Mittwoch, 29. April 2020

Ich wäre gern der Kater meiner Frau - was der alles darf!

Dieser Satz stammt von einem Lehrer aus meiner Schule - der allerdings Italienisch unterrichtete, ein Fach, das ich nie belegt habe, so dass ich die vorliegende Weisheit nur aus zweiter Hand wiedergeben kann. Ich habe ja bereits öfter darüber geschrieben, dass manche Menschen etwas merkwürdig reagieren, wenn es um ihre Haustiere geht. Für viele sind die geliebten Vierbeiner ein vollwertiges Familienmitglied, was ich ja auch richtig finde. Für manche sind sie jedoch auch bessere Menschen - und da fängt es bisweilen an, ein wenig schräg zu werden. Zu den beliebtesten Haustieren auf dieser Welt gehören selbstverständlich die Katzen, aber ich behaupte an dieser Stelle, dass Katzen inzwischen schon weitaus mehr sind als nur ordinäre Haustiere. Nein, ich behaupte, dass unsere geliebten Samtpfoten in Wirklichkeit schon längst die Weltherrschaft an sich gerissen haben, und die Indizien dafür möchte ich in diesem Artikel ausführen.

1. Katzen sind süß
Keiner, der Augen im Kopf hat, auch wenn er Katzen hasst, kann leugnen, dass die meisten Katzen ganz einfach entzückend aussehen. Und selbst wenn es Exemplare gibt, die für den allgemeinen Geschmack eher als hässlich gelten (wobei "hässlich" nicht gleichbedeutend mit "weniger wert" ist), so finden auch diese zuverlässig ihre Anhänger. Diese Niedlichkeit, gepaart mit dem Umstand, dass die schnurrenden Stubentiger auch absolute Schmusekönige und darüber hinaus wunderbar verspielt sind, verdanken es die Katzen, dass man ihnen viel verzeiht - etwa, dass sie unsere teuren Sofas zerkratzen und in der Regel tun, was sie wollen. In Wirklichkeit ist dies jedoch ihre gezielte Strategie, um uns gefügig zu machen - sie lullen uns mit ihrer Possierlichkeit ein, um ihre finsteren Machenschaften zu verschleiern.

2. Wir halten uns Katzen, obwohl sie keine Aufgaben für uns übernehmen
Klar hat auch die Katze für denjenigen, der sie hält, ihren Nutzen, und sei er auch nur psychologischer Natur. Aber es ist doch so, dass Tiere ursprünglich deswegen domestiziert wurden, weil wir ihre Fähigkeiten als Unterstützung für unser tägliches Leben einsetzen. Klar wurde auch die Katze ursprünglich zur Schädlingsbekämpfung eingesetzt, aber heutzutage ist eine Mäuseplage kaum noch das vorwiegende Motiv, weshalb man sich eine Katze anschafft - in der Regel werden sie zum Liebhaben gehalten. Natürlich sind sie nicht die einzigen, deren Daseinszweck sich auf diese Weise gewandelt hat, aber dennoch hat dies ausgereicht, sie zum beliebtesten Haustier der Welt zu machen. Und zwar deshalb, weil sie in Wirklichkeit über uns herrschen - sie haben uns dazu gebracht, sie bei uns zu Hause aufzunehmen, gleichzeitig aber ihren Hilfsarbeiter-Status als Mäusefänger zu verlieren. Heute sind wir es, die zu Hilfsarbeitern degradiert werden.

3. Katzen sind überall!
Egal wo man hinschaut, die Katze ist aus dem Internet nicht mehr wegzudenken. Überall findet man süße und/oder lustige Fotos bzw. Videos über Katzen, und es macht Spaß, sie sich anzusehen, einfach, weil Katzen so niedlich sind und ihre Bewegungen so überraschend. Und obwohl ihre Gesichter eine gewisse Ähnlichkeit mit den menschlichen haben, spiegeln sich keine Emotionen in ihnen ab - Katzen schauen in der Regel immer gleich. Das übt auf uns einen gewissen Reiz aus und ermöglicht es der Katze, ihre finsteren Machenschaften zu verschleiern. Ihre herzige und gleichzeitig lustige Art war ausschlaggebend dafür, dass sie im Internet omnipräsent sind - sie überschwemmen das Internet, sie infiltrieren es, bis sie es eines Tages vollständig übernommen haben. Wenn dies nicht ohnehin schon der Fall ist.

4. Katzen haben Personal
Der Satz "Hunde haben Besitzer, Katzen haben Personal" kommt nicht von ungefähr - im Prinzip schaffen wir uns eine Katze an, um ihr ihr Leben lang zu Diensten zu sein, mit anderen Worten: Die Katzen haben für uns keinen Nutzen, wir aber für die Katzen. Denn obgleich sie auch draußen in der weiten Welt überleben würden, ist es doch viel gemütlicher, wenn man gefüttert wird und ein warmes Plätzchen hat. Was bedeutet, dass uns unsere geliebten Fellkugeln schon längst unterjocht haben - wir haben es nur noch nicht bemerkt. Wir bilden uns immer noch ein, dass wir eine Katze haben - und dabei hat die Katze in Wirklichkeit uns! Sie tut nicht, was wir wollen, sondern wir tun, was sie wollen! Und dass viele von ihnen mit der Zeit "lernen", das Sofa nicht mehr zu zerkratzen und im eigens dafür angeschaffte Katzenklo zu pinkeln, ist in Wirklichkeit nicht unsere Erziehung, sondern ihre Gnade! Und gleichzeitig auch eine wohl kalkulierte Strategie, keinen Verdacht zu wecken.

5. Katzen sind unabhängig
Was uns vor allem an Katzen fasziniert, ist ihre Unabhängigkeit. Auch Hauskatzen sind größtenteils in der Lage, für sich selbst zu sorgen, sollten sie auf sich allein gestellt sein, und tun, wie gesagt, im Wesentlichen das, was sie wollen. Sie kuscheln mit uns nicht auf Befehl, sondern dann, wenn sie das Bedürfnis dazu haben, und sind im Wesentlichen Einzelgänger. Vor allem aber sind sie in der Lage, in natürlichen Lebensräumen, die ihnen fremd sind, trotzdem zurechtzukommen und darüber hinaus noch andere Tierarten auszurotten. Sprich: Die Katze bestimmt über Leben und Tod, die Katze entscheidet, welche Tierarten auf dieser Welt eine Daseinsberechtigung haben! Und die Frage ist, wie lange es dauert, bis sie mit uns Menschen genauso verfährt.

6. Katzen legen sich gern auf Computer-Tastaturen
Vor Jahren lebte ich einmal in einer Wohngemeinschaft, und einer meiner Mitbewohner war ein grau-weißer Kater. Es gab Zeiten, in denen er sich an mich kuschelte, wenn ich mich schlafen legte, aber häufig setzte er sich auch gerade dorthin, wo ich ihn nicht haben wollte. So saß er mit Vorliebe auf dem gerade aufgestellten Wäscheständer, wenn ich gerade meine Wäsche aufhängen wollte. Und er liebte es, sich auf die Tastatur meines Laptops zu setzen, wenn ich ihn gerade benutzte! Damals glaubte ich, dass er die Tastatur einfach bequem fand, weil sie warm war, oder dass er auf diese Weise meine Aufmerksamkeit wecken wollte. Heute jedoch weiß ich es besser: Er hat in Wahrheit mit seinen Artgenossen in den sozialen Netzwerken kommuniziert! Im realen Leben sind Katzen Einzelgänger, ja, aber in Wirklichkeit haben sie sich organisiert, um die Menschheit zu unterjochen und ein Katzen-Imperium zu errichten! Lauft um euer Leben!

7. Rechte Social-Media-Profile haben häufig Katzenbilder
Ich habe ja schon einmal darüber geschrieben, dass viele Rechtsgestrickte sich als ganz besondere Tierliebhaber verstehen und dass viele Facebook-Profile, deren Kommentare und Posts auf eine ziemlich rechte Gesinnung schließen lassen, Tiere als Profilfotos haben - bevorzugt den eigenen Hund oder die eigene Katze. Jetzt weiß ich auch, warum - diese vielen Katzenfoto-Profile sind gar keine Menschen, die eine Katze zu Hause haben: Es sind die Katzen selbst!

8. Katzen haben keine Mimik
Wie ich schon zuvor geschrieben habe, haben Katzen ja keine Mimik so wie Menschen oder auch Hunde - sie schauen eigentlich immer gleich. Und manchmal habe ich das Gefühl, von ihnen beobachtet zu werden! Mein Freund wohnte vor vielen Jahren mal in einer Gegend, in der es ungewöhnlich viele Katzen gab. Wo man auch hinging, überall stieß man auf eine Katze! Und manchmal, wenn ich abends in der Dämmerung zum Bus ging und die Siedlung menschenleer war, saßen überall Katzen, und alle haben mich angesehen, als wollten sie sagen: "Was willst du Mensch um diese Zeit hier?" Ich bin mir sicher: In dieser Gegend lag eine der Zentralen, von denen aus die Katzen die Welt regieren! Es gibt einen Deep State - das sind die Katzen!

Ich gehe zwar davon aus, dass ich das niemandem erklären muss, trotzdem weise ich zur Sicherheit noch einmal darauf hin, dass all das natürlich Satire war. Und im übrigen gehören Katzen auch zu meinen Lieblingstieren. Auch wenn ich zu so einem winzigen Elefanten als Haustier auch nicht nein sagen würde.

vousvoyez

Samstag, 25. April 2020

Hier ruhen meine Gebeine, ich wollt', es wären deine

(c) vousvoyez
Ein toller Spruch für den Grabstein, findet ihr nicht auch? Mein Partner hat mir an dem Tag, an dem wir uns kennen lernten, gesagt, auf seinem Grabstein solle stehen: "Geboren 1979, gestorben gestern". Was wollt ihr mal auf eurem Grabstein stehen haben? Schreibt's mir in die Kommentare! Bis zum nächsten Mal!

Halt, halt, halt, nicht weglaufen, war nur ein Witz! Eine Freundin (die mit den Amerikaner-Witzen) hat mir übrigens erzählt, dass eine Brieffreundin ihr immer auf diese Weise schrieb: "Liebe E, wie geht es dir, mir geht es gut. Oh, ich muss jetzt Schluss machen, meine Mama kocht gerade das Essen und ich muss ihr helfen. Bis zum nächsten Mal!" Wie ihr ja wisst, bin ich schon alt ein bisschen älter und stamme aus einer Zeit, in der man sich noch echte Briefe auf echtem Papier geschrieben hat. Ich weiß gar nicht mehr, wie lange es her ist, dass ich einen echten Brief bekommen habe, der nicht irgendwas Unerfreuliches von irgendeiner Behörde war - von den Weihnachtskarten mal abgesehen. Und so gerne ich mich auch im World Wide Web herumtreibe, vermisse ich das, offen gestanden, manchmal schon. Vor allem, weil man Briefe besser aufheben kann als digitale Nachrichten. Und sich oft sogar die Nachkommen noch daran erfreuen.

Andererseits sind die vielfältigen Kommunikationsmöglichkeiten heutzutage in Zeiten wie diesen natürlich ein Segen. Hätte es vor 20 oder gar 30 Jahren einen vergleichbaren Lockdown gegeben, dann würden wir heute ganz schön blöd aus der Wäsche schauen - wobei das viele gedankenlose Herumreisen wohl auch ein wenig zu einer Situation wie heute beigetragen hat, aber das ist eine andere Geschichte. Ich persönlich halte es normalerweise so: Zu Hause bin ich vergleichsweise viel im Internet, aber dafür bleibt es auch zu Hause - draußen nutze ich es fast nicht. In der gegenwärtigen Situation bin ich allerdings ziemlich viel zu Hause, was natürlich heißt, dass ich auch weitaus mehr online bin als sonst. Das hat seine Vorteile, denn ich habe hier nicht nur Kontakt mit Leuten, die ich aktuell nicht sehen kann, sondern auch neue Freundschaften geschlossen. Der Nachteil ist jedoch, dass mir hier weitaus mehr Leute begegnen, die mich wahnsinnig anzipfen, wie wir in Österreich sagen, auf Deutsch, die mir auf die Nerven gehen. Und deswegen möchte ich heute mal genau über diese Eierer (Nervensägen) sprechen! Wahrscheinlich war es auch nicht das letzte Mal. Im übrigen möchte ich anmerken, dass ich vieles absichtlich überspitzt formuliert wurde - das nur, damit sich niemand von euch, liebe Leser und Innen, auf den Schlips getreten fühlt.

Top-Eierer Numero 1: Früher war alles besser

Oh ja, wer kennt sie nicht! Der natürliche Lebensraum dieser Spezies sind zwar die Nostalgie-Gruppen, aber mittlerweile breiten sie sich überall in den sozialen Netzwerken aus. Ihre Message ist einfach: Die heutige Zeit ist blöd, die frühere war viel besser, es gab keine psychischen Krankheiten, keine Allergien und Unverträglichkeiten, Masern und Röteln waren vollkommen harmlos, die Kinder haben den ganzen Tag draußen gespielt und überhaupt gar nie ferngesehen oder mit der Spielkonsole gespielt, außerdem waren sie besser erzogen, weil sie jeden Tag ihre wohlverdienten Prügel mit Kochlöffel, Teppichklopfer oder Gürtel bekommen haben, und das hat auch nicht geschadet, ebenso wenig, wie es geschadet hat, dass Babys zeitweise mit Alkohol ruhig gestellt wurden, die Jugend hatte noch Respekt vor Älteren und hat ihre Lebensmodelle nicht in Frage gestellt, die Mode war schöner, die Musik besser, die Fernsehsendungen intelligenter, die Ausländer waren im Ausland, die Väter konnten mit ihrem Gehalt als einfacher Arbeiter eine Luxusvilla und Urlaub in der Karibik finanzieren, während die Mutter ihre Erfüllung noch darin sah, zu kochen, zu putzen und die Kinder zu hüten, wie es sich gehört, mit zehn Euro konnte man einen ganzen Einkaufswagen füllen und überhaupt gab es damals den bösen Euro noch gar nicht, sondern nur die liebe D-Mark und den braven Schilling. Vor allem aber hatten wir damals keine Smartphones! Denn das Smartphone ist selbstverständlich die Wurzel allen Übels, wie Top-Eierer Numero 1 mittels seines neuen iPhone, Samsung Galaxy oder Sony Xperia ganz aufgeregt auf Facebook postet. Auf den Hinweis, dass nicht die Kinder, sondern deren Eltern die Smartphones kaufen, wird gern lamentiert, dass man gezwungen sei, seinem Fünfjährigen das neueste iPhone zu kaufen, weil er sonst von den anderen Kindern gemobbt wird. Beliebte Memes von Top-Eierer Numero 1 sind etwa spielende Kinder mit Bildunterschriften wie "Kindheit ohne Elektronik - ich war dabei!" oder "Kinder von heute kennen das nicht mehr". Oder auch das Bild, das erklärte, früher hätte es keine Lactose- und Fructose-Intoleranz gegeben und es sei gegessen worden, was auf den Tisch kommt. Gerne geilen sie sich auch gegenseitig auf mit Berichten darüber, wie schlimm und mit welchen Gegenständen sie verprügelt worden seien, dass ihnen das überhaupt nicht geschadet hätte und dass das der heutigen Jugend auch ganz gut tun würde. Lustig dabei: Ein paar Posts unter dem Meme mit den spielenden Kindern wird dann meist davon geschwärmt, wie viel besser die Videospiele und Fernsehsendungen früher doch waren - ich dachte, wir hätten damals nur draußen gespielt? Und dieselben, die schreiben, dass ihnen ihre gewaltsame Erziehung ja überhaupt nicht geschadet hätte und dass die heutige Jugend keinen Respekt mehr habe, sind oft auch die, die am lautesten pöbeln, wenn es um "diese Jugend" geht, und das meist auch auf auffallend unterirdische Art und Weise. Das Problem ist, dass viele "Respekt" mit Unterwürfigkeit und bedingungslosem Gehorsam verwechseln und deswegen nicht damit zurechtkommen, dass junge Leute die alten Wertigkeiten in Frage zu stellen. Abgesehen davon möchte ich anmerken, dass Menschen, die immer nur tun, was man ihnen sagt, leichter zu kontrollieren und zu manipulieren sind. Liebe Top-Eierer Numero 1, kann es möglicherweise sein, dass das Problem nicht die Jugend ist, sondern ihr selbst?

Top-Eierer Numero 2: Supermamis

Mütter eines hochbegabten Indigo-Wunderkindes müssen der Welt rund um die Uhr beweisen, dass ihr zukünftiger Messias etwas ganz Besonderes ist und viel besser als alle anderen. Sie betteln auf Social Media laufend darum, dass andere die Hochbegabung des Schneeflöckchens bestätigen; IQ-Tests müssen so oft wiederholt werden, bis das Ergebnis stimmt, und wenn das nicht zustande kommt, ist derjenige schuld, der den Test durchgeführt hat; schon vor dem Schuleintritt wird sichergestellt, dass Klein-Jerome und Klein-Elsa auf Drittklässer-Niveau Lesen, Schreiben und Rechnen lernt und wenn das Kind mal aufbegehrt, Verhaltensauffälligkeiten zeigt, die Teilnahme am Unterricht verweigert oder die Noten unterdurchschnittlich sind, liegt es selbstverständlich nur daran, dass der zukünftige Einstein angesichts des profanen Unterricht und der Gewöhnlichkeit seiner gleichaltrigen Klassenkameraden völlig unterfordert ist. Und dass die Lehrer ganz einfach zu dumm sind, als dass sie ihr Universalgenie adäquat darauf vorbereiten könnten, die Welt zu retten. Auffallend ist, dass solche Mütter in Sachen Intelligenz selbst eher selten der große Wurf sind - und dass sie ihren süßen Wonneproppen meist für den ultimativen Beweis ihrer Daseinsberechtigung halten. Die großen Verlierer einer solchen virtuellen Nabelschau sind allerdings die Kinder selbst - denn diese sind ständig dem Druck ausgesetzt, der Welt zu beweisen, wie besonders sie doch sind. Vor allem aber will mir nicht in den Kopf, warum man nicht einfach das Kind lieben kann, das man hat anstatt das, das man gern hätte. Kinder sind nun mal bereits von Geburt an eigenständige Menschen und kein Klumpen Knetmasse, den man nach Belieben zu etwas formen kann, das einem gefällt. Liebe Eierer Numero 2: Nehmt doch euer Kind um Gottes willen als den Menschen an, der es ist, anstatt es mit Gewalt in eine Schablone pressen zu wollen, in die es nicht passt!

Top-Eierer Numero 3: Mimimimimi, ich bin ja so arm!

Diese Unterart unserer Spezies ist felsenfest davon überzeugt, dass nur ihresgleichen Mitleid verdient hat. Meist ist sie männlich, kaukasischer Abstammung (also "weiß"), deutschsprachig (also aus Deutschland oder Österreich), übergewichtig und nicht mehr ganz jung. Ihre Lieblingsbeschäftigung ist es, auf dem Sofa zu sitzen, RTL oder ATV zu schauen, Boulevard-Zeitungen zu lesen und sich über alles aufzuregen, was nicht ihrer Lebenswelt entspricht: Flüchtlinge bzw. Minderheiten, Klimaschutz-Demonstranten, Obdachlose, berufstätige Frauen, Politiker, die nicht rechts sind - all diese Leute sind Quell der Angst, ihre Vormachtstellung zu verlieren, die ihrer Meinung nach gottgegeben ist und also auch nicht in Frage gestellt werden darf. Geschieht das doch, ziehen sie sich mangels besserer Möglichkeiten in den Schmollwinkel zurück und beschweren sich unablässig darüber, dass die Ausländer durch die linksgrünversiffte Regierung doch so viel mehr kriegen als sie, dass die Jugend ihnen ihre Annehmlichkeiten streitig machen will, dass man sich für die faulen Schmarotzer krumm machen müsste, die von Steuergeldern leben, dass die Menschheit ausstirbt, weil alle schwul bzw. lesbisch werden und dass die Frau ihre Lebensaufgabe nicht mehr ausschließlich als Haussklavin und Gebärmaschine begreift. Und als ob das nicht schon schlimm genug, sind es auch noch immer die anderen, die von der Allgemeinheit bedauert werden! Das ist ungerecht! Liebe Top-Eierer Numero 3, bitte fragt euch mal, warum ihr mit eurem Leben so unzufrieden seid und ob tatsächlich immer nur die anderen daran schuld sind.

Top-Eierer Numero 4: Die selber denkenden Kritiker

Sie bilden ja bekanntlich mit die Essenz meines Blogs: Die Aufgewachten jenseits des Mainstreams, die nichts glauben, außer ein anonymer Typ im Internet erzählt es ihnen. Sie denken, dass sie im Gegensatz zu allen anderen, die blind der Herde hinterherlaufen und vor "denen da oben" den Kotau machen, aufgewacht sind und als einzige die absolute Wahrheit kennen. Sie verschließen sich jeder Vernunft und sehen jede Kritik als Beweis dafür, dass ihr Gegenüber in Wirklichkeit "der Feind" ist, den es zu bekämpfen gilt. Sie haben sich mittels ein paar dubioser Videos weitergebildet, wissen mittels ein paar Büchern vom Kopp-Verlag besser Bescheid als all diejenigen, die ihr Fachgebiet jahrelang studiert und sich über Jahrzehnte mit der Materie beschäftigt haben und müssen durch ihr Verhalten überall preisgeben, dass sie Absolventen der Universität zu Youtubingen sind. Auf Gegenargumente, die ihre steilen Thesen widerlegen, wird gar nicht eingegangen. Stattdessen beten sie immer wieder dasselbe runter, oder sie fangen an, ihr Gegenüber persönlich zu beleidigen - hast du kein Profilbild, bist du zu feige, dein Gesicht zu zeigen; hast du ein Profilbild, bist du hässlich; gibst du nicht dein halbes Leben preis, bist du untervögelt; oder du bist sowieso Fake oder ein Troll oder wirst von "denen" bezahlt. So oft, wie mir das schon vorgeworfen wurde, bin ich schwerst empört darüber, dass ich von dem vielen Geld, das ich angeblich bekommen soll, noch nie etwas gesehen habe. Ich muss auch zugeben, es ist zeitweise recht witzig, mal den einen oder anderen Aluhut-Träger herauszufordern, aber irgendwann ist es dann halt auch genug, und man muss sich zurückziehen, um seine persönlichen Grenzen nicht überzustrapazieren. Liebe Top-Eierer Numero 4: Man ist nichts Besonderes, nur weil man es am lautesten schreit!

Top-Eierer Numero 5: Social-Media-Tourette in der untersten Schublade

Diese Spezies kann mit Widerspruch und Kritik, wenn überhaupt, nur extrem schwer umgehen. Sie ist maßgeblich beteiligt an der zunehmenden sprachlichen Verrohung in der virtuellen Kommunikation. Die meisten von ihnen sind natürlich dem rechtsradikalen Sektor und/oder den Verschwörungsgläubigen zuzuordnen, aber es gibt auch immer mehr Neutrale oder gar Gegner, die sich dieser bisweilen menschenverachtenden Sprache bedienen - egal, wo man ist, fast überall wird man mit sprachlichen Entgleisungen konfrontiert, und das Schlimme daran ist, dass viele Jugendliche das bereits nachmachen und dabei häufig noch weitaus mehr aufdrehen. Während Frauen schnell mal zickig werden, wenn man ihnen nicht recht gibt und in diesem Zustand auch extrem leicht zu triggern sind, müssen Männer meist ihren Alpha-Status beweisen und plustern sich auf wie Kampfhähne; sind sie mit einer Frau konfrontiert, neigen sie meist dazu, ihr jegliche Kompetenz abzusprechen und untegriffig zu werden.Für viele Top-Eierer Numero 5 reicht ein Blick in dein (auf "Privat" gestelltes) Social-Media-Profil, um dir ganz genau deine Intelligenz, dein Leben und deinen Charakter erklären zu können. Wenn's ganz blöd kommt, werden Männern Schläge angedroht und Frauen Vergewaltigungen gewünscht, im schlimmsten Fall gibt es Aufrufe zum Suizid oder gar Morddrohungen - sowohl öffentlich oder via privater Nachricht. Wobei ich betonen muss, das Morddrohungen und dergleichen bereits strafrechtlich relevant sind - vor allem aber möchte ich anmerken, dass man nicht abschätzen kann, ob Worten nicht möglicherweise Taten folgen. Der Grund für diese überbordende Feindseligkeit ist sicher vielfältig - ich bin mir aber sicher, es hat in erster Linie damit zu tun, dass es etwas anderes ist, ein Social-Media-Profil vor sich zu haben, als dem Menschen, der dahinter steckt, gegenüberzustehen. Darüber hinaus werde ich das Gefühl nicht los, dass sich viele im Internet immer noch für "anonym" und unantastbar halten, obwohl wir in Wirklichkeit doch alle wissen, dass das nicht so ist. Liebe Top-Eierer Numero 5: Seid ihr in eurem privaten Umfeld eigentlich auch so bemerkenswert unsympathisch, oder nutzt ihr euer Social-Media-Ich vielleicht dazu, um eure aufgestauten Frustrationen endlich ausleben zu können, da ihr im realen Leben den Mund nicht aufbekommt?

Mir ist natürlich bewusst, dass die Liste nerviger Personen, sowohl online als auch in der Welt da draußen, weitaus länger ist als das, was ich hier vorstelle. Deswegen spiele ich mit dem Gedanken, sie bei Gelegenheit noch mal zu erweitern - wenn das Bedürfnis irgendwann mal wieder da ist. Bisweilen hoffe ich, dass ihr an dieser meiner großen Empörung auch noch ein wenig Spaß habt und wünsche euch, dass ihr die restliche Selbstisolations-Zeit einigermaßen gut übersteht - und natürlich auch, dass ihr gesund bleibt und wir eines Tages wieder Gruppenkuscheln veranstalten können! Bis zum nächsten Mal!

vousvoyez

Montag, 20. April 2020

Seid froh, dass ihr nicht an meiner Stelle seid; ich will auch nicht in eurer Haut stecken

(c) vousvoyez
Ich denke, diesen Gedanken hat man besonders in der Pubertät ziemlich oft, wenn man sich von allen wahnsinnig unverstanden fühlt und das insgeheim genießt. Zumindest habe ich meine melancholischen Anwandlungen zeitweise voll ausgekostet. Noch heute, wenn ich drohe, in Selbstmitleid zu versinken, denke ich an den zu Recht beliebten Film Le fabuleux destin d'Amélie Poulain (Die fabelhafte Welt der Amélie und macht euch ruhig darüber lustig, dass ich so gern die Originaltitel von Filmen statt der deutschen Version verwende), und zwar an die Szene, wo Amélie in Weltschmerz versinkt und sich heulend vorstellt, wie im Fernsehen ihr Staatsbegräbnis übertragen wird und die ganze Welt um ihren Tod weint wie um den von Prinzessin Diana. Das hat mir übrigens auch ein bisschen geholfen, die letzte Wochenend-Depression zu vermeiden.

Der Satz selbst stammt eigentlich aus Hans Söllners Song Schamts eich ruhig für mi, allerdings habe ich ihn auch in diesem Fall wieder ein wenig abgewandelt. Wobei ich schmerzlich zugeben muss, dass mich das, was er zurzeit so ins Internet bläst, eher deprimiert und hilflos macht - vor Jahren brachte er mal neue Ideen und Gedanken auf, aber momentan scheint er der lebende Beweis dafür zu sein, dass Dauerkonsum von Marihuana wohl doch nicht so harmlos ist, wie wir alle immer gedacht haben. Auch wenn ich Ferndiagnosen für unangebracht halte und nicht der Meinung bin, dass die weitere Illegalisierung von Marihuana per se irgendwas besser macht - aber das ist eine andere Geschichte.

Wie ihr ja wisst, widme ich mich ab und zu auch Schwurbelthemen - erst kürzlich habe ich über die Verschwörungsideologie um QAnon berichtet und auch der Definition von Wahrheit einen ganzen Artikel gewidmet. Was mir bei manchen Leuten sehr häufig begegnet, ist jedoch ein hohes Maß an Unsicherheit - Unsicherheit darüber, was man glauben soll und was nicht, wann man von einer Verschwörungsideologie ausgehen kann und wann nicht. Nun, eine 100%ige Garantie gibt es für absolut nichts - es gab zu allen Zeiten Hypothesen, denen niemand geglaubt hat und die sich als wahr herausgestellt haben, und andere, die widerlegt werden konnten, obwohl alle sie geglaubt haben. Wie ich schon geschrieben habe, ist niemand im Besitz des absoluten Wissens - und ich habe ebenfalls geschrieben, dass selbst seriöse Artikel von Menschen geschrieben wurden, die naturgemäß nicht vollkommen objektiv sein können. Das Ding mit den Medien ist halt einfach tricky - es passiert mir selbst auch schon mal, dass ich Sachen glaube, die nicht stimmen, oder dass ich Dinge, die wahr sind, erst mal nicht glaube. Es gibt jedoch ein paar Vorgehensweisen, mit denen ich bisher ganz gut gefahren bin, wenn es darum ging, Schwurbel zu erkennen, und die habe ich euch heute mal in zehn Punkten zusammengefasst - hauptsächlich, weil zehn eine runde Zahl ist und niemand Stress kriegt, weil es nur neun oder gar elf sind.

1) Der "gesunde Menschenverstand"
Ich behaupte mal, dass die meisten Menschen, die geistig einigermaßen fit sind, einen solchen haben. Und klar, die Phrase ist abgedroschen, aber vieles kann man schon von vorn herein entlarven, wenn man sich selbst mal fragt, wie glaubwürdig das überhaupt klingt. Ist es tatsächlich möglich, dass uns Schulen, Universitäten, Medien, die Regierung etc. eine flache Erde verschweigen, und was hätten sie davon? Ist es glaubwürdig, dass in der hohlen Erde Reptilienwesen leben, deren Existenz niemand je glaubhaft bewiesen hat und die sich ab und an in menschliche Wesen verwandeln, oder klingt das nicht eher nach einem schlechten Science-Fiction-Film? Warum ist ein anonymer Typ im Internet vertrauenswürdiger als alle anderen auf der Welt? Wenn es einen "Bevölkerungsaustausch" gibt, warum laufen dann immer noch so viele hässliche weiße Pegida-Demonstranten durch die Gegend? Wenn das Problem doch so präsent ist, warum fällt es dir erst jetzt, wo du es kennst, auf? Wenn wir all das nicht wissen dürfen, warum "wissen" wir es dann? Wenn du diese Fragen nicht einigermaßen zufriedenstellend für dich beantworten kannst, dann solltest du überlegen, ob es nicht vielleicht daran liegt, dass sie unglaubwürdig sind.

2) Quellen überprüfen

Das zweite Gebot ist, zu überprüfen, wo eine bestimmte Verschwörungsideologie herkommt. Hat sie dir die Freundin der Friseuse der Ehefrau des Nachbarn deines Kollegen erzählt? Behauptet das irgendeine unbekannte Person in einem YouTube-Video, einem Weblog, einer Social-Media-Plattform? Ist es unmöglich, zu erkennen, wo diese Behauptung überhaupt herkommt oder verweist derjenige, der diese Behauptungen aufstellt, auf weitere YouTube-Videos, anonyme Blogs oder die Schwägerin der Schwester des Vorsitzenden des Vereins des Hundezüchterverbands in Attnang-Puchheim? Oder sagt er dir ein bisschen zu oft: "Google doch mal" oder "Lern erst mal selber denken"? Wenn du all diese Fragen mit "ja" beantworten kannst, ist die Sache normalerweise schon klar. Und somit können wir uns Struktur und Aufbau von Verschwörungsideologien widmen.

3) Die große Weltverschwörung

Eine Verschwörungsideologie ist meistens auffallend universell - ein beträchtlicher Teil der Regierung, Staatsorgane, Experten, Kritiker der Ideologie, alle sollen darin verwickelt sein. Ich glaube, es ist nicht das erste Mal, dass ich erkläre, dass ich mit Verschwörungen, die eine so hohe Universalität haben sollen, besonders, wenn sie schon seit vielen Jahren andauern sollen, ein großes Problem habe: Wenn über eine lange Zeitspanne auffallend viele Personen darin verwickelt sein sollen, warum konnte man das dann geheim gehalten? Es ist sehr unwahrscheinlich, dass eine große Gruppe von Menschen, besonders wenn eine große Anzahl in der Öffentlichkeit steht, kollektiv dicht gehalten haben soll. Verschwörungen, die sich bewahrheitet haben, wie sie beispielsweise auf WikiLeaks zu finden sind, kommen früher oder später doch ans Licht - eben weil es bei einer großen Gruppe von Eingeweihten sehr unwahrscheinlich ist, dass nicht doch irgendjemand mal auf irgendeine Weise mit der Wahrheit herausrückt.

4) Extremes Schwarz-Weiß-Denken

Leute, die einer Verschwörungsideologie anhängen, kennzeichnen sich meist durch ein extremes Schwarz-Weiß-Denken - Wir gegen die, Gut gegen böse, wenn etwas nicht so ist, kann es nur so sein. Das Problem dabei ist, dass oft durchaus Ansätze da sind, die man hinterfragen kann. Das "Hinterfragen" manifestiert sich hierbei jedoch in einer vereinfachten Ausschließlichkeit: Die öffentlichen Medien, von vielen Verschwörungsgläubigen auch "Mainstream-Medien" oder "Systemmedien" genannt, sind  nicht unfehlbar, deshalb lügen sie immer, es sei denn, sie bestätigen ganz zufällig deine Meinung. Dem gegenüber stehen dann "alternative" Medien, die zum Ausgleich dazu immer die absolute Wahrheit sagen. Auch jahrzehntelang getestete Impfungen haben in seltenen Fällen Nebenwirkungen - das ist für Impfgegner der "Beweis", dass durch Impfungen Gift in den Körper gespritzt wird und dass andere nach der Impfung aufgetretene Erkrankungen oder Störungen ja nur durch die Impfungen hervorgerufen werden können. COVID-19 verläuft in den meisten Fällen unkompliziert, deshalb ist das der "Beweis", dass eine "harmlose Grippe" als Vorwand genommen wird, um alle unsere Grundrechte abzuschaffen und uns gegen unseren Willen zu impfen und zu "chippen".

5) Vereinfachte Erklärungen und bestimmte Begrifflichkeiten

Damit hängen natürlich die Vereinfachungen zusammen, die durch diese Art von Weltbild gerne vorgenommen werden. Das Leben ist extrem kompliziert, und um Wissenschaft adäquat anwenden und verstehen zu können, muss man viele Jahre lang studieren und forschen. Und ja, auch ich bin der Ansicht, dass Wissenschaft unbedingt transparenter und gewisse Zusammenhänge auch verständlicher dargebracht werden sollten - gerade auch, um Schwurbeleien einzugrenzen. Denn gerade diejenigen, die versuchen, durch Verschwörungsideologien und Falschbehauptungen Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen, nutzen dieses Defizit sehr oft aus. Vor allem aber hat ein vereinfachtes Verschwörungsbild den Vorteil, dass es so eine Art Heilsversprechen liefert. Durch Verschwörungsideologien versucht man, uns weiszumachen, es gäbe sozusagen einen Ausgang aus dieser unserer Realität hin in eine "wirkliche" Realität, es gäbe eine oder mehrere bestimmte Personen, die im Hintergrund alles bestimmt, was auf unserer Welt geschieht - und verspricht auf diese Weise, dass, wenn der bzw. die Verschwörer besiegt ist/sind, am Ende alles gut sein wird. Sehr typisch für Verschwörungsideologien sind natürlich auch bestimmte Begrifflichkeiten: Da werden Tatsachen gerne mal umgedreht und beispielsweise von "Linksfaschismus" gesprochen, beliebt sind auch Phrasen wie "Google doch mal", "Denk selber nach", "Wir dürfen das nicht wissen", "Systemmedien", "Mainstream", "Lemminge" oder "Schlafschaf".

6) Klare Feindbilder

Mit Vereinfachungen und Schwarz-Weiß-Ideologien hängt auch das Erschaffen eines klaren Feindbildes zusammen. Meistens sind es natürlich "die da oben" - Regierung, Wissenschaft, Bildungswesen und so weiter. Oft konzentriert es sich auch auf Personen, die schlicht und einfach unliebsam sind, weil man sie nicht kennt und sich nicht mit ihnen auseinandersetzen will, oder weil sie Veränderungen herbeiführen könnten, die einem nicht gefallen - etwa die Ausländer oder die jüngere Generation. Die arbeiten dann meist auch noch mit "denen da oben" zusammen - die FFF-Aktivisten mit den Klimaforschern, die Flüchtlinge mit Angela Merkel oder "dem Linksfaschismus".

7) Absoluter Wahrheitsanspruch

Wie das mit der Wahrheit aussieht, habe ich ja bereits ausführlich dargestellt. Bei Verschwörungsgläubigen fällt sehr oft auf, dass sie das, was sie glauben, als absolut wahr ansehen und keinen Widerspruch gelten lassen. Häufig sind sie der Ansicht, dass Wissenschaft den Anspruch auf unveränderliche Wahrhaftigkeit habe und wissenschaftliche Theorien niemals widerlegt werden könnten. In Wirklichkeit ist eine der wichtigsten Eigenschaften wissenschaftlicher Thesen, dass man diese sowohl beweisen als auch widerlegen können muss - die meisten von ihnen müssen tatsächlich sehr häufig korrigiert oder sogar widerlegt werden. In der Verschwörungsideologie hingegen ist es so ähnlich wie in einer besonders autoritären Ausprägung von Religion: Was heute als "Wahrheit" gilt, wird auch morgen und für alle Zeiten so gelten und darf nicht hinterfragt werden, und wer imstande ist, diese "Wahrheit" zu widerlegen, ist in Wirklichkeit Teil der Verschwörung

8) Das "Wir-dürfen-das-nicht-wissen"-Argument

Ein weiteres Kennzeichen einer Schwurbeltheorie ist, dass diese ganz besonders geheim sein soll und dass wir sie alle nicht wissen dürfen. Die Frage, die du dir in diesem Fall stellen kannst, ist eigentlich ganz einfach: Wenn wir das nicht wissen dürfen, warum ist dieses "Wissen" dann für jeden völlig unkompliziert zugänglich? Und warum soll gerade Theo von nebenan im Besitz dieses exklusiven Wissens sein? Und wenn wir schon dabei sind: Warum hat es alle Welt ausschließlich auf Helga aus Stinkenbrunn abgesehen?

9) Festgefahrene Meinung

Ein weiteres Merkmal von Schwurbelgläubigen ist ihre unerschütterliche, festgefahrene Meinung. Da wird jeder, der in seiner Meinung davon abweicht, sofort als "Feind" begriffen, und alles, was diese Meinung nicht wiedergibt, ist Teil der Verschwörung. Deswegen haben viele auch so ein großes Problem mit unabhängigen Medien - weil sie glauben, unabhängige Medien seien dazu verpflichtet, ausschließlich ihre Meinung wiederzugeben.

10) Diffamierung des Gesprächspartners

Wir erleben es oft in den sozialen Medien, am häufigsten jedoch bei Verschwörungsgläubigen: Wer keine Argumente mehr hat, fängt an, zu diffamieren und zu beleidigen. Man unterstellt demjenigen, der widerspricht, die Meinungsfreiheit zu missachten oder gar "Zensur" zu betreiben (obwohl Zensur ausschließlich vom Staat ausgeht), man erklärt ihm, er würde nicht "selber denken", sondern "mit der Herde mitlaufen", er sei Teil des "Mainstream" und außerdem ein "Schlafschaf", das "aufwachen" müsse, ehe es "zu spät" sei. Solche Menschen sind für Gegenargumente meist überhaupt nicht mehr zugänglich. Wer auf solche Personen trifft, dem würde ich raten, sich aus der Diskussion zurückzuziehen, im Zweifelsfall auch die Blockier-Funktion anzuwenden - du wirst dieser Person leider nicht helfen können, und du hast es auch nicht notwendig, dich von einem fremden Menschen, mit dem du ausschließlich virtuell kommunizierst, fertigmachen zu lassen.

Ich hoffe, ich konnte mit diesen Punkten ein bisschen weiterhelfen und doch auch ein wenig Licht ins Dunkel der Verschwörungen bringen. Außerdem hoffe ich, dass auch ihr nicht aufhört, zu fragen und zu überprüfen. Bis zum nächsten Mal!

vousvoyez

Samstag, 18. April 2020

Rennt a Sau um die Ecken und ist weg

(c) vousvoyez
Ich weiß nicht, ob es euch auch so geht, aber mir fällt auf, dass ein Teil meiner Kindheit und Jugend von verschiedenen Witz-Phasen geprägt war - wenn ich ihn kategorisieren müsste, würde ich sagen, er begann in der Grundschule und zog sich bis hinein ins Unterstufengymnasium. Anfangs waren es ganz harmlose Witze, bevorzugt von Tieren oder sowas wie den Bananen-Witz, über den ich in einem anderen Artikel schon geschrieben habe. Dieser Phase folgten Zeiten, wo wir uns Witze über Blondinen, Leprakranke, Kärntner, Burgenländer oder Ostfriesen erzählten. Und natürlich gab es immer auch Witze mit aktuellem Bezug - beispielsweise über Franz Fuchs, Prinzessin Diana oder auch das Grubenunglück von Lassing, über das es damals unfassbar viele Witze gab. Natürlich gibt es auch etliche Witze, die sehr gut recyclebar sind - die Witze, die man sich zur Zeit von George W. Bush erzählte, sind beispielsweise noch weitaus besser auf Donald Trump anwendbar, andere Witze tauchen sowohl bei den Ostfriesen als auch bei den Kärntnern oder Blondinen wieder auf, und vor nicht allzu langer Zeit habe ich entdeckt, dass die alten Äthiopier-Witze, die vor allem auf die Magerkeit des Großteils der Bewohner dieses afrikanischen Landes anspielen, auch von vielen Anorektikern angewendet werden, um sich über sich selbst lustig zu machen. Die vorliegende Weisheit stammt aus der Anti-Witz-Phase, die bei mir altersmäßig in die Zeit zwischen Kindheit und Pubertät fällt - jene Witze, die zwar mit den bekannten Mustern spielen, diese aber meist ad absurdum führen. Ich schätze die Anti-Witze im Prinzip bis heute, aber es liegt in der Natur des Witzes, dass er, zu oft erzählt, irgendwann einmal ausgereizt ist. Besonders nervig sind ja beispielsweise die Leute, die sich ewig und drei Tage über ein und denselben Witz amüsieren können - und ich hatte einen Lehrer, der ein ganzes Schuljahr lang nur über diesen einen Witz gelacht hat.

Ich persönlich habe immer gern Witze gehört, gesammelt und weitererzählt - da ich ein einigermaßen gutes Gedächtnis habe und recht gut erzählen kann, war das jahrelang eine bevorzugte Strategie, um bei anderen Anerkennung zu finden, etwas, das mir besonders in jungen Jahren nicht sehr leicht fiel. Vor allem aber auch, weil mich Humor immer schon interessiert hat - ich lache gern, ich habe einen Partner, der auch so ist und ich finde es spannend, worüber einzelne Menschen zu bestimmten Zeiten und auch in bestimmten Kulturen so lachen. Bei uns in Österreich behauptet man ja ab und an sehr gern, dass unsere geliebten Nachbarn, die Deutschen, keinen Humor besäßen - damit täte man jedoch vielen großartigen Humoristen, die unser "großer Bruder" hervorgebracht hat, gewaltig Unrecht. Und dieser Meinung bin nicht nur ich allein. Auch wenn ich zugeben muss, dass ich mit einer gewissen Art des deutschen Humors nicht viel anfangen kann - viele Deutsche allerdings auch nicht. So gehöre ich beispielsweise zu all jenen, die nicht verstehen können, wie Mario Barth ein so großes Publikum haben kann, obgleich ich ihn überhaupt nicht witzig finde. Aber das kann man jetzt nicht unbedingt nur daran festmachen, dass er Deutscher ist - Werner Schneyder war Österreicher, und seine Kabarett-Auftritte lösten bei mir lediglich ein gewaltiges Gähnen aus. Trotzdem gab es Leute, die sich diese angeschaut haben. Ich habe auch erfahren, dass er privat ein ganz netter Typ gewesen sein soll - das mag ja auch sein, was ich an ihm nicht leiden konnte, war lediglich die Kunstfigur. Vielleicht ist ja auch der Herr Mario Barth privat weitaus verträglicher als auf der Bühne.

Es ist wohl bezeichnend, dass meine erste Lieblingsband oftmals als reine Klamauk-Gruppe verschrien war, auch wenn ihre Texte durchaus gesellschaftskritisch waren und deshalb auch häufig von Radiosendern boykottiert wurden - mit fünf Jahren konnte ich praktisch jedes Lied des Albums Nepomuks Rache der Ersten Allgemeinen Verunsicherung (EAV) auswendig mitsingen. Erst Jahre später wurde mir mit Schrecken bewusst, was ich unschuldiges kleines Mädchen da eigentlich gesungen hatte, als ich den Song Samurai wieder hörte, der sich humoristisch-kritisch mit dem Sextourismus in Südostasien auseinandersetzt, oder die Single Burli, in der es um die möglichen Missbildungen eines Kindes nach dem GAU eines Kernkraftwerks geht. Ein paar Jahre später erzählte mir ein befreundetes Ehepaar, dass sie aufgehört hätten, zu Hause Reggae-Songs zu spielen, nachdem ihr kleiner Sohn im Kindergarten angefangen hatte, Ganja Farmer zu singen.

Wie die meisten Kinder meiner Generation, so wuchs auch ich mit Otto Waalkes auf. Wir hatten zu Hause Videos, Schallplatten, Kassetten und CDs, und das meiste konnte ich auswendig und plapperte es bei jeder Gelegenheit vor mich hin. Eine beliebte Nummer in meiner Schule war meine Interpretation von "Susi Sorglos", mit elf Jahren war ich sogar mal bei einer seiner Live-Shows. Eine Zeit lang habe ich das Interesse an ihm verloren, weil er allmählich begann, sich zu wiederholen, aber seit ich sein Buch gelesen habe und weiß, dass er sich mit diesen Auftritten körperlich und geistig fit hält und immer noch Freude daran hat, kann ich auch das akzeptieren. Zumindest war er der erste, bei dem mir auffiel, dass er wie kein anderer sein Publikum vollkommen in der Hand hatte - Jahre später besuchte ich einen Live-Abend von Alf Poier, von dem ich ebenfalls ein großer Fan war und der auch in einem ausverkauften Saal spielte, aber ich musste feststellen, dass er sein Publikum nicht so leicht wie Otto dazu bewegen konnte, praktisch jeden Scheiß mitzumachen. Neben Otto mochte ich auch Loriot, der natürlich mit weitaus feinerer Klinge operierte, dessen Humor jedoch dadurch, dass man ihn mit einem gewissen Maß an Aufmerksamkeit in den alltäglichsten Situationen wiederfindet, vollkommen zeitlos ist. Zu meinem Bedauern muss ich jedoch gestehen, dass ich den großen Hape Kerkeling erst viel zu spät richtig für mich entdeckte. Womit ich nie was anfangen konnte, waren diese typischen Zirkusclowns - das ist mir nach wie vor viel zu übertrieben. Ich habe ja schon einmal angemerkt, dass es einen Grund hat, warum gerade große Humoristen wie eben Loriot meist ein eher seriöses Auftreten haben - weil Humor dieser äußere Korrektheit natürlich noch mehr ad absurdum führt. Und natürlich wissen die Aufmerksameren unter meinen Lesern, dass Fasching und Karneval für mich eine Zeit des Grauens sind.

Die 1980er und 1990er Jahre waren in Sachen österreichischen Humor eine sehr fruchtbare Zeit - in den 80ern kämpften sich viele junge, talentierte Kabarettisten auf die Bühnen dieses Landes und wurden im Laufe der 90er auch über die Grenzen unseres Landes hinaus berühmt. Die einen erlangten ihren Ruhm als Teil einer Gruppe, beispielsweise Alfred Dorfer, Roland Düringer und Andrea Händler durch "Schlabbarett", die anderen als Einzelkämpfer, etwa Josef Hader oder Andreas Vitásek. Viele von ihnen waren und sind auch sehr erfolgreich als Autoren, Regisseure und Schauspieler, und das völlig zu Recht - Düringer behauptete immer, er habe in Filmen und Serien nur sich selbst gespielt, aber wenn ich mir ansehe, welche Rollen er bereits verkörpert hat, dann erkenne ich eine große Wandlungsfähigkeit, die weitaus mehr ist als nur "sich selbst spielen", wie es beispielsweise ein Klaus Kinski größtenteils praktiziert hat, der ja in erster Linie als Schauspieler bekannt ist. In den 90ern war ich auch sehr empfänglich für den minimalistischen Humor von Fernsehsendungen wie Monte Video oder Projekt X, der jedoch weitaus nicht jedermanns Sache ist, und ich muss sagen, ja, ich kann das schon irgendwie verstehen, denn besonders Projekt X ist teilweise schon ziemlich langweilig, da das meiste improvisiert ist. Heutzutage würde man solche Aufnahmen wohl effektiv zusammenschneiden, um aus diesen langatmigen Sketches das Beste herauszuholen, aber ich glaube, damals war das so ein Ding wie diese Found-Footage-Filme, über die ich an anderer Stelle schon gesprochen habe. Sehr ähnlich waren auch die frühen Sachen von Stermann und Grissemann, die ich damals einfach nur extrem nervig fand, während ich ihre aktuelle Sendung Willkommen Österreich richtig cool finde und unheimlich gern sehe. Vor allem auch, weil ich immer auf den Auftritt der Gruppe maschek warte.

Eine Phase, die wohl jeder Teenager, der heute so alt ist wie ich, einst durchlebte, war die, wo man nahezu süchtig war nach dem subversiven Humor der Monty Pythons. Mittlerweile kann ich The Life of Brian zumindest in der deutschen Version praktisch einwandfrei auswendig mitsprechen, und wenn ich was zu lachen brauche, schaue ich nach wie vor gerne Sketches aus Monty Python's Flying Circus, allen voran natürlich den Restaurant-Sketch mit der schmutzigen Gabel, aber auch die Trottel-Olympiade und die von John Cleese einst so perfektionierten "Silly Walks". Auf diese Weise habe ich auch Zugang zu den Beatles gefunden - durch ihre ersten beiden sehr lustigen Filme, die in bester englischer Slapstick-Manier auch nach über einem halben Jahrhundert noch Spaß machen, selbst wenn man kein Fan von Sixties-Musik ist. Obwohl mein Lieblings-Beatles-Film natürlich Yellow Submarine ist, weil ich die Zeichnungen und Ideen einfach großartig finde und der Stil mich an den Monty-Pythons-Zeichner Terry Gilliam erinnert. Bei den beiden Stiefkindern der Beatles-Filmographie, Magical Mystery Tour und Let It Be, braucht man allerdings sehr gute Nerven - ich würde sie mir wohl nicht noch einmal anschauen.

Ja, wenn es um Humor geht, ist ab und an auch Subversion oder gar Provokation erlaubt. Zu den Witz-Phasen in meinem Leben gehörten natürlich auch sexuelle Witze, besonders beliebt in der Zeit, nachdem man aufgeklärt war. Ich habe, glaube ich, bereits erwähnt, dass man in meiner Kindheit im ersten Jahr der weiterführenden Schule, also Hauptschule oder Gymnasium, offiziell aufgeklärt wurde, dass man im Prinzip aber alles schon vorher wusste. Ich wurde im Grundschulalter in meinem Freundeskreis aufgeklärt - genauer gesagt von einem zwei Jahre jüngeren Freund, wie ich zu meiner unendlichen Schande gestehen muss. Natürlich war, bevor die Pubertät voll zuschlug, das Thema Sex für uns alle noch ziemlich abstrakt und auch etwas unheimlich, und um mit diesem Gefühl der Scham und auch Angst umgehen zu können, haben wir uns gegenseitig Sex-Witze erzählt, auch wenn wir nicht alles sofort verstanden haben, aber das war egal, Hauptsache sie waren schön eklig. Überhaupt waren Ekel-Witze eine Zeit lang natürlich DAS große Ding, allen voran die "Gusch-Bua"-Witze: "Papa, i mag keine blauen Spaghetti!" - "Gusch, Bua, die Krampfadern von der Oma müssen g'essen werden!"Auf diese Weise kam ich auch von den Simpsons, deren frühe Folgen ja noch weitaus bösartiger waren als die heutigen, über South Park bis zu Happy Tree Friends, Serien, an denen ich sanftmütiges Wesen immer noch meinen Spaß habe, wenn ich in der richtigen Stimmung bin.

Und jetzt muss ich etwas gestehen: Ich habe in einem anderen Artikel geschrieben, dass ich als Mittdreißigerin mit Influencern nichts anfangen kann - das stimmt allerdings nicht so ganz. Klar, diese tollen Instagram-Models mit ihren gephotoshoppten und gestellten Bildern, die klickgeilen Trash-YouTuber und die Let's-Plays gehen mir allesamt am Allerwertesten vorbei, aber ich denke nicht, dass das anders wäre, wäre ich zehn oder zwanzig Jahre jünger. Ich habe schließlich auch nie davon geträumt, Model zu werden, und das einzige Supermodel, das ich je als Vorbild betrachtet habe, war Waris Dirie, und das bestimmt nicht wegen ihrer tollen Von-der-Wüste-auf-die-Laufstege-Karriere. Und ja, ich habe einen Instagram-Account, aber ich werde euch ganz bestimmt nicht anbetteln, mir zu folgen, zumal dieser für all die coolen Insta-Stars wohl der langweiligste Account aller Zeiten ist - zu den Höhepunkten gehörte, dass ich bei meinem letzten Urlaub quasi im Minutentakt kryptische Fotos hochgeladen habe, einfach nur, weil mir das weitaus mehr Spaß gemacht hat, als auf Likes zu warten, und dass ich letzte Woche aus lauter Langeweile Fotos von meiner Plüsch-Spinne gemacht habe, als ich sie gerade wusch. Ich liebe aber Parodien und humoristische Videos auf YouTube, beispielsweise die von Florian Heider oder auch Michael Buchinger. Ich entdecke immer mehr, dass in dieser etwas neueren Form der medialen Unterhaltung (als "ganz neu" kann man eine fast 20 Jahre alte Plattform nun wirklich nicht mehr bezeichnen), obwohl sie leider auch immer mehr von Trash-Formaten entdeckt wird und YouTube in seiner Art des Löschens und Demonetarisierens schon fast so undurchsichtig ist wie Facebook, für viele junge oder auch nicht mehr ganz so junge Leute eine verhältnismäßig unkomplizierte Chance bietet, ihre Ideen mit anderen zu teilen. Vor allem aber freue ich mich immer wieder darüber, Leute mit Potenzial zu entdecken. Seit das Fernsehen nicht mehr so experimentierfreudig ist wie beispielsweise in den 1970ern, brauchen talentierte Menschen andere Plattformen, auf denen sie sich ausdrücken können, damit wir alte Muster durchbrechen und neue Talente entdecken können. Und ich persönlich hoffe, dass es in Zukunft noch viele, viele mir bis dato noch unbekannte Personen geben wird, die mir den Tag versüßen - besonders an Tagen wie diesen, wo einem die Zeit bisweilen etwas lang wird.

vousvoyez

Donnerstag, 16. April 2020

Karotten sind gut für die Augen - oder hast du schon einmal einen Hasen mit Brille gesehen?

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Allerdings habe ich, wie in meinen Kindheitsmythen schon erwähnt, als Kind fleißig Karotten gegessen, und trotzdem kann ich heute ohne Brille ab einer gewissen Entfernung ein Springseil nicht von einer Stichsäge unterscheiden. Traurig, aber wahr. Wobei ich mir sicher bin, dass ich in dem einen oder anderen Bilderbuch tatsächlich schon mal Hasen mit Brille gesehen habe - ich erinnere etwa an den kürzlich besprochenen Struwwelpeter, wo der Hase die Brille des Jägers aufsetzt, nachdem er sie ihm samt dem Gewehr weggenommen hat. Offenbar habe ich in meiner Kindheit doch zu viel ferngesehen und deshalb viereckige Augen gekriegt - wobei ich jetzt aber nicht mehr ferngesehen habe als andere Kinder damals. Eher weniger. Denn ich kannte Kinder, die durften schon im Volksschulalter fernsehen, ohne die Eltern vorher zu fragen. Und ja, ich musste meine Eltern vorher fragen - denn ich stamme ja bekanntlich noch aus der Zeit, in der die Fernseher aus Stein gehauen wurden! Haltet es mir nur ruhig vor, ich kann die Wahrheit vertragen!

Ja, genau, ich möchte heute über die Wahrheit sprechen - und zwar deswegen, weil ich in vielen Artikeln, auch dem letzten auf diesem Blog, schon angeführt habe, dass der Begriff "Wahrheit" gerade von Schwurblern sehr häufig überstrapaziert wird. Und nicht nur von ihnen - auch Leute, die Schwurbel widerlegen wollen, sind oft davon überzeugt, im Besitz der einzig richtigen, objektiven Wahrheit zu sein. Und da kann ich nur sagen: Vorsicht Falle! Oder wie Alfred Dorfer einst sagte: "Die Wahrheit ist weiblich, und wie alles Weibliche muss sie sich viel gefallen lassen."

Ich behaupte mal, im Besitz der einzig wahren Wahrheit ist niemand. Es gibt Fakten, die zu leugnen entweder Sturheit oder sogar Dummheit voraussetzt, aber das ist halt nicht dasselbe. Fakten liefern nur einen Teil der Wahrheit, aber im Großen und Ganzen ist bei jedem Menschen immer eine mehr oder minder große Portion an Subjektivität vorhanden - vollkommen objektiv ist niemand. Die Erkenntnistheorie hat dafür einen schönen Begriff: Intersubjektivität oder im Konstruktivismus auch Transsubjektivität. Konkret gesagt meint man damit einen komplexen Sachverhalt, der für die Mehrheit der Betrachter gleichermaßen erkennbar und nachvollziehbar ist. Oder anders gesagt: "Realität ist die Illusion, dass Beobachtungen ohne Beobachter gemacht werden können." (Heinz Foerster) Das ist ähnlich wie die Frage, ob das Geräusch eines fallenden Baumes auch dann existiert, wenn es niemand hört. Oder das berühmte Gedankenexperiment Erwin Schrödingers, das schon in die Quantenphysik hineinspielt. All das macht, wie ich finde, deutlich, wie komplex der Begriff der Wahrheit eigentlich ist. Jeder Psychologe, jeder Neurowissenschaftler (und natürlich auch die Innen und alles dazwischen) kann uns sagen, dass die Wahrnehmung ohne Bewertung nicht denkbar ist - sprich, dass nichts, was wir über die Welt aussagen können, vollkommen objektiv ist. Kurz gesagt: Wir als wahrnehmende und konstruierende Spezies haben auf eine vermeintliche "Realität" oder, um es mit Immanuel Kant auszudrücken, das "Ding an sich" niemals vollständigen Zugriff - wir operieren nie mit dem Realen, sondern immer mittels Selektionen und Repräsentationen. Denken wir nur an Platons Ideenwelt: In dieser Welt ist die ideale Form von jedem Ding, das es gibt, repräsentiert. Jedoch kennt keiner von uns diese ideale Form - alles, was uns gegeben ist, sind unvollständige Abbildungen, weil jede Vorstellung von uns und unserer persönlichen Wahrnehmungswelt getragen wird. Alles, was uns bleibt, ist der Prototyp - also das Bild, das wir bei der Benennung eines bestimmten Begriffes vor unserem inneren Auge haben. Spricht jemand von einem Tisch, so ist in deiner Vorstellung das Bild eines Tisches schon vorhanden. Auch wenn du einen Tisch zeichnest, der von dem Prototypen abweicht, so ist diese Zeichnung selten die Abbildung dessen, was du zuerst vor deinem inneren Auge siehst, wenn jemand das Wort "Tisch" sagt.

Dass niemand im Besitz einer allgemein gültigen Wahrheit ist, zeigt auch, dass Philosophen und Wissenschaftler schon seit Jahrtausenden darüber streiten, was Wahrheit eigentlich ist - sowohl, was ihre Natur als auch, was den persönlichen Erwerb derselben betrifft. Ich erinnere diesbezüglich wieder an Platon und sein Höhlengleichnis: "Alles, was wir sehen können, sind Schatten." Wobei das Höhlengleichnis uns am deutlichsten zeigt, dass auch die Gewinnung von Erkenntnis ihre Tücken hat, was uns wieder zum Kampf Schwurbler gegen Nicht-Schwurbler zurückbringt: Wer die höchste Stufe der Erkenntnis erlangt (im Fall des Höhlengleichnisses die Sonne sieht), wird Schwierigkeiten haben, diese Unwissenden zu vermitteln - die einen wollen weiterhin glauben, dass die Schatten, die sie sehen, die wahre Welt sind, während die anderen zwar anerkennen, dass der andere die Erkenntnis erlangt hat, selbst aber dort bleiben wollen, wo sie sind, weil das weniger Anstrengung bedeutet. Sprich: Selbst wenn jemand im Besitz einer allgemein gültigen Wahrheit wäre, so könnte er diese wohl kaum vermitteln, weil alle anderen zu sehr in ihrer eigenen Wahrnehmung gefangen sind. Übrigens berufen sich auch Schwurbler bisweilen gern auf das Höhlengleichnis - denken dabei allerdings meist, sie seien im Besitz der allgemeingültigen Wahrheit und wir Schlafschafe wollten das nur nicht verstehen.

Die Komplexität des Wahrheitsbegriffs zeigt sich auch an der Fülle unterschiedlichster Ansätze und Definitionen. Aristoteles, Thomas von Aquin und Kant gehen von der Wahrheit als der Übereinstimmung von erkennendem Verstand und der erkannten Sache aus, sprich: Wer die Wahrheit sagt, benennt das, was ist. Klingt einfach, aber wer einmal mit seinem Gegenüber über die Farbe seiner Tapeten gestritten hat, weiß, dass es das nicht ist. Die von Karl Marx formulierte dialektisch-materialistische Widerspiegelungstheorie wiederum benennt die Übereinstimmung von Bewusstsein und objektiver Realität, anders gesagt, die Wahrheit kann und muss von demjenigen bewiesen werden, der sie benennt. Eine Methode, die etwa in der Diskussion mit Schwurblern bis heute noch ihre Gültigkeit hat: Die Beweislast liegt bei demjenigen, der eine Behauptung aufstellt, und nicht bei jenen, die sie glauben sollen. Der logische Empirismus im Sinne von Ludwig Wittgenstein wiederum definiert Wahrheit als "Gesamtheit der Tatsachen", die wiederum aus Gegenständen oder Dingen und der Verbindung zwischen ihnen bestehen - mit anderen Worten, zwischen Sprache und Welt besteht eine abbildende Beziehung, mit deren Hilfe Wahrheiten zum Ausdruck gebracht werden. Die von Alfred Tarski formulierte semantische Theorie der Wahrheit bringt die Korrespondenz zwischen Aussage und Tatsache auf eine bestimmte Formel: Wahrheit ist, wenn ich sage, das Gras ist grün, und diese Aussage wird durch einen Blick aus dem Fenster, neben dem ich gerade sitze, bestätigt ("x ist eine wahre Aussage dann und nur dann, wenn p"). Dies könnte ich auch auf den Artikel anwenden, den ich vor ein oder zwei Jahren zum Dunning-Kruger-Effekt geschrieben habe: Wenn du mir sagst, Reiten ist total leicht, und meine erste Reitstunde besteht nur daraus, dass ich versuche, richtig zu sitzen, werde ich dir sagen, dass du mir nicht die Wahrheit gesagt hast, sondern nur das, was du für die Wahrheit gehalten hast. Somit kommen wir zur Redundanztheorie: Du strapazierst den Begriff der Wahrheit, um mich von einem bestimmten Sachverhalt zu überzeugen. Die Minimaltheorie nach Paul Horvich erklärt den Wahrheitsbegriff als fern jeder begrifflicher und wissenschaftlicher Analyse. Peter Frederick Strawson wiederum formulierte in seinem Aufsatz Truth die performative Theorie, die auf der Redundanztheorie aufbaut: Wenn du mir sagst, dass etwas wahr ist, vollziehst du deine Aussage sprachlich mit dem Wahrheitsbegriff. Die Kohärenztheorie setzt Wahrheit mit der Freiheit von Widerspruch gleich, während die Konsensustheorie von einer Akzeptanz aller vernünftiger Gesprächspartner ausgeht - wobei Jürgen Habermas vier Geltungsansprüche voraussetzt: Verständlichkeit, Wahrhaftigkeit, Wahrheit und Richtigkeit. Bleibt uns also nur der Wahrheitsbegriff im Deutschen Idealismus: Johann Gottlieb Fichte erklärt Wahrheit, die nicht von einer allgemeinen Subjektivität erlebt wird, für widersprüchlich, während Hegel sie als Übereinstimmung von Urteil und Realität auffasst. Oder, wenn man es religiös erklären will: Nur Gott ist im Besitz einer allgemein gültigen Wahrheit. Der erste Zweifel an einer objektiven Wahrheit entstand übrigens mit Nietzsche, der auf die subjektiven Faktoren hinter jeder Erkenntnis hinwies. Zu nennen sind hier auch der Universalismus, der von einer allgemein gültigen Ethik ausgeht, und der Kulturrelativismus, der die Ethik und damit auch die Wahrheit als von kulturellen Ansichten abhängig begreift.

Ich denke, mit diesen Ausführungen wird klar, wie komplex der Wahrheitsbegriff wirklich ist und wie wenig wir uns sicher sein können, im Begriff einer allgemein gültigen Wahrheit zu sein. Was ich von Verfechtern der "alternativen Wahrheit" oft höre, ist, Wissenschaft berufe sich auf Objektivität, und eine einmal bestätigte Theorie dürfe nie wieder angezweifelt werden. Wer so etwas behauptet, hat von Wissenschaft keine Ahnung, denn Wissenschaft baut auf keiner objektiven Wahrheit auf, sondern auf Fakten, und diese sind nicht objektiv, sondern intersubjektiv, sprich, sie stimmen mit der Wahrnehmung der Mehrheit überein. Wissenschaft sagt nichts über Wahrheiten aus, sondern findet Modelle und Erklärungen, die dieser am nächsten kommen. Forschung muss valide, reliabel und unabhängig von der/den untersuchenden Person/en sein. Und das ist auch der Unterschied zu denjenigen, die behaupten, alles zu wissen und im Besitz einer absoluten Wahrheit zu sein - wer tatsächlich um Wahrhaftigkeit bemüht ist, der weiß, dass er nichts weiß, oder anders gesagt: Er weiß, dass kein Wissen dieser Welt unfehlbar ist. Deswegen können wissenschaftliche Theorien auch jederzeit widerlegt werden - wissenschaftlich ist, was sowohl verifizier- als auch falsifizierbar ist, und keine Erkenntnis ist für alle Zeiten unumstößlich.

Was die Existenz einer objektiven Realität betrifft - man kann darüber streiten, ob es eine solche gibt oder nicht, aber wofür auch immer man sich entscheidet, es spielt in der Praxis eigentlich keine Rolle, weil wir, sollte es sie geben, ohnehin keinen Zugriff darauf haben. Und deshalb mein Appell: Seid misstrauisch gegen all jene, die behaupten, im Besitz einer allgemein gültigen Wahrheit zu sein! Dies könnte ein erstes Indiz dafür sein, dass sie nur Unsinn erzählen.

vousvoyez

Mittwoch, 15. April 2020

Jeder bekommt im Alter das Gesicht, das er verdient

Nun gut, auch dieser Satz stammt aus einer Fernsehserie - allerdings habe ich ihn ein wenig zusammengefasst, damit er weisheitstauglich ist. Ich glaube, dass es zumindest unter den Jüngeren nicht mehr allzu viele gibt, die diese Serie kennen, aber ich finde sie eigentlich ziemlich witzig - sie heißt Die Hausmeisterin und zeigt das Leben von nach außen hin ganz normalen Leuten im München der 1980er Jahre. Der Ex-Ehemann der titelgebenden Figur wird übrigens von Helmut Fischer gespielt, der auch so manchen, die keine Fans der alten bayerischen Serien sind, ein Begriff sein dürfte. Ihr könnt mich gern altmodisch nennen, weil mir so was gefällt - ich bin nicht mehr so jung, dass ich Angst haben könnte, in den Augen anderer nicht cool genug zu sein. Aber das sagte ich wohl schon oft genug. Jedenfalls wurde dieser Satz von einer älteren an eine jüngere Dame, die Angst vor dem Älterwerden hatte, weitergegeben, und ich finde, er beinhaltet sehr viel Wahrheit - denn tatsächlich spiegelt sich bei älteren Menschen sehr oft der Charakter im Gesicht. Was für viele auch der Grund sein könnte, sich aus Angst vor Falten bereits in den Dreißigern die erste Botox-Spritze verpassen zu lassen. Denn nach einem erfolgreichen Facelifting sieht man, wie ich finde, überhaupt nicht jünger aus, sondern nur künstlicher. Aber das kann sowieso nur jeder selbst wissen. Leider, aber auch zum Glück. Abgesehen davon, dass Botox auch nicht immer schlecht ist - ich kannte eine Frau, deren Gesichtslähmung nach zwei Schlaganfällen durch die Botox-Behandlung wieder behoben werden konnte.

Wie ihr wahrscheinlich schon festgestellt habt, habe ich mir bisher Mühe gegeben, die aktuelle Situation, bis auf ein paar Anspielungen, ziemlich großräumig zu umschiffen. Was auch daran liegt, dass ich keine Expertin bin und mich daher aus Themen, bei denen ich mich nicht wirklich auskenne und die ich daher den Profis überlassen muss, weitgehend raushalten will. Und dass ich von diesem Thema schon mindestens genauso genervt bin wie die meisten anderen auch - und dass es uns allen so allmählich an die Substanz geht. Ich kann nicht rund um die Uhr so tun, als würde ich die aktuelle Situation ausschließlich als "neue Chance" zur "Entschleunigung" begreifen - ich bin bisweilen echt unglücklich und auch genervt. Aber ja, in diesem Fall sehe ich keinen Grund, mich nicht an die Vorgaben zu halten - in der Hoffnung, dass das Ganze doch wenigstens ein einigermaßen glimpfliches Ende nimmt. Ehrlich gesagt bin ich ein bisschen fassungslos angesichts dessen, dass es manche anscheinend tatsächlich für diskussionswürdig halten, die Leben der Schwächeren zugunsten der Wirtschaft zu opfern - hier bewegen wir uns nämlich, wie ich finde, wieder gefährlich in Richtung der Trennung von "wertem und unwertem Leben".

Unglücklicherweise stelle ich fest, dass manchen Leuten dieses Übermaß an Freizeit auch in anderer Hinsicht nicht gut zu tun scheint - denn die Schwurbler haben gerade Hochkonjunktur. Und leider muss ich sehen, dass auch Leute, die ich bisher noch für einigermaßen vernünftig gehalten habe, inzwischen geneigt sind, allen möglichen haarsträubenden Unsinn zu glauben. Natürlich ist es wünschenswert, kritisch zu sein und Dinge in Frage zu stellen - aber die eigene Ansicht über alle anderen zu stellen und sich nicht mit anderen Meinungen auseinandersetzen zu wollen hat nichts mit "Kritisch-Sein" zu tun. Denn wer wahrhaft kritisch ist, ist zuallererst einmal kritisch gegen sich selbst und auch bereit, seine eigenen Ansichten auch häufiger zu überprüfen. Gerade diejenigen, die anderen erklären, sie sollen selber nachdenken, wollen dies in Wirklichkeit gar nicht - man soll nur das nachplappern, was sie selbst sagen, und jede Kritik schränkt ihre Meinungsfreiheit ein oder ist gar "Zensur". Nun, die Definition von Meinungsfreiheit habe ich ja bereits dargelegt - denjenigen, die es immer noch nicht kapiert haben, möchte ich jedoch nahelegen, bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit nach China, Russland, Nordkorea oder in den Kongo auszuwandern, um zu erleben, wie wahnsinnig schlecht es uns in Deutschland und Österreich doch geht. Nun gut.

Ja, wir müssen reden - und wahrscheinlich werde ich das eine oder andere sagen, was auch Leuten innerhalb meines üblichen Dunstkreises nicht gefallen könnte. Und zwar deshalb, weil es mit einer Person zu tun hat, die sich seit zwei Jahrzehnten großer Beliebtheit erfreut, auch wenn sie aktuell immer mehr in Ungnade fällt - nämlich Xavier Naidoo. Dass ich darüber reden muss, liegt daran, dass ich in letzter Zeit so oft gehört habe, man dürfe auf dem armen Mann doch nicht immer so böse herumhacken, es gehe doch nur um die Musik. Ja, es geht auch um die Musik - und die kann man weiterhin gut finden oder auch nicht. Mir gefällt sie nicht, aber mir gefällt auch so einiges an Musik nicht - das heißt ja nicht, dass sie anderen nicht gefallen darf. Aber Herr Naidoo hat nun mal mehr gemacht als nur Musik - besonders in letzter Zeit gab es so einige Entgleisungen. Und das ist auch nichts Neues - solche Aussetzer gab es schon öfter, und das waren nicht nur die Behauptungen der bösen Medien, sondern öffentlich von ihm selbst getätigte Aussagen. Wobei man sich bei den Songs ja noch auf die Kunstfreiheit berufen kann - wie ich kürzlich auch erklärt habe. Das Problem ist halt, dass es nicht nur bei Songs blieb.

In Wirklichkeit sorgt Xavier Naidoo bereits seit mehr als zwanzig Jahren für Kontroverse - bereits 1998 äußerte er seine Zweifel an der Legitimität der deutschen Bundestags-Wahlen, und nachdem er sich ein Jahr später öffentlich als "Rassist" bezeichnet hatte, machte er seine Nähe zu den Reichsbürgern immer wieder deutlich und trat im letzten Jahrzehnt sogar mehrmals auf deren Veranstaltungen auf. Wie ich schon in einem anderen Artikel erwähnt habe, erkennt diese Gruppierung den deutschen Staat und seine Gesetze nicht an, in letzter Zeit hört man aus diesen Reihen auch immer öfter den Aufruf, sich zu bewaffnen - das österreichische Pendant dazu nennt sich "Staatenbund". Aufgrund vieler Proteste durfte Naidoo Deutschland beim Eurovision Song Contest 2017 nicht vertreten, aber trotz all dieser Indizien gab es auch damals noch viele Künstler (und innen), darunter auch solche, die ich für vernünftiger gehalten hätte, wie Michael Mittermeier und Herbert Grönemeyer, die ihn unterstützten. Wahrscheinlich, weil er privat so ein netter Kerl ist. Das mag ja auch durchaus sein - ist allerdings keine Entschuldigung dafür, dass er seine Verantwortung als Person des öffentlichen Lebens dermaßen mit Füßen tritt. Zumal er ja bis vor kurzem noch in der Jury der Sendung Deutschland sucht den Superstar war. Aber selbst denen wurde es zu viel, als er in einem Video wieder einmal gegen Flüchtlinge hetzte - und im Zuge dessen auch den Klimawandel und die Souveränität Deutschlands leugnete. Hier muss ich eines noch einmal hervorheben: Dass er Dinge behauptet, die von der Mehrheit als unwahr klassifiziert werden, hat nichts mit "Mut" und "Courage" zu tun - weil wir erstens in einem Land leben, in dem man nicht um Leib und Leben fürchten muss, wenn man sagt, was man denkt, und weil er zweitens nicht der einzige ist, der solchen Müll solche höchst vernünftigen Fakten verbreitet. Solche Menschen brüsten sich gerne damit, dass sie - im Gegensatz zu allen anderen - nicht mit der Herde mitlaufen. Stattdessen laufen sie nur irgendwelchen selbsternannten Aufgeweckten nach und geben deren Ansichten völlig unreflektiert wider.

Deshalb möchte ich konkret auf eine der Behauptungen eingehen, die Xavier Naidoo verbreitet; kürzlich erklärte er nämlich unter Tränen, dieser Tage würden Kinder aus pädophilen Netzwerken befreit. Ob die Tränen echt waren oder sich hinter dem Sänger mit der Raunzstimme einfach nur ein talentierter Schauspieler verbirgt, weiß ich nicht - kann ja sein, dass er den Schwachsinn, den er verzapft, wirklich glaubt. Um auch das klar zu stellen: Ich weiß, dass Kindesmissbrauch tatsächlich existiert, auch organisierter und ritueller Kindesmissbrauch, und mir liegt es fern, diesen zu verharmlosen oder die Opfer zu verhöhnen. Mir ist klar, dass jedes Opfer eines zu viel ist. Ich möchte allerdings auch darauf hinweisen, dass das Aufbauschen von nicht beweisbaren und mit ziemlicher Sicherheit auch nicht existenten Missbrauchs-Fällen den tatsächlichen Opfern nicht hilft - im Gegenteil, sie laufen dadurch Gefahr, ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren. Und nein, dass es solche Fälle tatsächlich gibt, ist kein Beweis - mit dieser Argumentation könnte ich auch behaupten, dass mein Nachbar jemanden umgebracht hat, weil es Mord tatsächlich gibt. Im übrigen frage ich mich, warum man sich mehr um das Wohlergehen von Kindern sorgt, deren Existenz niemand beweisen kann, als um tatsächliche Missbrauchsfälle in der unmittelbaren Nachbarschaft, die es ja tatsächlich immer wieder gibt. Und wie Fälle wie der von Josef Fritzl zeigen, gelten die Täter häufig als "nette Nachbarn" und "aufopfernde Familienväter" - den wenigsten "Bösen" sieht man das Bösesein auch an, selbst wenn man uns in all den Kindermärchen das Gegenteil erklärt hat. Aber ich denke mal, wir sind alle alt genug, um nicht mehr an Märchen zu glauben.

Die pädophilen Netzwerke, die Xavier Naidoo anspricht, sind Teil eines großen Verschwörungsmythos, der von einer oder mehreren anonymen Personen namens QAnon im Internet verbreitet wird. Diese Person behauptet, ein anonymer Vertrauter aus dem engsten Kreis von US-Präsident Donald Trump zu sein und spricht über einen "Deep State", der in Wahrheit die Herrschaft über die ganze Welt innehat und aus einem Netzwerk pädophiler Politiker und Hollywood-Stars bestehen soll. Er stilisiert Trump als genialen Helden, der gegen diesen "Deep State" kämpft und der das Coronavirus "erfunden" haben soll, um von diesem seinem Kampf abzulenken und all die entführten und gefolterten Kinder zu retten. Ja, genau der Donald Trump, der nicht entscheiden kann, ob das Coronavirus existiert oder nicht und wie gefährlich es ist; der Donald Trump, der gegenwärtig den gesamten Staat, für den er verantwortlich ist, an die Wand fährt; der Donald Trump, der an der mexikanischen Grenze Eltern ihre Kinder wegnimmt und diese in Käfige sperrt. Laut QAnon sollen alle US-Präsidenten seit Lyndon B. Johnson, mit Ausnahme von Ronald Reagan, kriminell, pädophil und satanistisch gewesen sein - besonders das Motiv des Kindesmissbrauchs kehrt immer wieder und schlug bereits in der Vergangenheit hohe Wellen: Angeblich soll Hillary Clinton im Keller einer Pizzeria in Washington, D. C. einen Kinderpornoring unterhalten haben - eine These, die längst widerlegt wurde, als ein bewaffneter Mann in nämliche Pizzeria eindrang, um die Kinder zu retten, nur um festzustellen, dass diese gar keinen Keller hatte. Diese Behauptung ist nicht die erste und auch nicht die letzte, die sich als falsch herausstellte - QAnon wird in den USA mittlerweile als Terrororganisation eingestuft, was jedoch Leute mit Q-T-Shirts nicht daran hinderte, während Reden von Trump gut sichtbar hinter ihm auf der Bühne zu stehen. Im übrigen sind die Äußerungen dieses QAnon so kryptisch und vage, dass man, wenn sich Behauptungen als falsch herausstellen, ganz bequem darauf hinweisen kann, dass diese einfach nur falsch interpretiert worden seien. Auch, dass die Pizzagate-Affäre widerlegt wurde, überzeugt viele nicht - denn was "die Mainstreammedien" erzählen, ist natürlich alles gelogen und soll nur von der Wahrheit ablenken. Was natürlich die Attraktivität von QAnon erklärt - wer daran glaubt, sieht sich als Teil einer Elite, die als einzige "die Wahrheit" kennt. Ein lustiger Zufall ist auch, dass immer politische Gegner von Trump als Teil der großen Verschwörung genannt werden. Das Problem dabei: Durch prominente "Gläubige" wie Xavier Naidoo verbreiten sich diese kruden Thesen auch immer mehr im deutschsprachigen Raum.

Teil des QAnon-Verschwörungsmythos ist auch die Behauptung, dass überall auf der Welt Kinder entführt würden, um diese dann zu foltern und so deren Blut mit Adrenochrome anzureichern. Dieses wird ihnen dann entnommen und von der Hollywood-Elite als "Verjüngungsdroge" eingesetzt. Wissenschaftlich gesehen ist Adrenochrome nichts anderes als eine chemische Verbindung, die durch die Oxidation von Adrenalin entsteht und die medizinisch hauptsächlich zur Blutgerinnung eingesetzt wird. Man kann sie ganz legal im Internet bestellen - ihre künstliche Herstellung ist überdies weitaus bequemer und effektiver, als dafür Kinder zu foltern. In nicht sehr hoher Potenz weist Adrenochrome eine halluzinogene Wirkung ähnlich der von LSD oder Meskalin auf, weshalb die Theorie entstand, dass es für Schizophrenie verantwortlich sei - Beweise gibt es dafür allerdings nicht. Im Zuge der Hippie-Bewegung entstand die These, Adrenochrome könne als eine Art körpereigenes LSD fungieren, was den Schriftsteller und Journalisten Hunter S Thompson zu seinem 1971 veröffentlichten Roman Fear and Loathing in Las Vegas inspirierte, der 1998 von Ex-Monty-Python Terry Gilliam mit Johnny Depp in der Hauptrolle verfilmt wurde und in dem behauptet wird, die effektivste Gewinnung von Adrenochrome erfolge aus den Adrenalindrüsen lebendiger Menschen. Thompson gab jedoch selbst zu, dass er das erfunden hatte.

Allerdings gehen die Ursprünge dieser Behauptungen noch weiter zurück als nur bis zu diesem Roman - nämlich bis ins 15. Jahrhundert, einer Zeit, die sich in kulturellem und religiösem Wandel befand und in der sich eine Mischung aus Antisemitismus und Hexenglauben bildete, die vielen Unschuldigen das Leben kostete. Natürliche Bedrohungen wie die Pest sowie klimatische Schwankungen, die zu Ernteausfällen und in der Folge zu Hungersnöten führten, konnten noch nicht ausreichend durch Wissenschaft erklärt werden, weshalb die meisten Leute dahinter teuflische Verschwörungen vermuteten. Als Sündenböcke mussten hierfür Andersgläubige, insbesondere die Juden, herhalten - so wurden vor allem Frauen beschuldigt, zusammen mit Juden und Teufeln in "Hexensabbaten" aus ermordeten, christlichen Kindern eine teuflische, mächtige "Hexensalbe" herzustellen. Ähnlich wie Xavier Naidoo, der die Fridays-For-Future-Bewegung mit dem biblischen Antichristen in Verbindung brachte, so vermutete man auch damals schon das unmittelbare Bevorstehen der Apokalypse aus der Johannes-Offenbarung. Und ähnlich wie damals behauptet wurde, aus christlichen Kindern würde eine Hexensalbe hergestellt, behauptet man heute, aus gefolterten Kindern werde Adrenochrome extrahiert. Mich erinnert das jedoch auch an die Legende der ungarischen "Blutgräfin" Elisabeth Báthory, die junge Mädchen auf ihre Burgen gelockt und dort zu Tode gefoltert haben soll, weil sie glaubte, durch das Trinken ihres Blutes oder durch das Baden darin ewige Jugend bewahren zu können. Einen sehr lesenswerten Artikel über historische Zusammenhänge mit dem QAnon-Mythos verlinke ich euch unten.

Und nun kommen wir zu dem Grund, warum ich all das überhaupt schreibe: Dieser QAnon-Verschwörungsmythos ist keine harmlose Spinnerei. Auch wenn QAnon selbst in den USA nach wie vor ein Randphänomen ist, bekommt dieses durch die Corona-Krise und nicht zuletzt Prominente wie eben Xavier Naidoo aktuell unnötig viel Aufmerksamkeit. QAnon erzeugt künstlich eine Hysterie, die bereits gefährliche Auswüchse zeigt - Menschen werden bedroht und eingeschüchtert, in Gruppierungen, die QAnon anhängen, wird explizit zur Gewalt aufgerufen, und nicht zuletzt wird auch die Zunahme des rechtsradikalen Terrors zum Teil mit dieser Verschwörungstheorie verknüpft - so berief sich der Terrorist von Hanau auf QAnon, und auch der Attentäter von Halle glaubte an eine jüdische Weltverschwörung. Sprich - diese Leute, wer auch immer sie sind, treiben ein gewaltig gefährliches Spiel. Aktuell zeigen sich in den USA keine geretteten Kinder, sondern lediglich, wie marode das Gesundheitssystem dort ist und dass das Land von einem Mann geführt wird, der dazu eigentlich gar nicht in der Lage ist. Um zu "beweisen", dass wir "in die Irre geführt" werden, werden in den sozialen Netzwerken bewusst manipulierte Fotos veröffentlicht - denn jeder kann irgendein Bild posten und irgendwas dazu schreiben, ich übrigens auch. Dies ist die Strategie "alternativer" Medien, Misstrauen gegen seriöse Journalisten und wissenschaftliche Quellen zu säen und auf diese Weise Klicks zu generieren und Geld zu bekommen. Und ich möchte alle, die noch alle Tassen im Schrank haben, dazu anhalten, nicht einfach völlig unreflektiert irgendwas zu teilen, nur weil es ihnen "logisch" erscheint. Vor allem aber solltet ihr nicht in die Versuchung geraten, irgendeinem "Aufruf zum Widerstand" zu folgen und jetzt auf die Straße zu rennen - wir werden in Zukunft womöglich lernen müssen, mit dem Virus umzugehen, aber momentan haben wir nun mal keine andere Wahl, als uns an das zu halten, was uns tagtäglich immer wieder eingebläut wird - also nicht öfter als nötig das Haus zu verlassen und auf persönliche Hygiene zu achten. In diesem Sinne - bleibt gesund, und ich hoffe, dass wir das alles bald ausgestanden haben!

vousvoyez


Jim Carrey: https://www.mimikama.at/allgemein/hollywood-eliten/
Adrenochrome: https://de.wikipedia.org/wiki/Adrenochrom

Dienstag, 7. April 2020

Meine Herren, Sie sind keine Herren, Sie sind Schweine, meine Herren

Ich weiß an dieser Stelle nicht mehr, ob ich je erzählt habe, dass nicht nur ich klosterschulgeschädigt bin, sondern auch meine Eltern. Meine Mutter besuchte in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren dieselbe katholische Mädchenschule, in die auch ich in den 1990ern eine Zeitlang gehen musste. Und mein Vater besuchte 1957 - 1961 ein katholisches Jungeninternat in einem Benediktinerkloster auf dem Land. Doch obgleich ein humanistisches Gymnasium mit Schwerpunkt auf Latein und Altgriechisch für ihn alles andere als die geeignete Schulform war, erzählte er von der Zeit dort meist mit lustigen Anekdoten. So wie die, welche zu dieser Weisheit geführt hat und die die Reaktion eines Lehrers darauf war, dass zu viele Jungs in den Schnee gepinkelt hatten - leider weiß ich die ganze Geschichte nicht mehr. Seit meine Eltern Kinder waren, hat sich Erziehung sowohl in der Schule als auch zu Hause natürlich drastisch verändert. Und ganz sicher werdet ihr mir auch zustimmen, wenn ich sage, dass das ein Glück ist. Denn Kinder wurden früher nicht nur strenger, sondern oftmals lieblos oder gar grausam erzogen. Viele Ältere erzählen heute von den körperlichen Misshandlungen, die ihnen zuteil wurden, wie alte Kriegsveteranen: "Ach, das hat uns doch nicht geschadet." Manche glauben sogar, dass es der Jugend von heute, die ja bekanntlich total böse ist, ebenfalls nicht schaden würde, wenn diese auch mal ab und zu was hinter die Löffel kriegen würde. Klar, das hab ich mir schon immer gewünscht: Eine untertänige Generation, deren Angst vor Schlägen mit "Respekt" verwechselt wird und die sich keine eigene Meinung bilden darf. Merkt man den Sarkasmus? Ich habe ja in einem anderen Artikel schon das Thema "schwarze Pädagogik" ein bisschen angerissen. Dieser Begriff fällt oft, wenn wir von Kindererziehung in früherer Zeit sprechen.

Der Begriff "Schwarze Pädagogik" wurde in den 1970er Jahren von der deutschen Publizistin Katharina Rutschky geprägt, die damit die Pädagogik der Aufklärung bezeichnete, als man unter Erziehung die Bestrebung begriff, den Menschen von seiner Natur hin zur Vernunft zu führen. Heute ist "schwarze Pädagogik" die Phrase für eine Erziehung, die von Gewalt, Einschüchterung und Erniedrigung geprägt ist. Vor längerer Zeit hatte ich einmal eine Diskussion darüber, dass Eltern und Großeltern sich in Sachen Erziehung oft nicht einig sind und dass einer jüngeren Elterngeneration oft nahegelegt wird, ihre Kinder ja nicht zu sehr zu verwöhnen. Da fiel mir auf, dass diese Angst in unserer Gesellschaft mitunter noch sehr tief sitzt - die Angst, seine Kinder zu verwöhnten "Haustyrannen" zu erziehen, die einem irgendwann einmal auf der Nase herumtanzen. In diesem Zusammenhang stieß ich auch auf den Namen Johanna Haarer.

Johanna Haarer war Deutsche mit tschechoslowakischen Wurzeln; eigentlich war sie Lungenfachärztin, aber während der NS-Zeit veröffentlichte sie einige Schwangerschafts- und Erziehungsratgeber, die, obwohl sie eng an die Ideologie des Nationalsozialismus angelehnt waren, auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs durchaus noch lange Zeit zum Kanon der allgemein anerkannten Erziehungsliteratur gehörten. Ihr Konzept: Die natürlichen Bedürfnisse des Babys zu ignorieren, um es zu einem guten Soldaten und Mitläufer zu erziehen - letztendlich wurden damit Generationen von bindungsgestörten Menschen großgezogen, die diese Defizite an die nächste Generation weitergaben. Diese Kinder erlitten schwere Traumata, die sie an ihre Kinder und oft auch noch an ihre Enkelkinder vererbten. Natürliche Bedürfnisse wie das Beruhigen eines schreienden Babys wurden unterdrückt, weil man das Kleine ja nicht mit seiner "Affenliebe" verwöhnen dürfe - die herzlosen Begriffe einer Frau, die ganz offenbar bis zu ihrem Tod der Ansicht war, Adolf Hitler hätte es schon ganz richtig gemacht. Ich habe in dem Zusammenhang mit Frau Haarer einmal das Argument gehört, sie sei ja immerhin gegen das Schlagen von Kindern gewesen - aber was sie da propagiert hat, ist psychische Gewalt, die durch so eine Argumentation unterschätzt wird. Diese Form der Erziehung suggeriert meiner Meinung nach, dass die Beziehung zwischen Mutter und Kind ein ewiger Kampf ist, dass jede Gefühlsregung des Kindes nichts anderes ist als eiskalte Berechnung, die es auszutreiben gilt, und dass man sich alles Gute im Leben, sogar das Vertrauen zur Mutter, erst "verdienen" muss. Meinen Eltern wurde beiden diese Lieblosigkeit zuteil - sie hinterließ tiefe seelische Verletzungen, die sie kompensieren wollten, indem sie meinen Geschwistern und mir besonders viel Liebe und Zuneigung zuteil werden ließen. Dennoch brauchte es mehr als nur eine Generation, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen - ich habe letztens erfahren, dass Traumata sich auch genetisch festsetzen können. Das würde einiges erklären. Im übrigen veröffentlichte Frau Haarer neben ihren Ratgebern auch so tolle Bücher wie Mutter, erzähl von Adolf Hitler, ein Märchen, das "kindgerecht" gegen Juden und Kommunisten hetzte.

Diese übertrieben harte Form der Erziehung war allerdings keine Erfindung von Frau Haarer - schon vor Erscheinen ihrer Bücher gehörte die Abhärtung des Kindes zum guten Ton, außerdem wurde diese Art der Erziehung ja auch nicht nur im deutschsprachigen Raum praktiziert, sondern in vielen Teilen der westlichen Welt. In England wurde dieselbe Art der Kindererziehung als "viktorianisch" bezeichnet - was Aufschluss gibt, wann diese Lieblosigkeit gegenüber Kindern ihren Anfang nahm. Womit wir wieder bei der Aufklärung wären - und dem Beginn der Industrialisierung, als praktisch alles, auch Menschen, als eine Art Maschine begriffen wurde, die man nach eigenem Gutdünken modellieren, heute würde man wohl sagen "programmieren", müsse. Was bedeutete, dass Kinder zu unabdingbarem Gehorsam und absoluter Selbstkontrolle gezwungen werden mussten.

In einem anderen Artikel habe ich ja auf die sogenannten "Kindheitsmythen" angespielt - Geschichten, Behauptungen, Versprechen und Drohungen, mit denen jeder von uns aufgewachsen ist, die aber in keinem Verhältnis zur Realität standen. All diese "Mythen", wie ich sie nenne, sind mehr oder weniger Ausdruck einer Erziehung, die versucht, Kinder durch Angst gefügig zu machen. Reste davon fanden auch noch Eingang in die Zeit meiner eigenen Kindheit - man denke nur an die Drohung mit dem Krampus. Und was gerne als bestes Beispiel für "schwarze Pädagogik" herangezogen wird: Der Struwwelpeter, bis heute Teil des Kanons deutschsprachiger Kinderliteratur.

Der Struwwelpeter ist ein Bilderbuch aus dem Jahr 1844; Autor war der Frankfurter Arzt und Psychiater Heinrich Hoffmann, der seinem dreijährigen Sohn zu Weihnachten ein Buch schenken wollte, aber nichts fand, was er als passend erachtete, weshalb er sich entschloss, selbst eines zu gestalten. Dieses kam nicht nur bei dem Jungen gut an, sondern auch bei Freunden und Bekannten, die ihn schließlich überreden konnten, es zu veröffentlichen - erst unter dem Namen Lustige Geschichten und drollige Bilder für Kinder von 3 - 6 Jahren, ab 1847 schließlich als Struwwelpeter. Die Titelfigur erhielt 1861 das Aussehen, das bis heute bekannt ist. Der Inhalt: Geschichten von Kindern, die sich nicht benehmen und die deswegen ein oft grausames Schicksal ereilt. Viele Begriffe aus diesem Buch sind inzwischen in den deutschen Sprachschatz eingegangen - man denke an den "Zappelphilipp", "Hans-Guck-In-Die-Luft", "Suppenkasper" oder auch die Titelfigur "Struwwelpeter". Diese Geschichten haben uns bis in die heutige Zeit geprägt. Manche von ihnen waren vergleichsweise harmlos, andere jedoch tatsächlich ziemlich grausam. Ich denke, jeder, der als Kind diese Geschichten gehört hat, kann eine nennen, die ihn bzw. sie besonders verstört hat. Auch wenn ich durch meinen Besuch im Struwwelpetermuseum in Frankfurt gelernt habe, die Geschichten etwas mehr im Kontext der Zeit und auch als Satire zu betrachten.

Da wäre die Titelfigur, die bis heute oft als Synonym für eine Person mit besonders unordentlichen Haaren verwendet wird: Struwwelpeter will sich die Haare nicht kämmen und die Fingernägel nicht schneiden. Ein steirischer Kabarettist (Alf Poier) hat den Jungen aus dem Buch mal mit Jimi Hendrix verglichen - aber der hatte zumindest keine überlangen Fingernägel, soweit mir bekannt ist.

An der Geschichte vom bösen Friederich haben sich wahrscheinlich The Who ein Beispiel genommen, wenn auch nur, wenn des darum ging, Hotelzimmer zu demolieren. Aber Friederich belässt es nicht dabei, Möbel zu zerstören - er quält und tötet Tiere und macht auch vor seiner älteren Schwester (?) nicht halt, so lange, bis er von einem Hund gebissen wird, der sich daraufhin an seiner Mahlzeit gütlich tut, während der Junge das Bett hüten muss. In neuerer Zeit wird seine Geschichte häufig als Parabel für einen Menschen mit gestörtem Sozialverhalten gesehen.

Eine der grausamsten Geschichten ist Die gar traurige Geschichte mit dem Feuerzeug - mit "Feuerzeug" sind hier Streichhölzer gemeint, da zur damaligen Zeit jedes Utensil zum Feuermachen so bezeichnet wurde. Während ihre Eltern weg sind, findet Paulinchen eine Schachtel Zündhölzer, die sie auf dem Tisch liegengelassen haben, und entzündet diese trotz der Warnung der beiden Katzen Minz und Maunz, woraufhin ihr Haar Feuer fängt, sie bis auf die Schuhe verbrennt und die Katzen ganze Bäche bitterer Tränen vergießen. Mir wurde damals im Struwwelpetermuseum erklärt, dass viele Behausungen noch hauptsächlich mit Holz gebaut waren und man mit einem Streichholz ganze Viertel niederbrennen konnte. Zudem waren Zündhölzer zu dieser Zeit noch eine relativ neue Erfindung, die das Feuermachen erleichterte, wodurch sie jedoch auch für Kinder gefährlich waren.

Die Geschichte von den schwarzen Buben ist ein im 19. Jahrhundert relativ ungewöhnlicher Aufruf zur Toleranz gegen nicht-weiße Hautfarben, auch wenn der Schwarze Junge, wie damals allgemein üblich, hier als "Mohr" bezeichnet wird - wobei "Mohr" historisch eine etwas weniger negative Konnotation aufweist wie etwa das völlig zu Recht verpönte N-Wort, es heute aber auch nicht ratsam ist, Schwarze Menschen als solche zu bezeichnen. Dieser "Mohr" wird von drei weißen Buben wegen seiner Hautfarbe verspottet, woraufhin der große "Nikolas" sie bestraft, indem er sie in ein riesiges Tintenfass taucht, bis sie noch weitaus schwärzer sind als der Schwarze - wobei das Bild des Nikolaus als Karikatur des Zaren Nikolaus I. verstanden werden kann, der für die Textschwärzungen in importierten Büchern bekannt war. Und natürlich kann man auch kritisieren, dass die Hautfarbe des "Mohrs" als "Makel" angesehen wird.

Die Geschichte vom wilden Jäger ist so ziemlich die einzige, die nicht erzieherisch gedacht ist, sondern sie greift ein beliebtes Motiv der Volkserzählung auf, nämlich die "verkehrte Welt" - der Schwächere triumphiert über den Stärkeren, der Hase nimmt dem Jäger Flinte und Brille weg, der flüchtet in den Brunnen, während der Hase dessen Frau, die aus dem Fenster sieht, die Kaffeetasse zerschießt. Der Vorläufer der Tom-und-Jerry-Geschichten sozusagen.

Meine persönliche Trauma-Geschichte ist Die Geschichte vom Daumenlutscher, deren Anfangsverse mit Sicherheit fast jeder deutsche Muttersprachler auswendig rezitieren kann ("'Konrad', sprach die Frau Mama, 'ich geh fort und du bleibst da ...'). Warum ich solche Angst davor hatte, liegt nahe - ich war selbst Daumenlutscher. Die Geschichte handelt von Konrad, dem die Mutter verboten hat, am Daumen zu lutschen, da ihm dieser sonst von einem "Schneider mit der Scher'" abgeschnitten werde. Als der Junge das Verbot nicht einhält, kommt der Schneider und schneidet ihm mit einer übergroßen Schere beide Daumen ab. In manchen Illustrationen sieht man dabei auch noch das Blut auf den Boden tropfen. Es gab sogar Erwachsene, die zogen mich damit auf, dass auch zu mir der "Schneider mit der Scher" kommen würde. Ich fand das damals gar nicht lustig.

Ebenfalls eine einprägende Geschichte ist die des Suppenkasper, dem Alf Poier sogar ein "Suizid-Metal" gewidmet hat. Der Bezug zu der heute so genannten anorexia nervosa, die durch psychische Probleme bedingte Verweigerung der Nahrungsaufnahme, liegt hier weitaus näher, als man vielleicht denkt - in einer Zeit, in der Hungersnöte in Europa, auch durch die Industrialisierung der Landwirtschaft, nicht mehr so verbreitet waren, war diese Erkrankung durchaus schon bekannt. Hoffmann verarbeitete in dieser Geschichte möglicherweise echte Fälle aus seiner Praxis als Psychiater. Die Geschichte ist schnell erzählt - Kaspar will seine Suppe nicht essen, magert ab und verhungert innerhalb von fünf Tagen. Als Kind stellte ich mir eher die Frage, warum Eltern ihr Kind einfach verhungern lassen, anstatt ihm einmal etwas anderes als Suppe zu geben. Besonders perfide fand ich, dass man ihm die Suppenschüssel auch noch ans Grab stellte.

Die Geschichte vom Zappelphilipp ist eine weitere, die ganze Generationen geprägt hat - heute wird der Junge, der nicht still am Tisch sitzen kann und so lange schaukelt und zappelt, bis er umfällt und das ganze Tischtuch samt Mahlzeit auf dem Boden landet, als Symbolfigur für Kinder mit ADHS gedeutet.
Parallelen zu dieser psychischen Störung werden auch in der Geschichte vom Hanns Guck-in-die-Luft gezogen. Auf dem Schulweg ist Hanns so sehr mit den Gedanken woanders, dass er sein Gesicht unablässig in den Himmel richtet und nicht achtet, wo er hingeht. Nachdem er zuerst über einen Hund stolpert, fällt er schließlich zur Erheiterung dreier Fische ins Wasser und muss von zwei Fischern mit langen Stangen wieder herausgefischt werden, woraufhin er nass und frierend am Ufer steht.

Die Geschichte vom fliegenden Robert, mit der das Buch schließt, erzählt von einem Jungen, der bei Wind und Wetter nicht zu Hause bleiben will und der am Ende samt Regenschirm vom Sturm davongetragen wird. Diese Geschichte kann als phantasievolles Beispiel dafür gesehen werden, dass Kinder sich gern in gefährliche Situationen begeben, weil sie die Auswirkungen noch nicht abschätzen können.

Heute kann ich die Satire in dem Buch durchaus erkennen. Und auch, dass meine Großmutter eher darüber gelacht hat, hat mir ein wenig geholfen, über den Schreck hinwegzukommen, auch wenn ich das Buch jahrelang nicht einmal sehen wollte. Das Ding ist halt: Kleine Kinder können meist noch keine Satire und keine Zwischentöne erkennen. Deswegen frage ich mich, ob dieses Buch tatsächlich schon für Kindergartenkinder geeignet ist. Lustig finde ich allerdings die "Struwwelpetriaden", also die Adaptionen und Parodien - so gibt es beispielsweise einen militärischen Struwwelpeter, einen ägyptischen Struwwelpeter, einen Struwwelhitler und einen Anti-Struwwelpeter.

Wie man sieht, ist der Begriff "schwarze Pädagogik" gar nicht so einfach zu definieren. Dass aber im Bereich der Begleitung von Kindern bis ins Erwachsenenalter ein Umdenken stattgefunden hat, kann nur positiv sein - auch wenn natürlich innerhalb dieses Prozesses und auch heute noch Fehler passiert sind und passieren. Als meine Eltern noch jung waren und kleine Kinder hatten, war der Begriff "antiautoritäre Erziehung" in aller Munde, bei der Kinder von Zwängen befreit werden sollten, um ihre Persönlichkeit ungehindert entfalten zu können. Diese steht heute jedoch von vielen Seiten in der Kritik - das Problem ist jedoch auch hier, dass es oftmals stark vereinfacht dargestellt wird. Außerdem fällt mir hier auch die heute sehr beliebte bedürfnisorientierte Erziehung ein, in der sich alles ausschließlich nach den Bedürfnissen des Kindes richtet - wo ich mich allerdings frage, wie man ein Kind zu einem rücksichtsvollen Menschen erziehen will, wenn sich die Mutter so vollkommen zurücknehmen muss. Da ich aber keine Kinder großzuziehen habe, kann ich hier nur meine Meinung wiedergeben und keine empirischen Ratschläge. Und wenn ihr es besser wisst, sei euch das gegönnt - wie ich schon einmal angemerkt habe, kennt die eigene Mutter ihr Kind in der Regel am besten und sollte daher - von einigen Ausnahmen abgesehen - als die oberste Instanz in der Erziehung gelten, auch wenn ihr vielleicht am Anfang noch die Erfahrung fehlt. Aber zum Glück kann man sich heute auch hier unterstützen lassen.
Was mich betrifft - ich habe zwar so einige "Baustellen" in meinem Leben durch Schicksalsschläge und Traumata, trotzdem kann ich sagen, dass ich ein weitgehend glückliches Kind war, das nicht viel Gewalt erlebt hat. Das Beste, was man über die ältere Generation sagen kann, ist, dass viele aus den Fehlern ihrer Eltern und Großeltern gelernt haben - zumindest die aus meinem Umfeld. Und dass auch Jüngere aus ihren Fehlern lernen. Jede Generation hat mit Herausforderungen zu kämpfen, und die aktuelle ist gerade ziemlich groß. Aber auch diese werden wir überstehen - und ich hoffe doch auch, dass wir daraus möglicherweise die eine oder andere Lehre ziehen.

vousvoyez


https://www.zeit.de/wissen/geschichte/2018-07/ns-geschichte-mutter-kind-beziehung-kindererziehung-nazizeit-adolf-hitler

Eine Audio-Version des Struwwelpeterhttps://www.youtube.com/watch?v=QWpnZ-dBwCc

Ein Suizid-Metal für den Suppenkaspar: https://www.youtube.com/watch?v=n2XR8G_AerA