Montag, 4. September 2023

Ich kann Thomas Gottschalk total gut verstehen: Seit ich das erste Mal Topfschlagen gespielt habe, weiß ich, wie Blinde sich fühlen

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Nun gehöre ich ja zu denjenigen, die sich ein Wetten, dass ... ? ohne den großen Blonden niemals hätten vorstellen können. Wobei ich zugeben muss, dass ich mein Interesse an der Sendung, als er aufhörte, sie zu moderieren, schon längst verloren hatte. Die Kindheit ist halt eben doch irgendwann vorbei. Dafür sorgte der mittlerweile ältere nicht mehr ganz so junge Herr vor zwei Jahren für einen Shitstorm, als er in der - meiner Ansicht nach, so wie sie aufgezogen war, völlig überflüssigen - WDR-Sendung Die letzte Instanz auftrat. Damals kam nämlich sein Fauxpas im Jahre 2013 zur Sprache, als er sich für eine Kostümparty in Los Angeles als Jimi Hendrix verkleidete - mit schwarz geschminktem Gesicht, natürlich. Das Problem hierbei war, dass vier Personen über eine Problematik diskutierten, die sie selbst nicht betraf - und auch wenn ich der Ansicht bin, dass man Fehler aus der Vergangenheit nicht übertrieben aufbauschen muss, ist es doch befremdlich, dass jemand, der sich jederzeit wieder abschminken kann, glaubt, er weiß nun, wie es ist, schwarz zu sein, weil er sich für einen Abend mal ein Kostüm angezogen hat. Vor allem aber gab es große Empörung darüber, dass Herr Gottschalk hinterher zu dem Vorfall geschwiegen hat.

Nun wissen wir ja, dass es heutzutage Leute gibt, die sehr empfindlich sind, wenn es um marginalisierte Gruppen geht - doch obgleich ich selbst Kritik an meiner eigenen Woke-Bubble übe und das auch wichtig finde, bin ich nicht blind: Ich schätze die Gefahr von rechts aktuell als weitaus größer ein als die von links, auch wenn auf Äußerungen über rechte Gewalt häufig genug die Antwort "... aber ... aber ... aber ... DIE LINKEN!!!" kommt. Letztendlich ist dies aber auch nichts anderes als ein beliebtes Manöver, um vom eigentlichen Thema abzulenken - eine Strategie, die aktuell sehr beliebt ist, wenn es um unbequeme Kritik geht. Gerade in rechten und konservativen Kreisen ist es aktuell außerdem sehr en vogue, von drängenden Problemen abzulenken, indem man andere herbeiphantasiert - und so sind die größten Probleme unserer Zeit, glaubt man etwa der FPÖ, nicht die Bildungsmisere, der Ukraine-Krieg, der Klimawandel, steigende Preise und der allgemeine Rechtsruck, sondern das Gendern, der "Woke-Wahnsinn" und der Pride Month. Das Problem an der Sache ist, dass sich gewisse Strategien, etwa aktuell das Festbeißen am Thema LGBTQ und vor allem am Thema Transgender, bereits bis in konservative Kreise durchgesetzt haben - tatsächlich scheinen Parteien wie etwa hierzulande die ÖVP oder in Deutschland die CDU/CSU sich immer mehr rechtsradikales Gedankengut anzueignen in der Hoffnung, damit rechtsradikalen Konkurrenten die Wähler wegzunehmen. Warum sollten diese sich aber mit einer Kopie zufriedengeben, wenn sie auch das Original haben können? Und ich muss ganz ehrlich sagen, dass die Aussicht auf den nächsten Wahlkampf mir tatsächlich Angst macht - zumal unsere Parteienlandschaft mittlerweile so zerfasert ist. Das Problem ist, dass der Rechtsruck kein rein österreichisches oder deutsches Phänomen ist, sondern mittlerweile in den meisten westlichen Staaten gegeben ist.

Sehr extrem zu spüren ist dies mittlerweile in den USA, die einst als Inbegriff des Fortschritts galten und die mittlerweile nur noch wie eine Dystopie ihrer selbst wirken. Das sieht man vor allem in Florida, dessen Gouverneur Ron DeSantis aktuell als Donald Trumps schärfster Konkurrent bei der Kandidatur für die Republikaner als Präsident gehandelt wird. Und man mag es nicht glauben: Er scheint sogar noch schlimmer zu sein als das tote Meerschweinchen, das sich aus Versehen eine dicke Orange eingetreten hat! Tatsächlich ist DeSantis ein Paradebeispiel für jene Paradoxie, welche in rechtsradikalen und verschwörungsideologischen Kreisen sehr beliebt ist: nämlich anderen genau das vorzuwerfen, was man selbst tut. Denn während er behauptet, dass die US-Bevölkerung von linksliberalen und "woken" Gruppierungen bevormundet werde, schränkt er aktiv die Rechte anderer ein. So dürfen Ärzte in Florida Patienten aus moralisch-ethischen oder religiösen Gründen ablehnen; Eltern droht der Entzug ihrer Kinder, sobald nur der Verdacht auf eine geschlechtsangleichende Behandlung bestehe - worunter theoretisch alles fallen könnte, welches Geschlechterklischees widerspricht, wie etwa Make-up bei Jungen -; große Wellen schlug auch das "Don't-say-gay"-Gesetz, welches Lehrern mit Jobverlust droht, sollten sie mit Kindern, die noch nicht das dritte Grundschuljahr erreicht haben, über sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität sprechen. Generell steht der bevorstehende Präsidentschaftswahlkampf auf republikanischer Seite ganz im Zeichen des Hasses gegen Transpersonen - das politisch rechte Lager inszeniert einen hochgradig emotionalisierten "culture war", den manche sogar als "holy war" bezeichnen und der sich in offener Feindseligkeit gegen die Trans-Community äußert. Und dies gelingt vor allem durch das Heraufbeschwören von Problemen, die es eigentlich gar nicht gibt sowie das ewige Geschrei nach dem Schutz der lieben Kleinen.

Tatsächlich zeichnet sich Ron DeSantis nicht nur durch Gesetze verantwortlich, die für Transpersonen existenzbedrohend sind - er wirbt auch noch anlässlich seiner Präsidentschaftskandidatur damit, besonders grausam gegen diese vorgehen zu wollen. So bedient er den Verschwörungsmythos, dass Transitions in Wirklichkeit nur deswegen vorgenommen würden, damit Männer sich in den Frauensport schmuggeln und dort Trophäen abgreifen können. Kelly Craft, Kandidatin für den Gouverneurswahlkampf in Kentucky, wirbt für sich mit dem Versprechen, Trans-Kinder aus Schulen zu entfernen, und eine gewählte Abgeordnete aus Montana kommunizierte im Kongress offen, dass ihr der Suizid ihrer Tochter lieber wäre als eine eventuelle Geschlechtsangleichung. Manche Leute glauben außerdem, dass der amtierende Präsident Joe Biden in Zusammenarbeit mit Lehrergewerkschaften den Plan verfolge, Kinder gezielt trans zu machen, und christlich-fundamentalistische Pastoren in Idaho und Texas rufen zur Ermordung aller Angehörigen der LGBTQ-Community auf. Wie brenzlig die Situation bereits ist, zeigte sich im März diesen Jahres, als eine Hasswelle gegen die Schokoladenmarke Hershey's losbrach, die anlässlich des Internationalen Frauentages in Kanada eine PR-Kapagne mit dem Titel Her for She startete, die von fünf Frauenrechts-Aktivistinnen vorgestellt wurde - darunter auch eine Transfrau. Einen Monat später wurde auch die Biermarke Budweiser mit der aktuell erstarkenden Transfeindlichkeit konfrontiert: Als eine Transgender-Influencerin Werbung für Bud Light machte, trendete auf diversen Social-Media-Plattformen der Hashtag #BoycottBudLight und man teilte Videos von Leuten, die auf Bud-Light-Dosen schossen (darunter auch Trump-Anbeter Kid Rock). Viele Rechtskonservative jammerten, dass dies die schlimmste Zeit ihres Lebens sei (fast beneidenswert, wenn es nicht so traurig wäre); es hagelte Bombendrohungen gegen mehrere Budweiser-Fabriken; Menschen, die es wagten, Bud Light zu kaufen, wurden körperlich attackiert und in den Südstaaten wurde eine "ultrarechte", "woke-freie" Biermarke entwickelt.

Die Dämonisierung von Transpersonen durch rechte Kreise ist jedoch nicht nur in den USA, sondern auch hier in Europa hoch im Kurs. Denn natürlich ist dies ein dankbares Thema: Menschen, die sich als Transgender identifizieren, also sich nicht dem bei der Geburt ermittelten Geschlecht zugehörig fühlen, sind entgegen ihrer panischen Schreie eine kleine Minderheit - was bedeutet, dass viele "Normale" mit diesem Thema nichts anfangen können, weil sie sich nie damit auseinandergesetzt haben. Das ist ja an sich auch nichts Verwerfliches - man kann sich ja nicht mit allem beschäftigen. Das Problem ist allerdings, dass andere sich diese Unwissenheit zunutze machen und jene, die vor ein paar Jahren noch gar nicht wussten, dass es so etwas wie Transgeschlechtlichkeit überhaupt gibt, aktiv gegen Menschen aufbringen, die nichts anderes wollen als ihre Identität zu leben, ohne belästigt oder diskriminiert zu werden. Und indem man ein Problem kreiert, das es eigentlich gar nicht gibt, kann man wunderbar von anderen, viel drängenderen Problematiken ablenken und Menschen dazu bringen, dass sie sich viel mehr Gedanken über unliebsame Interpunktionszeichen machen als über marode Bildungssysteme, galoppierende Inflation oder den menschengemachten Klimawandel.

Entsprechend wird das Thema in unseren Breiten natürlich besonders gern von AfD und FPÖ aufgegriffen - etwa mit Plakaten, auf denen geschminkte Männer mit grausamem Lächeln ihre Hände nach unschuldigen Kindern ausstrecken, eine Ästhetik, die nicht nur mich auf sehr unangenehme Weise an die Propaganda-Plakate der NS-Zeit erinnert, auf denen Juden auf gleiche Weise dargestellt wurden. Und auch in konservativen Kreisen werden die Verschwörungsmythen rund um Transgender inzwischen unreflektiert nachgeplappert - etwa das Narrativ, dass Männer sich lediglich als Transfrauen ausgäben, um kleinen Mädchen ungestört beim Duschen und Umziehen zuschauen zu können. Und natürlich kann es auch nicht überraschen, dass auch innerhalb der LGBTQ-Community nicht differenziert wird - etwa in der aktuellen Debatte darum, ob Dragqueens Kindern Geschichten vorlesen dürfen. Denn Drag ist eine Kunstform, in der mit Geschlechterklischees gespielt wird, und hat als solche auch nichts mit Transgender zu tun - hat aber in den USA bereits dazu geführt, dass vermummte, bewaffnete Gestalten mit Hakenkreuz-Fahnen auf Drag-Events auftauchten und hierzulande dafür gesorgt, dass Kinderlesungen unter Polizeischutz gestellt werden müssen. Wenn ich all diese aufgeregten Leute sehe, die von einer "Indoktrination" kleiner Kinder sprechen, wird mir klar, wie gefährlich diese Mischung aus fehlender Medienkompetenz (Quelle "das weiß man"), geringer Intelligenz und Desinformation werden kann. Denn das sind keine Neonazis mit Hakenkreuzfahne, sondern besorgte Bürger und brave Hausfrauen - mit anderen Worten, ganz normale Leute. Und so kamen Social-Media-User auf die Idee, den Pride Month in "Stolzmonat" umzubenennen und den bösen Regenbogenfahnen die deutsche Nationalflagge entgegenzusetzen: Der "Kulturkampf" ist hier schon längst angekommen.

Und was steht hierbei an erster Stelle? Natürlich - der vermeintliche Kinderschutz. Denn die größte vulnerable Gruppe ist natürlich am leichtesten instrumentalisierbar - wer kann schon etwas dagegen haben, Kinder zu schützen? Das geht schon so weit, dass Regenbogenfarben auf Kinderkleidung bereits für diese Panikmache herhalten müssen - denn selbstverständlich denkt man beim Anblick eines Regenbogens sofort an Sex. Selbst der Himmel will uns alle zwingen, schwul zu werden - und auch die finsteren Machenschaften eines Wasserstrahls werden offenbar, sobald man ihn gegen die Sonne hält! Und so hat man schon in den 1970er Jahren vor schwulen Männern gewarnt, weil die angeblich pädophil seien und Kinder homosexuell machten - und heute werden Männer angeblich trans, um kleine Mädchen belästigen zu können und Kinder trans zu machen. Fakt ist allerdings: Man kann weder homosexuell noch trans "gemacht" werden - es gibt allerdings Menschen, die das ihnen bei der Geburt zugewiesene Geschlecht  nicht "einfach akzeptieren" können. Ich selbst habe das auch erst verstanden, nachdem ich drei Transfrauen persönlich kennengelernt habe - im Prinzip finde ich aber, dass man Menschen auch akzeptieren kann, ohne ihr Anderssein deswegen verstehen zu müssen. Es ist einfach nicht dein Problem, Schurli! Und warum sollten Menschen, wenn sie nun diesen Leidensdruck haben, sich nicht an den Errungenschaften moderner Medizin bedienen dürfen - es erwächst doch niemandem ein Nachteil daraus! Ganz abgesehen davon, dass nicht jede Transperson sich einer geschlechtsangleichenden Operation unterzieht, da diese - wie jede medizinische Maßnahme - auch Risiken beinhaltet, mit denen nicht jede leben will oder kann. Darüber hinaus werden Menschen, die noch nicht ausgewachsen sind, sowieso noch gar nicht operiert - und natürlich finde ich es auch falsch, Pubertätsblocker zu schlucken, wie man es gerade lustig ist, aber kommt das wirklich so oft vor? Und ganz abgesehen davon - warum soll man Kindern, deren Transidentität bereits nachgewiesen ist, eine irreversible Pubertät zumuten, wenn es auch anders geht? Klar könnte man einwenden, dass die Person sich irgendwann einmal umentscheiden könnte - das passiert aber in den seltensten Fällen, und wenn, dann hängt es häufig mit fehlender gesellschaftlicher Akzeptanz zusammen. Im übrigen birgt jede Operation ein gewisses Risiko mit sich, dass man sie später bereut - aber wenn der positive Aspekt doch so offenkundig überwiegt, warum hängt man sich dann daran auf? Abgesehen davon, dass man sich nicht gleich einer Geschlechtsangleichung unterziehen kann, als würde man zum Friseur gehen - es gibt schon einige Auflagen, die man erfüllen muss, beispielsweise ein psychiatrisches Gutachten, das aktuell noch sehr teuer ist, das aber meiner Meinung nach kostenlos sein sollte.

Man kann also sagen: Es geht  nicht darum, Cis-Kinder "trans zu machen", sondern darum, Trans-Kindern Sicherheit zu bieten. Aber offensichtlich sind die selbst ernannten Kinderschützer gar nicht mehr so kinderlieb, sobald es um Kinder geht, die nicht in ihr Weltbild passen. Stattdessen werden Gefahren ganz ohne Grundlage herbeiphantasiert und von "Frühsexualisierung" gefaselt, wenn es um Regenbögen geht, während schon bei Kleinkindern Mädchenkleidung enger und kürzer fabriziert wird als Jungenkleidung und in Florida ein Gesetz verabschiedet wurde, welches es der Bevölkerung noch leichter macht, an Waffen zu kommen. Tatsächlich gibt es für Florida schon eine offizielle Reisewarnung an marginalisierte Gruppen, während hierzulande Leute, die sich über die ständige Präsenz des Themas beschweren, am meisten über das Thema reden. Und in der Politik sind das gerade diejenigen, die über keine zukunftsfähigen Pläne verfügen und nichts tun als andere zu blockieren, jeglichen Fortschritt zu verhindern und darüber zu jammern, dass die anderen alle blöd sind. Aber wenn man auf diese Weise Politik betreibt, muss man ständig irgendwelche nicht existierenden "Kulturkämpfe" heraufbeschwören und Kleinigkeiten wie die Erlaubnis, zu gendern oder vegane Schnitzel in der Kantine anzubieten zum ultimativen Angriff auf die Freiheit hochstilisieren. Das Problem ist aktuell, dass zu viele Menschen darauf hereinfallen - und ja, darum sorge ich mich tatsächlich. Andererseits empfinde ich, wie ich an anderer Stelle schon angemerkt habe, auch tiefes Bedauern gegenüber denjenigen, die vor allem Angst haben, was sie nicht verstehen und sich deshalb die Chance verbauen, ihren Horizont zu erweitern. Das einzige, was man dagegen tun kann, ist, in Kontakt zu treten - denn ein paar Verbohrte wird es immer geben, aber ich denke, wir sollten die Anzahl dieser so gering wie möglich halten.

vousvoyez

RobBubble: https://www.youtube.com/watch?v=7Mpe5_gBUtI&list=PL44bo7l-U5ICNPsaJ1G-WG6Soctn7Rhsj&index=113

extra3: https://www.youtube.com/watch?v=03wBbp5Pa_M&list=PL44bo7l-U5ICNPsaJ1G-WG6Soctn7Rhsj&index=115

Der dunkle Parabelritter: https://www.youtube.com/watch?v=FONVcd0-Kf0&list=PL44bo7l-U5ICNPsaJ1G-WG6Soctn7Rhsj&index=114&t=11s

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