin, würde Hungern allein bei mir allerdings schon mal nicht ausreichen, um das zu schaffen - ich müsste mir wohl einige Rippen entfernen lassen. Jajaja, ich weiß, ich hör ja schon auf! Aber ich glaube, ihr wisst, worauf ich hinauswill: Dadurch, dass nicht jeder menschliche - in dem Fall weibliche - Körper gleich gebaut ist, sind diese Challenges auch nicht für alle gleichermaßen erreichbar.

Ebenfalls in den Westen übergeschwappt ist auch die Collarbone-Coin-Challenge, bei der man versucht, möglichst viele Münzen in der Mulde seines Schlüsselbeins zu stapeln. In Asien ging man sogar noch weiter, füllte die Knochenhöhlen mit Wasser und ließen dann einen oder mehrere lebendige kleine Fische darin schwimmen. Natürlich hat niemand die Fische gefragt, ob sie das möchten, und ich kann mir auch kaum vorstellen, dass dies allzu vergnüglich für die Tierchen ist. Nun bin ich ja in einer Zeit aufgewachsen, als leichenblasse, ausgemergelte Gestalten über Laufstege taumelten, eine Art Gegenbewegung zu den braungebrannten, sportlichen Models der Achtziger und frühen Neunziger, und natürlich gab es auch damals junge Mädchen und Frauen, die sich schier zu Tode hungerten, um Idolen wie Kate Moss nachzueifern. Aber zum damaligen Zeitpunkt war das Internet noch nicht so verbreitet, man war weit davon entfernt, Videos in erstklassiger Qualität hochladen und verbreiten zu können, und so gab es nicht diesen permanenten Vergleich von jungen Menschen untereinander. Und deshalb auch nicht diesen Optimierungszwang, der vor allem in einem Alter, in dem man noch auf der Suche nach sich selbst ist, meiner Ansicht nach ungesund, vielleicht sogar gefährlich ist. Und ich muss auch sagen - diese operierten Gestalten, die vor allem die untere Liga der TV-Prominenz bevölkern, sind für mich absolut austauschbar. Ich wundere mich immer wieder, wie viele Personen, von denen ich noch nie etwas gehört habe, heutzutage als "prominent" gelten. Und warum es "schön" sein soll, so auszusehen - zumal die Kardashians sich ja augenscheinlich die aufgeblasenen Hintern wieder operativ verkleinern lassen.

Und so bin ich von idiotischen Challenges wieder mal zu unrealistischen Schönheitsidealen zu kommen - na herzlichen Glückwunsch! Ich bin oftmals selbst verblüfft, wohin mich das Schreiben so führt! Nun glaube und hoffe ich, dass ich in naher Zukunft wieder öfter das Vergnügen habe, euch mit dem ein oder anderen Artikel zu beglücken, und wünsche euch bis zum nächsten Mal eine schöne Zeit und bon voyage!

vousvoyez

Video zu den Schlankheits-Challenges: https://www.youtube.com/watch?v=81xt1IH0o2Q

Sonntag, 14. August 2022

Sebastian Kurz ist das Katzenbild unter den Politikern

© vousvoyez
Ein Spruch, den ich auf dem YouTube-Kanal Walulis Daily gehört habe und der meiner Meinung nach bezeichnend ist dafür, wie lange es dem von dem Satire-Magazin Titanic so bezeichneten "Baby-Hitler" gelang, viele von uns zu blenden. Es war eine Erleichterung, dass er letztendlich die Konsequenzen tragen musste, aber andererseits scheint er nicht sonderlich darunter zu leiden - stattdessen versucht er nun, als Unternehmer Fuß zu fassen. Und wir hier in Österreich haben nun einen Kanzler, mit dem der Großteil der Bevölkerung - sowohl Rechte als auch Linke - nicht einverstanden ist. Das ist in der Tat eine prekäre Situation, allerdings muss ich zugeben, dass auch eventuelle Neuwahlen mir momentan Bauchschmerzen bereiten, da die große Frage ist, wie diese ausgehen werden - denn leider fehlt es an einheitlichen Gegenstimmen zu den Schreihälsen am rechten Rand. Und was nun passiert ist, zeigt, wie sehr von unseren Behörden mit zweierlei Maß gemessen wird.

Wer diesen Blog schon länger verfolgt, hat mit Sicherheit mitbekommen, dass auch ich ab und zu meinem Ärger über jene, die glauben, quer denken zu müssen, obwohl sie es noch nicht einmal hinbekommen, geradeaus zu denken, Luft gemacht habe. Auf diese Weise habe ich auch die schlimmste Pandemie-Zeit mit dem ärgsten Geschwurbel auch ganz gut überstanden  - in der ich leider ziemlich viel von der toxischen Seite des Internets mitbekommen habe. Insofern hatten meine privaten Probleme im letzten halben Jahr auch etwas Gutes: Ich hatte keine Kraft und Zeit mehr, mich allzu intensiv mit der Materie zu befassen. Und so habe ich mir nur ab und zu ein kurzes Update verschafft, aber die Vermutung, die ich schon länger hatte, schien sich zu bestätigen: Die "Querdenken"-Bewegung zerfiel, ihre Initiatoren zerstritten sich und etliche Mitläufer haben tatsächlich wieder in die Realität zurückgefunden - denn nachdem der letzte Lockdown beendet war und man wieder Geschäfte und Cafés besuche durfte, nachdem in diesem Sommer sogar die Maskenpflicht gefallen ist, gab es ja keinen Grund mehr, zu protestieren. Übrig blieb also ein harter, radikaler Kern, der sich immer mehr von der Realität abkapselte, immer weniger mit anderen Meinungen zurechtkam und sich immer weiter in seine Aggressionen hineinsteigerte. Im Herbst letzten Jahres kostete diese Radikalisierung einem jungen Studenten das Leben (hier). Ende letzten Monats wurde die Ärztin Lisa-Maria Kellermayr in ihrer Praxis in Seewalchen am Attersee, Oberösterreich, tot aufgefunden. Todesursache: Suizid.


Dr. Lisa-Maria Kellermayr hatte durch ihren engagierten Einsatz zur Bekämpfung des Coronavirus viel Aufmerksamkeit erlangt - positive wie auch negative. Zu Beginn der Corona-Pandemie im Februar 2020 gehörte sie zu den wenigen, die sich freiwillig meldeten für die undankbare Aufgabe der Versorgung der an Covid-19 Erkrankten - sie war also von Anfang an dabei und lernte so schon früh, das Virus richtig einzuschätzen. Diese Erfahrungen bewirkten, dass sie einerseits häufig zu dem Thema interviewt wurde, andererseits ihr Wissen auch bereitwillig auf diversen Social-Media-Plattformen teilte. Natürlich musste sie sich immer wieder Beleidigungen und Anfeindungen gefallen lassen - aber ich weiß aus eigener Erfahrung, dass man sich daran verhältnismäßig schnell gewöhnt. Das passiert jedem, der sich öffentlich zu einem kontroversen Thema äußert - erst letzte Woche wurde ich wegen eines uralten Facebook-Kommentars als "Regenbogen-Faschist" und "Mitläufer" betitelt. Das ist eigentlich schon ganz normal, und man sollte sich von solchen Würstchen nicht einschüchtern lassen - aber es gibt halt eben auch Grenzen, die im Fall Kellermayr überschritten wurden: Im Herbst 2021 schlug der bösartige Spott in blinden Hass über. Im November 2021 äußerte sich die Ärztin in einem Twitter-Post kritisch zu der Belagerung eines Krankenhauses durch Impfgegner in ihrer Heimatstadt Wels, wodurch unter anderem die Rettungszufahrt blockiert wurde. Die Polizei relativierte den Vorfall jedoch und bezeichnete den Tweet als "Falschmeldung". Eine Entschuldigung ist bis heute ausständig - selbst der Kommentar wurde nicht gelöscht. Dafür wurde er zum Auftakt einer Hasswelle gegen Kellermayr - ein Screenshots des Polizei-Tweets geisterte durch einschlägige Telegram-Gruppen und wurde von vielen ihrer Mitglieder als Freifahrtschein verstanden, um ihre Gülle über dieser Frau auszuschütten. Von da an wurde sie immer heftiger per E-Mail und Social-Media beschimpft und bedroht - ich habe einige Screenshots gesehen, sie sind unfassbar schockierend und eindeutig strafrechtlich relevant. Dennoch erfüllten sie laut Polizei nicht den Tatbestand der gefährlichen Drohung.

Die Passivität der Behörden führte dazu, dass Frau Dr. Kellermayr auf eigene Kosten einen privaten Sicherheitsdienst einstellen musste - was letztendlich dazu führte, dass ihre Praxis schließen musste. Da sie von aggressiven Impfgegnern belagert und nicht einmal mehr in ihrem Zuhause in Ruhe gelassen wurde, musste sie sich darin verbarrikadieren. Und was haben die Polizei, die Behörden, die Ärztekammer, die Politik dagegen getan? Die Antwort ist so empörend wie niederschmetternd: Nichts! Null komma Scheiße! Die Verantwortlichen eines Landes mit immer noch vergleichsweise niedriger Kriminalitätsrate haben es nicht fertiggebracht, Leib und Leben einer Person zu schützen, die ihre Verpflichtung gegenüber der Gesundheit seiner Bevölkerung ernst genommen hat! Stattdessen passierte der engagierten Frau genau das, was so vielen passiert, die Gewalterfahrungen machen mussten: Die Schuld für die Bedrohungen wurde ihr selbst zugeschoben - ja, hätte sie es nicht gewagt, sich öffentlich zu äußern, dann wäre das alles nicht passiert! Hätte sie vor den Schreihälsen der Pandemie-Leugner-Szene den Kotau gemacht, wäre sie noch am Leben! Würden Frauen nicht immer so kurze Röcke tragen, gäbe es weniger Vergewaltigungen! Merkt ihr selber, oder?

Einer der Drohbriefe fiel besonders auf - er war sehr konkret und schilderte sehr detailliert, was er mit der unliebsamen Ärztin zu tun gedenke. Laut Polizei sei es "technisch unmöglich", den anonymen Poster ausfindig zu machen. Die deutsche Hackerin "Nella" schaffte das innerhalb von sechs Stunden - und auf völlig legalem Weg. Die Spur führte tief in die rechtsextreme Szene in Deutschland - auch wenn einer dieser Fake-Accounts, nachdem die Recherche öffentlich geworden war, natürlich sofort eilig bemüht war, die Morddrohungen der pöhsen Linken in die Schuhe zu schieben. Und das, obwohl das Wort "rechts" mit keinem Wort erwähnt worden war.

Monatelang suchte Frau Dr. Kellermayr bei der Polizei, der Ärztekammern, Lokalpolitikern um Unterstützung an - ohne Erfolg. Stattdessen riet man ihr, sich nicht mehr öffentlich zum Thema Corona zu äußern; die oberösterreichische Polizei warf ihr sogar "Dramatisierung" vor und behauptete, sie wolle nur mediale Aufmerksamkeit generieren. Es war der Staatsschutz, der die Drohungen letztendlich tatsächlich ernst nahm und zu ermitteln begann - zu spät, wie sich jedoch herausstellen sollte. Der psychische Druck scheint der 36jährigen Ärztin zu viel geworden zu sein - am 29. Juli wurde sie tot in ihrer Praxis aufgefunden. Und sie war nicht die einzige, die mit Hassnachrichten zum Schweigen gebracht wurde - zuletzt sind einige Politiker, darunter auch Gesundheitsminister Wolfang Mückstein, aufgrund dessen von ihren Ämtern zurückgetreten. Behördlichen Schutz dürfen sich Leute, die bemüht sind, Aufklärung zu betreiben und Fakten zur Verfügung zu stellen, nicht erwarten - weil sich die zuständigen Behörden einen Scheiß dafür interessieren, was im Internet passiert. Wer beleidigt, verleumdet oder bedroht wird, weil er Reichweite generiert, ist immer "selbst schuld". Im Gegensatz dazu sind diejenigen, die keine Ahnung von einer bestimmten Thematik haben, sogar bei strafrechtlich relevanten Äußerungen von der "Meinungsfreiheit" geschützt. Auf diese Weise muss man sich mit dieser viel zu komplizierten Materie nicht auseinandersetzen. Dadurch vermittelt man jedoch den Eindruck, dass das Recht, sich zu einer bestimmten Thematik gefahrlos äußern zu dürfen, nicht schützenswert ist. Auf diese Weise vertreibt man die Stimmen der Vernunft sukzessive aus dem öffentlichen Raum. Einige haben auch schon Konsequenzen gezogen, etwa die Ärztin Dr. Natalie Grams-Nobmann und der Rechtsanwalt Chan-jo Jun: Beide haben ihre Twitter-Accounts gelöscht. Ich bin heilfroh, dass sie nicht generell aufhören wollen, Aufklärungsarbeit zu betreiben - gerade die Videos des sympathischen Anwalt Jun sind für mich sehr wertvoll, um bestimmte Zusammenhänge zu verstehen.

Und natürlich ist auch nicht zu erwarten, dass "Querdenker" und Konsorten durch Kellermayrs Suizid zum Umdenken angeregt wurden - im Gegenteil, ihr Tod wurde in einschlägigen Telegram-Gruppen bejubelt und abgefeiert. Die einen machten die Impfung dafür verantwortlich, andere hielten den Suizid für ein Schuldeingeständnis - immerhin hätte sie ja für eine gefährliche Impfung geworben. Und viele fanden es ganz richtig so, dass sie aus dem Leben geschieden war - eben weil sie angeblich so viele Menschenleben auf dem Gewissen hätte -, und äußerten ihre "Dankbarkeit". Gleichzeitig werden weiterhin all jene bedroht, die Angehörigen der eigenen Bubble widersprechen. Das sind sie also, die "ganz normalen Leute", die ja ach so friedlich sind, während alle, die ihnen widersprechen, Hetze betreiben. Die sich ständig auf die Meinungsfreiheit berufen, dabei aber keinerlei Widerspruch dulden und gegebenenfalls für all jene, die es doch wagen, die Todesstrafe fordern.

Nun ist hierzulande die Zurückhaltung gegenüber rechtsextremen Gruppierungen schon längst nichts Neues mehr - Aufmärsche werden sogar dann toleriert, wenn sie zuvor polizeilich verboten wurden, während die, die sich dagegenstellen, mit keinerlei behördlichem Schutz rechnen dürfen. Wie bereits von einem Jahr von allen vermutet, die hingesehen haben, ist von der "Querdenker"-Bewegung nur noch ein harter Kern übriggeblieben, der sich ungestört weiter radikalisiert hat und sich schon für die Zeit rüstet, in der Corona keine so große Rolle mehr spielen wird. Andere Themen gibt es genug - Verschwörungserzählungen wie der "Great Reset", der Krieg in der Ukraine, die Sanktionen gegen Russland, die Teuerung der Lebenshaltungskosten. Schon zu Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine waren bei Corona-Demos auffällig viele russische Fahnen zu sehen. Auch der Kampf gegen Migration und die Rechte sexueller Minderheiten wird nach wie vor eine Rolle spielen. Und nachdem angeblich nur ganz wenig Zeit bleibt, um den "Bevölkerungsaustausch" und die herbeiphantasierte kommunistische Weltordnung zu verhindern, sind buchstäblich alle Mittel erlaubt. Es wird bei weitem nicht zum ersten Mal davor gewarnt, dass diese Szene brandgefährlich ist - trotzdem wurde die Gefahr bisher immer ignoriert und bagatellisiert. Auch nach Kellermayrs Suizid zeigen die offiziellen Stellen keinerlei Einsicht, sind aber erstaunlich schnell zur Stelle, sobald es um kritische Stimmen gegen sie geht. Und während Bundespräsident Alexander van der Bellen schon einen Tag später an den Zusammenhalt der österreichischen Bevölkerung appellierte, brauchte Bundeskanzler Karl Nehammer eine geschlagene Woche, um bedauernde Worte zu dem Tod der Ärztin zu äußern - das Verhalten der Behörden wurde auch von ihm nicht hinterfragt. Das ist umso bezeichnender, da selbst internationale Medien wie die Washington Post dem Kanzler zuvorgekommen sind.

Die Reaktionen derjenigen, die noch ein wenig Empathie übrig haben, waren entsprechend emotional. Auch bei mir sind im ersten Moment die Emotionen hochgekocht - deshalb habe ich auch so lange gewartet, bis ich mich dazu äußere. Und auch jetzt muss ich mir Mühe geben, moderate Töne anzuschlagen, da ich mich immer noch komplett hilflos fühle. Es ist nicht das erste Mal, dass viele von uns dazu auffordern, diejenigen, die mit Galgen aufmarschieren, Todeslisten schreiben und ihrem Hass auf Telegram freien Lauf lassen, endlich nicht mehr als "besorgte Bürger" zu verharmlosen. Stattdessen werden diejenigen, wie wie Klartext reden, im Stich gelassen - und Ärzt:innen wie Lisa-Maria Kellermayr, die ihren Job ernst nehmen, dürfen nicht auf behördliche Unterstützung hoffen.

In diesem Kontext kann ich auch die wütende Reaktion von AnonLeaks gut nachvollziehen, die in ihrem offenen Brief OpKalteWut extremere Maßnahmen ankündigen als das, was sie bisher unternommen haben. Auch ich hatte den Gedanken, dass wir, die wir auf der Seite von Fakten und Vernunft stehen, endlich mehr tun sollten als nur zu schreiben, zu diskutieren und Aktionen gegen Rechts zu feiern, während wir hinter unseren Handys, Tablets und PCs hocken und zuschauen. Die Frage ist allerdings, ob es nur darum geht, uns kurzfristig ein wenig Erleichterung zu verschaffen, oder ob wir auf langfristige Veränderungen hinsteuern wollen - und für Letzteres ist Selbstjustiz, wie ich denke, nicht unbedingt die beste Idee. Was den Hastag #QuerdenkerSindTerroristen betrifft - nun, diese Leute sind keine Terroristen, wie beispielsweise Al Qaida es sind, aber ich muss zugeben, dass ich das, was sie veranstaltet haben, durchaus als Psychoterror einordnen würde - besonders zu jenen Zeiten, als sie diesen Demonstrations-Tourismus betrieben und ganze Innenstädte nicht mehr zugänglich waren. Und auch diese Drohbriefe sind Teil davon - es geht hier weniger darum, tatsächlich jemanden umzubringen als darum, all jene in Angst zu versetzen, die es wagen, ihnen zu widersprechen und ihre Äußerungen als einzig legitime Wahrheit anzuerkennen.

Ich muss zugeben, es fällt mir immer schwerer, mein Vertrauen in höhere Instanzen zu richten, zumal die politische Situation bei mir zu Hause so chaotisch ist wie noch nie. Klar kann man nicht verhindern, dass man auf Widerstand stößt, wenn man sich zu kontroversen Themen äußert - aber es ist trotzdem wichtig, für Fakten und Vernunft einzustehen, und es ist nicht einzusehen, warum gerade jene Menschen sich den Mund verbieten lassen sollen, nur weil die Behörden sich nicht mit jenen herumschlagen wollen, die keine Gegenpositionen aushalten und deshalb verbal und manchmal sogar physisch auf diese einschlagen. Dabei glaube ich nicht, dass es wirklich so schwer ist, wie sie tun - denn diese Leute sind alles andere als die mutigen Rebellen, als die sie sich geben. Im Gegenteil - sie sind nur in der Gruppe so stark, oder wenn sie sich hinter irgendwelchen Social-Media-Profilen verstecken können. Zudem ist es meiner Ansicht nach auch äußerst unklug, in Zeiten wie diesen Leuten aus Gesundheitsberufen keinerlei Schutz zu gewährleisten und so noch mehr von ihnen zu verlieren. Einerseits wird immer nach Aufklärung geschrien, andererseits nimmt man diejenigen, sie dich darum bemühen, für selbstverständlich und verweigert ihnen im Ernstfall jegliche Unterstützung. Das muss aufhören: Wir sollten froh und dankbar sein, dass es überhaupt noch Leute gibt, die sich bemühen, Fakten in die Welt zu tragen, anstatt diese auch noch zu denunzieren! Und auch wenn dieser Blog keine große Reichweite hat, möchte ich doch einige Namen jener Leute nennen, die mir und anderen in den letzten beiden Jahren Mut und Hoffnung geschenkt haben. Leider sind es zu viele, als dass ich alle nennen könnte, deshalb beschränke ich mich auf jene, die mir persönlich am wichtigsten waren bzw. sind:

Dr. Mai-Thi Nguyen-Kim, Chemikerin und Wissenschaftsjournalistin
Florian Aigner, Physiker und Wissenschaftspublizist
Dr. Janos Hegedüs, Facharzt für Innere Medizin
Prof. Dr. Christian Drosten, Virologe
Katharina Nocun, Publizistin
Mag. Ulrike Schiesser, Psychologin und Psychotherapeutin
Pia Lamberty, M. Sc., Sozial- und Rechtspsychologin
Dipl. Psych. Lydia Benecke, Kriminalpsychologin
Dr. Lisa-Maria Kellermayr, Allgemeinmedizinerin
Dr. Nathalie Grams-Nobmann, Ärztin
Chan-jo Jun, IT-Rechtsanwalt
Ingrid Brodnig, Journalistin

Vielen Dank für Ihr Bemühen, Ihre Fachgebiete auch Laien näherzubringen und der Verbreitung von Falschinformationen mit Fakten entgegenzuwirken!
Merci beaucoup!

vousvoyez