Freitag, 22. November 2019

Du hast eine Stimme wie ein alter Kupferkessel

Ich kann nicht sagen, ob ich eine Stimme wie ein alter Kupferkessel habe - wie ein Kollege behauptete. Übrigens derselbe, der mich auch fragte, was "Coco Jambo" bedeutet. Wie wir alle wissen, war Coco Jambo dereinst ein sehr beliebter Sommerhit der Eurodance-Gruppe Mr. President, eines der vielen, vielen One-Hit-Wonder, die uns immer wieder begegnen. (Edit: Inzwischen wurde ich darauf aufmerksam gemacht, dass Mr. President mehr als nur einen Hit hatte - das hatte ich wieder vergessen. Asche über mein Haupt!) Als der Song ein Hit war, war ich zwölf - ich verband das Lied immer mit Sonne, Strand und Meer. Und das tue ich im Prinzip bis heute, auch wenn ich nicht gerade behaupten kann, das ich ein besonders großer Fan von Eurodance bin. Der ja zurzeit, wo das Monster des 90er-Revivals mit Riesenschritten im Anmarsch ist, plötzlich wieder total in ist. Umso mehr, als ein 20 Jahre alter Song von den Vengaboys im Zuge der Ibiza-Affäre im Mai tatsächlich zum "Protestsong" avancierte. Was ich ehrlich gesagt doch sehr lustig finde. Oder sagte ich das schon? Egal.

Aufmerksamen Lesern und Innen wird auch früher nicht entgangen sein, dass ich meine Teenagerzeit in den späten 90ern und frühen 2000ern verlebte. Ich kann nicht behaupten, dass es die beste Zeit meines Lebens war. Und auch im Nachhinein muss ich gestehen, dass die 90er für mich eher eine stilistische Katastrophe waren - und das meine ich nicht mal böse. Aber sind wir uns doch ehrlich - es gab damals sehr viel schreckliche Musik, allen voran der Euro-Müll auf den Bravo-Hits-CDs, und potthässliche Mode - denken wir nur an die unförmigen Jeans und T-Shirts, diese scheußlichen Buffalos, die heute schon wieder meine Augen beleidigen, riesige Markenlogos, die man vorläufig größtenteils bei den "Sapeurs" im Kongo sieht und die man haben musste, um nicht gemobbt zu werden, Jogginghosen sogar außerhalb des Fitnessstudios, Kleidung aus purer Synthetik, wo man schon beim Anblick Schweißflecken kriegt. Nicht zu vergessen all die rein synthetischen Süßigkeiten, nach denen heute so manch einer lange Zähne kriegt, obwohl die, wenn man ehrlich ist, überhaupt nicht geschmeckt haben. So gibt es ein Riesen-Gejammer um so ein Topfenerzeugnis namens Frufoo, von dem ich als Österreicherin verschont blieb, dem aber ganz offensichtlich viele Deutsche noch nachweinen - obwohl mir einer neulich erzählt hat, dass es nicht lange auf dem Markt war, weil es eigentlich keiner fressen wollte. Heute betrachtet man das Ganze wenigstens mit einer gehörigen Portion Ironie, aber damals war das alles für uns blutiger Ernst. Cool geht anders - aber das wissen die Teenies heutzutage natürlich nicht. Denn sie waren nicht dabei, und das ist auch gut so.

Natürlich gab es in den 90ern auch andere Seiten - Grunge, Brit Pop, die Blütezeit des Rap, die ersten Filme von Quentin Tarantino, der Beginn der Karriere einiger phantastischer Schauspieler wie Johnny Depp und Leonardo DiCaprio, die Love-Parade, die die Weichen für Toleranz jenseits der Heterosexualität stellte, um nur ein paar wenige zu nennen. Ich gehörte leider nicht zu den coolen Früh-90er-Teenies, die Nirvana oder Pearl Jam bewusst miterlebt oder Pulp Fiction im Kino gesehen haben. In den frühen 90ern war ich noch im Volksschulalter und durfte Jurassic Park nicht im Kino sehen, im Gegensatz zu einigen Freunden, die zu meiner Schande auch noch jünger waren als ich. Und ich besuchte noch dazu eine reine Mädchenschule - was bedeutet, während die Jugendlichen in zerrissenen Jeans herumliefen und ihre Partys zu Smells Like Teen Spirit feierten (was allerdings in meiner Studentenzeit ebenfalls zur Passion wurde), hatten meine Mitschülerinnen in ihren portablen CD-Playern, auch bekannt als "Discman", die Kelly Family laufen. Und zwar dermaßen häufig, dass ich einen regelrechten Hass gegen diese seltsamen Post-Hippie-Gestalten mit ihren sanftmütigen Songs und ihren blonden Haaren, die so lang waren, dass man Jungs und Mädchen praktisch nicht unterscheiden konnte - ich dachte anfangs tatsächlich, Angelo sei ein Mädchen - entwickelte. Eine Zeitlang sahen die typischen Mädchenschwärme ja größtenteils wie Mädchen aus - ich denke da nur an Hanson ("Wie süß, der große Bruder macht Musik mit seinen kleinen Schwestern!") oder den deutschen Popstar Gil. Heute finde ich die Musik der Kelly Family okay im Sinne von "Ich würde mir keine CD kaufen, schalte im Radio aber auch nicht weg". Und die Kelly-Phase wurde in meinen frühen Teenager-Jahren auch noch von der Boygroup-Phase abgelöst - von der vor allem das Jugendmagazin Bravo profitierte, sozusagen das wöchentliche Manifest aller deutschsprachigen Teenager der damaligen Zeit. Und die allwissende Müllhalde, wenn es um sexuelle Fragen geht - aber auch das sagte ich bereits woanders. Und das weiß ich deshalb, weil ich mir bei dieser Formulierung damals wahnsinnig genial vorgekommen bin. Aber auch ein blindes Huhn findet halt ab und zu mal ein Korn. Die heutige Bravo ist mit der damaligen natürlich nicht zu vergleichen - auch wenn man schon in der Anfangszeit dieses Magazins nicht unbedingt als "intelligente Unterhaltung für die Jugend" sprechen konnte. Aber anscheinend hat die Bravo - wie so viele andere Ausdrucksformen der "alten Medien" - Schwierigkeiten, sich an die neuen Gegebenheiten anzupassen, in der die Unterhaltung für die Jugend nicht mehr lediglich auf Radio, Fernsehen und Printmedien beschränkt ist. Und heute sind Teenager ja nicht mehr nur, so wie wir, auf Musiker und Schauspieler angewiesen, sondern bewundern Influencer. Von denen ich sagen muss, dass ich nicht alle schlecht finde - klar gibt es diese Instagram-Tussis, die mit zentimeterdick geschminktem Gesicht "ganz spontan" hundert Spiegel-Selfies raushauen, bis ihnen endlich mal eines gut genug ist, das sie dann bis zur Unkenntlichkeit photoshoppen und mit einem schönen Text darunter posten, der dir erklärt, dass du dich so akzeptieren sollst, wie du bist. Aber vor allem auf YouTube habe ich tatsächlich auch junge Leute entdeckt, die die neuen Medien nutzen, um selbst kreativ zu werden, und wo man sieht, dass hinter dem, was sie machen, auch einiges an Arbeit und Leidenschaft steckt. Und denen zuzusehen macht auch Spaß, wenn man "alt" ist.

Die Diskrepanz zwischen dem Erscheinungsbild und dem, was man aussagen will, sticht in den sozialen Netzwerken natürlich deutlich hervor - in Wirklichkeit gab es die aber doch schon viel länger. Genauso wie die kreischenden Fans - das fing schon bei Frank Sinatra an, und jeder kennt die Bilder der Massen an Teenager, die beim Anblick der Beatles in Ekstase verfielen. Und schon die Mitglieder der Boygroups aus den 90ern, die meist in Castings nach dem Aussehen ausgewählt wurden, erklärten in Interviews, dass für sie bei einer Partnerin nur die inneren Werte zählen, damit jedes Fangirl sich als potenzielle Partnerin begreifen konnte. Fans sind häufig lästig, in der Masse unerträglich, meistens aber harmlos - wenn auch nicht immer, wie der Mord an John Lennon und die Messer-Attacke auf dessen ehemaligen Band-Kollegen George Harrison neunzehn Jahre später gezeigt haben. Für die meisten ist das "Fan-Sein" so etwas wie die Vorstufe zum ersten Freund - solange noch kein realer Junge greifbar ist, projiziert man seine Sehnsüchte eben auf eine Person aus den Medien. Entsprechend distanzieren sich die meisten später auch wieder von dieser Phase und blicken mit Scham oder vielleicht auch Belustigung darauf zurück. Und dann gibt es ein paar wenige, bei denen das "Fan-Sein" eine Lebensentscheidung ist - und mitunter auch krankhafte Züge annimmt.

Ich erinnere mich noch sehr gut an die Trennung von Take That. Ich verfolgte ihren letzten Auftritt in der Sendung Wetten, dass...? Damals war ich zwölf und kam zum ersten Mal richtig mit sowas in Berührung. Und ich konnte es schon zu dieser Zeit nicht verstehen - wobei ich anmerken muss, dass solche, wie soll ich sagen, "Gruppenaktionen" mich nie besonders begeistert haben. Auch Gruppentänze wie der zu Macarena oder besonders dem Las Ketchup Song fand ich eher lächerlich. Nach der vollzogenen Trennung gab es dann die wildesten Gerüchte von verzweifelten Mädchen, die sich umgebracht haben sollen - selbst ein Lehrer an meiner Schule wusste von einer Schülerin zu berichten, die sich angeblich aus dem Fenster zu Tode gestürzt hätte, weil Take That sich getrennt hätte. Tatsächlich gab es Hotlines, wo verzweifelte Fans anrufen konnten, die sonst kein offenes Ohr fanden - und es ist sicher nicht leicht, wenn man in so einer Situation auch noch Hohn und Spott entgegennehmen muss, gerade wenn man jung und in seiner Persönlichkeit noch nicht gefestigt ist. Beweise für die vielen Selbstmorde, die damals stattgefunden haben sollen, gibt es allerdings bis heute nicht.  Ganz abgesehen davon, dass, sollte wenn es einen Selbstmord gegeben haben, sicher nicht ausschließlich die Trennung einer Boygroup daran schuld war. Ich glaube, das ist so ein Ding wie bei den Horrorfilmen, wo die Leute angeblich reihenweise in Ohnmacht gefallen sind, obwohl diese Geschichten im Nachhinein gesehen eher lächerlich wirken. Vielleicht schreibe ich mal was dazu. Wir werden sehen.

Jedenfalls habe ich mit den extremen Auswüchsen der Fankultur schon als Jugendliche so meine Probleme gehabt. Klar ist es völlig normal, dass man als Teenager in irgendeinen Star verschossen ist - aber ich kann, ehrlich gesagt, bis heute nicht verstehen, warum man, wenn dieser Star mal eine Freundin hat, diese beleidigen, bedrohen oder gar tätlich angreifen muss. Mir will ohnehin nicht in den Kopf, wie man sich reelle Chancen auf einen unerreichbaren Musiker, Schauspieler oder Influencer ausrechnen kann - bei dieser gewaltigen Konkurrenz und wo doch ohnehin kaum ein "Normalo" noch an diesen herankommt. Das einzige Jugendidol, von dem ich je gehört habe, dass es einen Fan geheiratet hat, war Ringo Starr, und der lernte dieses Mädchen in einer Zeit kennen, als der Ruhm der Beatles hauptsächlich auf die Musikclubs in Liverpool beschränkt war. Und als die Musikszene ohnehin etwas, sagen wir mal, "familiärer" war als heute. Klar muss man auch bei dieser Art von Fans zwischen Erwachsenen und Kindern bzw. Jugendlichen unterscheiden. Ich sage mal, in einem Alter unter vierzehn bis sechzehn ist ein Mensch noch nicht so gut in der Lage, zwischen einer öffentlichen Kunstfigur und einer Privatperson zu unterscheiden. Deswegen haben Meinungsblogger auf YouTube, die Kritik an einem YouTube-Star mit einem sehr jungen Publikum üben, auch immer mit einem wütenden Shitstorm an Kinderfans zu rechnen, die glauben, ihr Idol buchstäblich bis an die Zähne verteidigen zu müssen. Das Alter dieser "Hater" erkennt man sehr leicht an der miserablen Orthographie, den kindlichen Formulierungen ("Er/Sie ist nicht blöd, du bist blöd!") und den heftigen Beschimpfungen, die darauf schließen lassen, dass hier Kinder ohne Aufsicht unterwegs sind. So was gab es durchaus früher auch schon - beispielsweise in Leserbriefen an die Bravo, in denen junge Boygroup-Fans ihr Herz ausschütteten, wenn auch mit weniger Kraftausdrücken. Heute ist das alles halt noch wesentlich greifbarer, da das Internet es erlaubt, in Echtzeit zu kommunizieren. Aber die Kinder, die hier so leidenschaftlich shitstormen, wachsen da irgendwann mal raus. Schwierig wird es, wenn man diese Phase nicht überwinden kann - wie die Betreiberinnen des Internet-Blogs "Never Forget", die sich für einen offiziellen Gedenktag für die "Opfer" der Trennung von Take That organisiert haben. An und für sich spricht ja nichts dagegen, sich gemeinsam zu erinnern und die Zeit aufzuarbeiten. Aber es liegt eben in der Natur der Sache, dass Bands sich irgendwann trennen - außer vielleicht, es sind die Rolling Stones. Und es gehört nun einmal zum Erwachsenwerden dazu, mit Enttäuschungen fertig zu werden. Soweit ich sehe, gibt es jedoch seit 2013 keinen neuen Blog-Eintrag mehr. Hoffen wir, dass die Damen endlich in der Gegenwart angekommen sind.

Im Jahr 2015 löste Zayn Malik auch wieder so einen hirnverbrannten Hype aus, als er die Boygroup One Direction verließ - unter #cutting4zayn ritzten sich Jugendliche die Haut, um ihn am Gehen zu hindern. Also eine dieser bescheuerten Challenges, über die ich schon berichtet habe. Ganz abgesehen davon, dass ich diese Ritz-Trends sehr kritisch sehe, da diese ungesunde Angewohnheit tatsächlich krankhaft werden kann und man im schlimmsten Fall diejenigen, die wirklich Probleme haben, möglicherweise nicht mehr ernst nimmt - wie kommt ein Mensch dazu, dass er sich von irgendwelchen ihm unbekannten Teenagern erpressen lassen soll? Sowohl für diese Aktion als auch für so Sachen wie einem Star nachzustellen oder dessen Partnerin zu schikanieren gilt: Dazu hat keiner das Recht. Wer einen Nicht-Prominenten stalkt, wird bestraft. Warum soll das bei einem Star moralisch weniger fragwürdig sein?

Im besten Fall ist die Schwärmerei für einen Star jedoch eine schöne Erinnerung - etwas, wovon man später auch noch zehren kann. Normalerweise lernt man irgendwann dann doch mal die erste Liebe kennen. Und setzt am Ende die rosarote Brille der Nostalgie auf. Was an und für sich auch okay ist. Nur sollte man darüber die Gegenwart nicht vergessen - und, dass mittlerweile eine neue Generation heranwächst, deren Lebenswelt eine andere ist. Erinnert euch an all die alten Leute, die euch in eurer Jugend auf die Nerven gegangen sind. Und macht um Himmels willen nicht den Fehler, irgendwann genauso zu werden.

vousvoyez