Mittwoch, 24. Januar 2024

Das ist keine Kunstperformance für Grundrechte, das ist der Betriebsausflug des Arlequin-Kasperltheaters

Foto von David Holifield auf Unsplash

Was den Deutschen die Augsburger Puppenkiste, ist uns das Arlequin-Kasperltheater - eine Institution, welche die Kindheit von Generationen geprägt hat. Das Niveau der Kunstperformances mit den Schutzanzügen und weißen Masken bei den Corona-Demos  hat mich damals ein wenig daran erinnert - allerdings muss man den Teilnehmern zugute halten, dass sie auf Gebrüll und Gepöbel wenigstens verzichtet haben. Wären alle Demos so abgelaufen, wären sie weitaus erträglicher gewesen.

Nun haben wir das ja alles zum Glück schon hinter uns, auch wenn die Zeiten nach wie vor nicht leicht sind und Leute aktuell wegen allem möglichen auf die Straße gehen. Und leider scheint es für manche wieder normal zu sein, gegen Juden zu hetzen. In meinem letzten Artikel habe ich mich ein wenig mit den Hintergründen des aktuell grassierenden Antisemitismus auseinandergesetzt, heute aber will ich konkreter auf die verschiedenen Unterarten und ihre Methoden eingehen. Wenn wir uns die aktuell stärksten antisemitischen Strömungen ansehen, dann können wir feststellen, dass diese aus insgesamt drei ideologischen Richtungen kommen. Am bekanntesten sind uns hierbei mit Sicherheit die antisemitischen Aspekte des Rechtsradikalismus; daneben ist Antisemitismus allerdings auch in radikal-islamistischen Kreisen sehr präsent, ebenfalls wie in bestimmten linksradikalen Ideologien. Die Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank unterscheidet wiederum drei zeitlich initiierte antisemitische Strömungen: Einerseits den "klassischen" Antisemitismus, dem ich mich in meinem schon erwähnten Artikel bereits gewidmet habe und welcher größtenteils auf uralten Vorurteilen basiert; außerdem den Post-Holocaust-Antisemitismus, der vor allem das Leid der Opfer verharmlost oder gar leugnet; und nicht zuletzt den israelbezogenen Antisemitismus, der aktuell wieder sehr beliebt ist und sich vor allem in als Israelkritik getarntem Judenhass manifestiert. Im Rahmen dieses Artikels möchte ich, so gut es mir möglich ist, auf all diese Aspekte eingehen, indem ich einige Vorurteile und Behauptungen behandle, welche uns bei diesem Thema immer wieder begegnen.

Eines der hartnäckigsten klassischen Vorurteile ist, dass alle Juden reich oder zumindest geldgierig seien - wie schon in meinem ersten Artikel über Antisemitismus erklärt, geht dieses bis ins Mittelalter zurück, als viele von ihnen mangels anderer Möglichkeiten ihren Lebensunterhalt im wenig angesehenen Geldwesen bestritten. Seit damals zieht sich das Motiv des habgierigen, hinterlistigen Juden durch alle historischen Epochen und wird natürlich auch heute noch sehr fleißig reproduziert. Außerdem ist es eng verknüpft mit dem Narrativ der jüdischen Weltverschwörung, welches bis heute in gewissen Kreisen ebenfalls sehr präsent ist - obgleich die Chiffren sich vor allem nach Ende der Shoah verschoben haben, so dass viele antisemitisch motivierte Verschwörungsmythen heutzutage nicht mehr so leicht als solche zu erkennen sind. Ein sehr altes Motiv ist in diesem Zusammenhang die im 19. Jahrhundert etablierte Erzählung, laut derer die Welt heimlich von der jüdischen Bankiersfamilie Rothschild gelenkt würde - eine Behauptung, welche den beliebten Verschwörungsmythos einer kleinen Elite bedient, welche Macht über Medien und Politik oder gar die Weltherrschaft innehabe. Eine sehr dankbare Quelle, wenn es um Phantasien einer "jüdischen Weltverschwörung" geht, sind vor allem die von mir ebenfalls schon erwähnten Protokolle der Weisen von Zion, ein Pamphlet aus dem zaristischen Russland des frühen 20. Jahrhunderts, auf welches sich bis heute gerne bezogen wird, selbst wenn sein Inhalt schon kurz nach seinem erstmaligen Erscheinen als rein fiktional entlarvt worden war. Ein sehr altes Symbol dieser Erzählung ist übrigens das erstmals 1938 eingesetzte Bild des Kraken, welches aktuell leider auch von Greta Thunberg und anderen Fridays-for-Future-Aktivist:innen unreflektiert verbreitet wird, was meinem Respekt für diese Bewegung einen ordentlichen Dämpfer versetzt hat.

Nun wissen wir, dass das Märchen von der jüdischen Weltverschwörung eines der wesentlichen Rechtfertigungen für antisemitische Gesetze im Dritten Reich und in der Folge auch für die Shoah ist. Mit dieser schweren historischen Last im Hinterkopf kann man heutzutage selbstverständlich nicht mehr offen über eine jüdische Weltverschwörung phantasieren; an Chiffren, die genau diese Behauptung aufgreifen, mangelt es jedoch nicht: so wird gerne von der "Hochfinanz", "Globalisten", "raffgierigen Bankern" oder der "Ostküste" gesprochen. Gemeint ist hier die Ostküste der USA, speziell New York City, welches in Kreisen jener, die diesem Verschwörungsmythos anhängen, gerne als vermeintliches Zentrum des jüdisch beherrschten Weltkapitals genannt wird.

Damit einher geht auch die Behauptung, "die Juden" würden nicht nur die Welt beherrschen, sondern diese auch bewusst ins Unglück stürzen wollen. Auch diese Tendenz, ihnen die Schuld an allem Übel dieser Welt zu geben, ist sehr alt - denken wir nur an die Brunnenvergifter-Geschichte aus dem Mittelalter, welche die Juden für die Pest verantwortlich machte. Und auch die Schuld an der Corona-Pandemie wurde in manchen Communities auf die Juden abgewälzt - so trendete im Frühjahr 2020 eine Zeitlang vor allem auf Twitter (today superfluously known as X) der Hashtag #Covid1948, ein Datum, welches sich auf das Gründungsjahr Israels bezieht, in Wirklichkeit aber ebenfalls schon auf eine viel ältere Strategie zurückgeht, welche Juden entweder für Seuchen verantwortlich macht oder sie gar mit diesen gleichsetzt, sie also dämonisiert oder gar entmenschlicht. Eng verknüpft ist damit natürlich auch die Ritualmordlegende, welche uns schon in meinen Artikeln über QAnon oder die Satanic Panic begegnet ist. Sie hat ihre Ursprünge bereits im 12. Jahrhundert und baut auf jenem Thema auf, welches besonders stark emotionalisiert und deshalb auch sehr beliebt (und gleichzeitig wahnsinnig ekelhaft) ist, nämlich auf der Angst um das Wohlergehen von Kindern. So werden die Juden schon seit gut einem Jahrtausend immer wieder gerne als Kindermörder dargestellt, aktuell auch im Zusammenhang mit der Israel-Offensive im Gazastreifen, dessen Bevölkerung zur Hälfte noch nicht volljährig ist. Das soll das Leid von Kindern in dieser Region weder negieren noch minimieren - aber natürlich wird auch hier über die Maßen emotionalisiert, beispielsweise durch TikTok-Videos von leidenden Kindern, die teilweise durchaus echt, teilweise aber auch KI-generiert sind, aber auch über die Dämonisierung des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, welcher als skrupelloser Kindermörder dargestellt wird. All dies bedeutet nicht, dass man Netanjahu nicht kritisch gegenüberstehen darf, und auch das Leid der Kinder in Gaza ist, wie schon gesagt, unbestritten - allerdings gehört es zur anti-israelischen Propaganda dazu, dass die quantitative Anzahl künstlich in die Höhe getrieben wird, indem man Personen über vierzehn, teilweise sogar über achtzehn Jahre ganz locker-flockig zu den "Kindern" dazurechnet. All dies sollte jedoch nicht die Verteufelung der gesamten israelischen Bevölkerung oder gar aller Juden dieser Welt rechtfertigen, ebenso wenig wie die Behauptung, die Ermordung von Kindern sei das Hauptmotiv der Israelis. Darüber hinaus dürfen wir nicht vergessen, dass auch israelische Kinder Opfer der Terroranschlage der Hamas geworden sind - teilweise sogar ganz gezielt. Und dass die Hamas die palästinensische Bevölkerung als Schutzschild missbraucht - für sie sind möglichst viele tote Kinder wünschenswert, weil ihnen das die Dämonisierung der Israelis erleichtert.

Wir stellen also fest - antisemitische Verschwörungsmythen bedienen nicht nur Vorurteile, sondern bauen ein ganzes Weltbild mit einem sehr plakativen Gut-Böse-Schema auf. Dazu gehört, wie schon gesagt, auch die Entmenschlichung von Juden, welche als Ratten, Schweine oder Ungeziefer, teilweise sogar als Viren oder gar Krebsgeschwüre bezeichnet und/oder dargestellt wurden und werden. Natürlich sind die Algorithmen der meisten Social-Media-Kanäle so konzipiert, dass eindeutig antisemitische Codes tendenziell schnell erkannt und entfernt werden - aber findige User haben natürlich ihre eigenen Methoden, um ihre Motive zu verschleiern und ursprünglich harmlose Emojis in antisemitischem bzw. NS-verherrlichendem Kontext zu missbrauchen. Beliebt ist etwa die Nebeneinanderstellung zweier aufsteigender Börsenkurse, welche als verschlüsselte Darstellung einer SS-Rune verwendet wird und gleichzeitig das Ostküsten-Motiv bedient, außerdem das Nebeneinander-Posten einer Nase und eines Geldsacks, welches nicht nur auf die vermeintliche Geldgier der Juden anspielt, sondern auch auf die bekannten judenfeindliche Karikaturen, welche Juden gerne mit überlangen Nasen darstellen, oder das Posten eines Duschkopfes unter dem Post einer Person jüdischer Herkunft, welcher auf die Gaskammern im Holocaust anspielt.

Anspielungen auf die Shoah sind ganz allgemein ein Kennzeichen des Antisemitismus nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Umgang mit jener erfährt dabei mehrere Abstufungen: So gibt es die, welche den Holocaust leugnen ("Holocaust-Lüge"), was in Deutschland und Österreich als Straftat gehandelt wird, in den USA allerdings nicht; daneben gibt es jene, die den Holocaust relativieren, indem sie beispielsweise behaupten, damals seien weitaus weniger als 6 Millionen jüdische Menschen ermordet worden, obwohl diese Zahl eigentlich ziemlich gut belegt ist. Häufig wird stattdessen etwa die Zahl 271.000 angeführt - diese bezieht sich auf ein Dokument des Roten Kreuz aus dem Jahr 1979, welches ausschließlich Opfer anführt, von denen eine Sterbeurkunde existiert: Es leugnet allerdings nicht die Existenz der übrigen Opfer. Daneben gibt es auch noch diejenigen, welche den Schuldigen am Holocaust Absolution erteilen wollen: Sie sprechen von einem "Schuldkult", wollen ausschließlich stolz auf die positiven Errungenschaften der Geschichte sein, die es zweifelsohne auch gibt, ohne sich mit den negativen Aspekten der Vergangenheit auseinandersetzen zu müssen, bezeichnen Mahnmale als "Denkmal der Schande" und den Mord an 6 Millionen Juden als "Vogelschiss". Aber es gibt auch noch eine Steigerung der Geschmacklosigkeit, nämlich diejenigen, welche den Holocaust toll und lustig finden. Häufig wird Juden auch vorgeworfen, sie hätten den Holocaust erfunden, um davon zu profitieren, etwa um Kritik an Personen jüdischen Glaubens zu verunmöglichen. Beliebt ist auch die Täter-Opfer-Umkehr, bei der behauptet wird, die Juden seien selbst schuld am Holocaust gewesen, oder sie seien selbst schuld am heutigen Antisemitismus - so werden im aktuellen Nahost-Konflikt Israelis schon mal ganz locker von so sympathischen Figuren wie Arafat Abou Chaker mit den damaligen Nazis gleichgesetzt, während Palästinenser als die "neuen Juden" gehandelt werden.

Auffällig ist seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober letzten Jahres die Verschiebung des Antisemitismus in Richtung des islamistischen Lagers, welche auch Einfluss auf einige Gruppierungen hat, die sich selbst als "linksextrem" bezeichnen. Diese betrachten sich vor allem als anti-zionistisch - ohne zu berücksichtigen, dass Kritik an der Politik Israels sehr wohl auch ohne Antisemitismus möglich ist. Eine wirksame Methode, das eine vom anderen zu unterscheiden, ist der von mir schon erwähnte 3D-Test, welcher 2003 formuliert wurde: die Überprüfung kritischer Statements auf Doppelstandards (wird hier mit zweierlei Maß gemessen?), Delegitimierung (wird Israel das Existenzrecht abgesprochen?) und Dämonisierung (werden Israelis als das absolute Böse dargestellt?). Als weiteres "D" könnte man auch noch die De-Realisierung nennen, also die Verfälschung der Geschichte. Ein wesentliches Merkmal, dem man heute immer wieder begegnet, ist allerdings die Gleichsetzung aller Juden mit Israel, die heute vermehrt mit alten den Stereotypen konfrontiert werden - vor allem auf Social Media. Gleichzeitig wird das Symbol der Israel-Flagge mit Emojis wie der Flamme, der Toilette oder Klopapier, dem Schuh, Geldsack, Dollarschein, dem Kotz- oder Kack-Smiley oder der Nase kombiniert. In Videos wird Israel das Existenzrecht abgesprochen, der Nahost-Konflikt und vor allem die Nakba werden absichtlich falsch gedeutet, und man unterschlägt historische Fakten, um Juden als Eindringlinge darzustellen. Ein beliebter Spruch auf Demos ist "from the river to the sea", häufig mit dem Zusatz "palestine will be free". Gemeint ist damit das Gebiet zwischen Jordan (river) und Mittelmeer (sea); der Satz wurde in den 1960er Jahren von der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) geprägt und bedeutet nichts anderes als die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus dem Gebiet Israels.

Gleichzeitig wird auch gern so getan, als sei Kritik an Israel generell verboten, und Leute prophezeien Zensuren, wo gar keine stattfinden - das kennen wir ja auch von diversen Verschwörungsgläubigen. Als Grund für dieses angebliche Kritikverbot wird natürlich der Holocaust angegeben, welcher Juden generell die Absolution erteile, selbst wenn dies zu Lasten anderer gehe. So ist Israelkritik ein willkommener Vorwand für Antisemitismus und die Relativierung des Holocaust, indem man die Palästinenser mit den Opfern dieses vergleicht. So kursieren aktuell auch viele Schlagworte, welche der Situation zwar überhaupt nicht gerecht, dafür aber häufig unreflektiert übernommen werden. Dazu gehört etwa der von Amnesty Interantional formulierte Begriff "Apartheid". Historisch beschreibt dieser die Trennung der Bevölkerung Südafrikas nach Hautfarben bei gleichzeitiger Dominanz durch den eingewanderten Teil aus rassistischen Motiven. Nun kann man nicht generell sagen, dass Rassismus in Israel nicht existiere - eine legale Unterdrückung der arabischen Bevölkerung nach südafrikanischem Vorbild gibt es dort allerdings nicht: so sind im israelischen Parlament durchaus auch Araber vertreten. Ein weiterer Begriff, welcher historische Fakten verdreht, ist das Wort "Kolonialismus", welches die Unterwerfung und Ausbeutung eines fremden Landes bezeichnet. Israel war jedoch als Schutzraum für Juden nach dem Holocaust gedacht, und selbst wenn des dabei nicht immer gerecht zuging, war das Ziel doch nie die Unterdrückung der Palästinenser. Der dritte Begriff, welcher an der Realität vorbeigeht, ist der des "Genozids"; natürlich passieren in einem Krieg auch Kriegsverbrechen, weshalb ich die Definition eines "gerechten Krieges" auch ablehne - das Ziel dieses Krieges ist jedoch nicht die generelle Vernichtung der palästinensischen Bevölkerung, sondern die Ausschaltung der Hamas.

Halten wir also fest: Wir alle machen Fehler, und wenn man mal versehentlich einen antisemitischen Begriff nutzt, heißt das noch lange nicht, dass man generell antisemitisch eingestellt ist - möglicherweise wusste man es nicht besser, und der antisemitismus hat sich so sehr in unserer Sprache und Gesellschaft festgesetzt, dass solche "Schnitzer" mit Sicherheit jedem schon passiert sind. Eines sollte aber klar sein: Kommentare wie "free Palestine" haben unter Artikeln, welche über die Shoah aufklären sollen, oder Posts von Personen jüdischen Glaubens nichts zu suchen - das sollte, denke ich, jedem einleuchten, selbst wenn er (sie, es) meine Meinung nicht teilt -, ebenso wenig wie Davidsstern-Symbole auf Hausmauern oder antisemitische Parolen auf Demonstrationen. Und den Tod von Menschen jüdischen Glaubens zu feiern ist ebenso unangebracht wie Rassismus gegen Muslime. Vor allem aber reicht es nicht, nur im Internet Haltung zu zeigen: Noch wichtiger ist es, draußen in der realen Welt Stellung zu beziehen. Denn "nie wieder" darf keine hohle Phrase bleiben.

vousvoyez


https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-10/nahost-glossar-israel-palaestinenser-geschichte

https://www.juedische-allgemeine.de/meinung/die-menschen-in-gaza/

https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/faktencheck-lanz-precht-110-ueber-israel-den-gazastreifen-und-orthodoxe-juden/


Montag, 15. Januar 2024

Wir möchten uns nicht schuldig fühlen für etwas, das in ferner Vergangenheit geschehen ist, aber wir wollen stolz sein auf das, was in noch fernerer Vergangenheit geschah

Foto von Joshua Sukoff auf Unsplash

Und leider bringen wir es bis jetzt nicht zusammen, beide Seiten unserer Geschichte gleichermaßen als gegeben zu akzeptieren - aus diesem Grund landet man ja heutzutage auch so schnell im rechten Eck, sobald man den Verdacht erregt, dem Heimatbegriff ein wenig zu viel Bedeutung beizumessen. Denn auch das schaffen wir aktuell nicht: heimatverbunden zu sein, ohne Leute, die eine andere Heimat ihr eigen nennen als wir, herabzusetzen, weil sie eine andere Heimat ihr eigen nennen als wir. Nun können wir uns ja durchaus darüber einig sein, dass es weder ein Verdienst noch ein Verbrechen ist, in einem Land geboren worden zu sein, da man selbst ja nichts dazu beigetragen hat - aber es ist doch nichts verkehrt daran, für diesen vollkommenen Zufall dankbar zu sein, vorausgesetzt natürlich, man hat nicht etwa in einem Tunnel im Gaza-Streifen das Licht der Welt erblickt oder am Rande eines aktiven Vulkans. Wenn man aber, wie ich, vergleichsweise noch auf Rosen gebettet wurde, ist eine gewisse Dankbarkeit durchaus angebracht, auch wenn angesichts der aktuellen politischen Verhältnisse mein innerer Thomas Bernhard Amok laufen will. Aber ich hab das, glaube ich, ganz gut gelöst: Ich schaue nämlich nach den Nachrichten immer einen Horrorfilm - so beruhige ich mich am besten.

Ja, nach dem unproduktivsten Jahr in der Geschichte dieses Blogs lesen wir uns jetzt endlich wieder - ich kann nicht sagen, ob 2024 besser, gleich schlecht oder gar noch schlechter wird als 2023, aber nachdem ich jetzt genügend Zeit hatte, meine Wunden zu lecken, hoffe ich doch sehr stark, dass Ersteres zutrifft. Wobei das ja jetzt auch nicht sonderlich schwer sein dürfte - zumal der Grund für meine Unproduktivität ja keineswegs die Ereignislosigkeit des vorigen Jahres war. Beispielsweise ist mir aufgefallen, dass die Anzahl der Vulvenwitze in letzter Zeit explodiert zu sein scheint. Und nein, keine Sorge, zu solchen Witzen werde ich mich auch jetzt nicht herablassen - ich fürchte allerdings, wir werden uns angesichts des neuen Hobby-Trends meiner Geschlechtsgenossinnen, ganz viele total witzige "Hihi-ich-mache-Witze-über-Genitalien-ich-bin-total-versaut-und-crazy"-Witze zu erzählen, in Geduld üben müssen: Immerhin waren die weiblichen Geschlechtsorgane vor noch nicht allzu langer Zeit dermaßen tabu, dass ich als Kind noch nicht mal ein Wort dafür hatte. Aber um Entgleisungen dieser Art soll es heute noch nicht gehen - stattdessen möchte ich das neue Jahr mit einer Korrektur beginnen, die sich angesichts des Weltgeschehens nahezu aufdrängt.

Vor etwas mehr als zwei Jahren habe ich mich bereits mit einem Thema auseinandersetzt, welches aktuell leider wieder präsenter geworden ist - nämlich dem Antisemitismus. Ich habe mich dabei vor allem auf die historische Entwicklung bezogen und bin nebenbei auf die Angriffsgeschichte von Gil Ofarim eingegangen, welche sich im Nachhinein als erstunken und erlogen herausgestellt hat. Auch der historische Abriss ist nicht ganz vollständig und korrekt - vor allem, weil ich ein ziemlich großes Kapitel einfach unterschlagen habe. Hier möchte ich korrigierend eingreifen und außerdem auch noch auf aktuelle Aspekte dieses Themas eingehen - hauptsächlich deshalb, weil momentan wieder sehr viel unreflektiert geteilt und nachgeplappert wird; teils aus reiner Unwissenheit, teils aber auch aus Ignoranz oder gar Böswilligkeit. Zur besseren Lesbarkeit möchte ich den Artikel wieder in zwei Teile aufspalten: Im ersten möchte ich vor allem auf aktuelle Ereignisse eingehen, die zu einer neuerlichen Erstarkung des Hasses gegen unsere jüdischen Mitmenschen führen, im zweiten werde ich die unterschiedlichen Strömungen des gegenwärtigen Antisemitismus behandeln.

Zuallererst muss ich mich allerdings selbst bei der eigenen Nase nehmen und bekennen, dass auch ich auf Gil Ofarims Geschichte hereingefallen bin. Ja, es tut mir Leid, auch ich gehöre in diesem Fall zu den Dummen. Ich habe einfach nicht in Betracht gezogen, dass man eine solche Geschichte einfach so erfinden und dann auch noch darauf beharren könnte, als schon längst alles darauf hingedeutet hat, dass es sich um eine Lüge handelt - und damit nicht nur tatsächlichen Opfern die Glaubwürdigkeit nimmt, sondern auch das Leben anderer Menschen durch falsche Anschuldigungen ruiniert. Und mir will nach wie vor nicht in den Kopf, was Herr Ofarim damit bezwecken wollte: Wollte er endlich mal mehr sein als nur ein ehemaliger Bravo-Starschnitt oder hielt er sich tatsächlich für so wichtig, dass er es nicht aushielt, sich wie der ganz normale Pöbel hinten anstellen zu müssen? Ich weiß es nicht - fest steht allerdings, dass er für mich von einer Person, die mir über weite Strecken meines Lebens weitgehend egal war, zu einem Menschen wurde, den zu sehen ich absolut keine Lust mehr habe, wobei ich mir nicht vorstellen kann, dass sich das in absehbarer Zeit noch ändert. Aber gut - es ist wie es ist, und letztendlich ist er selbst derjenige, dem er damit am meisten geschadet hat.

Die ganze Aktion ist um so problematischer, als Antisemitismus momentan leider wieder mal ein brandaktuelles Thema ist - am 7. Oktober 2023 hat die radikal-islamistische Terror-Organisation der Hamas vom Gazastreifen aus ein Massaker unter der israelischen Bevölkerung ausgelöst. Es war die größte Vernichtung jüdischen Lebens seit dem Holocaust. Seitdem befindet sich Israel wieder mal im Kriegszustand - dem nächsten einer langen Reihe von arabisch-israelischen Kriegen. Aber es ist keineswegs der Angriff der Hamas, welcher für weltweite Proteste sorgt, sondern der Rückschlag Israels im Gazastreifen. Tatsächlich haben Gewaltakte gegen Juden wieder zugenommen, und Linke laufen widerspruchslos auf Demonstrationen von Hamas-Anhängern mit, auf denen offener Judenhass propagiert und Nazi-Parolen skandiert werden. Und das, obwohl sie doch angeblich voll total gegen Nazis sind - und auch alle als solche bezeichnen, die nicht stumpf ihre Ansichten nachplappern. Wie kann sowas nur passieren?

Ganz offensichtlich ist vielen von ihnen nicht klar, dass es sich bei der Ideologie, die sie verteidigen, um eine völkisch-nationalistische, antisemitische Blut-und-Boden-Ideologie handelt, welche ihre Ursprünge nirgendwo anders als in Nazi-Deutschland hat. Das Problem ist, dass sich viele Anhänger linker Strömungen moralisch überlegen fühlen - und wer glaubt, dass er immer Recht hat, dem fällt es natürlich besonders schwer, eigene Fehler einzugestehen und zuzugeben, dass er (oder sie oder es) auch mal im Unrecht war. Und dabei lehrt uns die Geschichte doch, dass eine Querfront aus Rechts- und Linksextremisten zu nichts Gutem führt: denn diese verhalf einst auch jemandem zum Sieg, welcher ansonsten möglicherweise ein schlechter, aber harmloser Postkartenmaler geblieben wäre.

Das aktuelle Problem ist, dass selbst jene Medien, die ansonsten als seriös wahrgenommen werden, Hamas-Propaganda weitergegeben haben - und ja, die Menge an Fake News, welche uns gerade zu diesem Thema erreicht, ist tatsächlich unüberschaubar. Deswegen möchte ich auch gar nicht auf einzelne Meldungen eingehen, sondern lediglich versuchen, das Gut-Böse-Schema, welchem viele von uns aufsitzen, ein wenig aufzubrechen. Denn natürlich plappern alle möglichen Social-Media-Helden unreflektiert nach, was so im Netz kursiert.

Momentan wird jüdisches Leben von drei Seiten massiv bedroht: Von Rechtsradikalen und Neonazis, für die "der Jude" ohnehin das personifizierte Feindbild ist; von islamistischen Fundamentalisten, welche sich auf ihren Glauben berufen, selbst wenn dieses Ausmaß an Hass und Gewalt diesem zuwiderläuft; und von sich moralisch überlegen fühlenden Möchtegern-Linken und Pseudo-Intellektuellen, für die vermeintliche oder tatsächliche Opfer sowieso immer mit Heiligen gleichgesetzt werden - es sei denn, sie widersprechen ihnen. Und das Narrativ des Nahost-Konflikts passt da nur allzu gut: die bösen Israelis, die den guten Palästinensern ihr Land weggenommen haben und sich seitdem dort breit machen.

Dabei ist die Geschichte bei weitem nicht so einfach, wie sie dargestellt wird. Das fängt schon mit Begriffen wie "Palästina" oder "Zionismus" an: Viele berufen sich auf den Begriff "Zionismus", um ihren Antisemitismus zu rechtfertigen, und stellen diesen als etwas ganz Böses dar - obwohl es im Prinzip um nichts anderes geht als um das Streben nach einem unabhängigen jüdischen Staat, welcher gewährleistet, dass Juden nicht mehr von der Gnade anderer abhängig sind, eine Idee, die Ende des 19. Jahrhunderts entstand. Ebenso wird gerne außer Acht gelassen, dass es nie einen Staat gab, der Palästina hieß - das historische Palästina war eine römische Provinz, welche ursprünglich Gebiete im heutigen Israel und Jordanien bezeichnen. Nach dem Fall des Römischen Reiches gab es keine Region mehr, die diesen Namen trug - erst um 1920 wurde er von den Briten wiederbelebt, als diese das Mandatsgebiet Palästina ausriefen: Ein palästinensisches Volk gab es allerdings niemals - erst 1964 erfolgte die Definition eines solchen durch Jassir Arafat, welcher mit dem Begriff eine "reinrassige" arabische Bevölkerung definierte und gleichzeitig Christen und Juden das Recht auf ihr Land aberkannte. Außerdem formulierte Ahmad Shurkeiri die palästinensische Nationalcharta, welche Waffengewalt als einzige Option zur Befreiung nannte - nicht nur in Palästina, sondern weltweit. Dies erklärt wohl auch, warum die Ermordung und Verschleppung jüdischer Menschen am 7. Oktober 2023 ernsthaft mit der Verteilung von Baklava gefeiert wurde.

In Wirklichkeit geht es darum, Juden das Recht auf Selbstbestimmung im eigenen Land zu nehmen, obwohl die Gründung des Staates Israel völkerrechtlich anerkannt wurde: 1948 wurde das Gebiet des heutigen Israel offiziell an die Juden gegeben, die Araber erhielten dafür Jordanien. Außerdem wurde der Küstenstreifen zwischen Israel und Ägypten, der Gazastreifen, nach dem Ersten Arabisch-Israelischen Krieg 1948/49 zu einem Teil der palästinensischen Autonomie; da er 2007 von der Hamas okkupiert wurde, steht er seitens Israel unter Beschuss. Interessanterweise ist die israelische Armee jedoch offensichtlich darum bemüht, die zivilen Opfer so gering wie möglich zu halten - dass es diese gibt, ist unbestritten, ebenso wie unbestritten ist, dass Krieg niemals etwas Gutes ist. Es ist halt leider einfach, die Konflikte anderer im Internet auszufechten - das hat man ja auch schon beim Ukraine-Krieg gesehen, als die Leopardenpanzer auf TikTok mit Leoparden-Outfits gefeiert wurden, so als handle es sich um ein aufregendes Spiel und nicht um eine Offensive, bei der Menschen ihr Leben lassen müssen. Und da ist es auch egal, auf welcher Seite man steht: So etwas zu feiern zeugt nicht gerade davon, dass man weiß, wofür man sich da einsetzt. Genauso ist auch das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung nichts, was man leugnen oder gar bejubeln soll - es ist nun mal ein Krieg, egal wie man es dreht oder wendet, und Krieg verursacht immer Leid.

Das Ding ist halt, dass gerade die radikal-islamistische Terror-Einheit Hamas einen eliminatorischen Antisemitismus pflegt - ihnen geht es darum, alle Juden weltweit zu vernichten, und das kommt nicht von ungefähr: Denn die Ideologie der Shoah aus Nazi-Deutschland wurde damals auch in die arabische Welt exportiert, und bis heute hat man sich ganz offensichtlich nicht damit auseinandergesetzt. Tatsächlich habe ich schon Ausschnitte aus dem palästinensischen Kinderfernsehen gesehen, in denen antisemitische Botschaften vermittelt wurden - diese Menschen werden von klein auf manipuliert, und das schon seit Generationen. Das begann bereits 1928 mit der Gründung der Muslimbruderschaft in Ägypten und ihrer Kooperation mit dem von den Briten eingesetzten Großmufti von Israel Mohammed Amin al-Husseini - dieser suchte Hilfe bei Hitler, um die Juden aus Palästina zu vertreiben. Infolgedessen ist auch der Einfluss der Nazi-Ideologie während des Zweiten Weltkriegs auch auf das arabische Volk nicht zu unterschätzen, welcher sich mit dem Islamismus verband. Mit anderen Worten, Nazi-Deutschland und Großbritannien tragen tatsächlich auch eine gewisse Mitverantwortung am Nahost-Konflikt. Auch die 1987 gegründete Hamas fordert offen die Vernichtung aller Juden, weshalb sie die 1993 in Aussicht stehende Zweistaatenlösung ebenso ablehnte wie die rechtsradikalen Anhänger von Benjamin Netanjahu. Auch das Massaker am 7. Oktober richtete sich massiv gegen Leute, welche sich für den Frieden zwischen der jüdischen und muslimischen Bevölkerung einsetzten - einer der Schauplätze des Massakers war ein Musikfestival in der israelischen Negev-Wüste, welches als Friedensfestival gedacht war.

Wir können also zusammenfassen: Der Antisemitismus in unseren Breiten ist sowohl hausgemacht als auch importiert, und er findet im linken Spektrum ebenso statt wie im rechten. Die Behauptung, man sei nicht gegen die Juden, sondern nur gegen die Zionisten, hat sich schon deshalb als Ausrede entlarvt, weil auch Personen jüdischen Glaubens beschimpft und bedroht werden, die mit dem Nahost-Konflikt nichts zu tun haben - einfach nur, weil sie Juden sind. Edel ist es, die toten Juden aus dem Zweiten Weltkrieg zu beweinen - aber sobald sie sich zur Wehr setzen, sind sie doch wieder die bösen. Und das ist nicht erst seit 2023 zu beobachten - seit 1948 blitzen solche Tendenzen immer wieder auf, und das teilweise durchaus auch in gebildeten Kreisen. Denn die Notwendigkeit von Bildung ist zwar unbestritten, sie ist aber kein Allheilmittel: Vergessen wir nicht, dass auch Intellektuelle wie etwa Voltaire oder Luther leidenschaftliche Judenhasser waren und dass Akademiker zu den ersten gehörten, die sich 1933 mit dem NS-Staat identifizierten. Desgleichen gehören Juden- und Israelhass zusammen, denn ohne Judenhass hätte es niemals einen Zionismus gegeben: In Wirklichkeit ist Israelhass also nichts weiter als die geographische Erweiterung des altbekannten Judenhasses. Und aktuell ist dies nur eines von vielen Problemen - momentan zeigen rechtsradikale Parteien wie FPÖ und AfD ihr rassistisches, völkisch-nationales Gesicht deutlicher denn je. Und anstatt sich dagegen zu stellen, ergehen wir, die Gegenseite, uns in Grabenkämpfen - was genauso problematisch ist, denn es verhilft jenen, denen wir keine Macht zugestehen wollen, genau dazu.

Wir sehen also, dass bezüglich Israel und Palästina eine Menge Falschbehauptungen kursieren, die leider nicht immer so leicht von Fakten zu unterscheiden sind. Deswegen möchte ich in meinem nächsten Artikel auf ein paar konkretere Beispiele eingehen. Bis dahin hoffe ich, dass ihr eine gute Zeit habt und die Eiseskälte irgendwie übersteht. Bon voyage!

vousvoyez


Atlas: https://www.youtube.com/watch?v=XQGrGol-vUQ

Die da oben: https://www.youtube.com/watch?v=YkexQ7eUEeI

Tobias Huch: https://www.youtube.com/watch?v=Dbj2DVptQHQ

https://www.youtube.com/watch?v=n1TPI1IEDWc&list=PL44bo7l-U5ICNPsaJ1G-WG6Soctn7Rhsj&index=132

https://www.youtube.com/watch?v=NowiEki0ElI&list=PL44bo7l-U5ICNPsaJ1G-WG6Soctn7Rhsj&index=136

Rbb: https://www.youtube.com/watch?v=XfJqbLFSpNM&t=0s

Peter's Coffee: https://www.youtube.com/watch?v=LKByb8I_rXE&t=0s