Montag, 29. Juni 2020

Wenn die Erde flach wäre, hätten Katzen schon alles über den Rand gestoßen

Man merkt, das meine momentanen Weisheiten aus der Zeit stammen, als ich anfing, mich etwas intensiver mit Verschwörungsschwurblern aufgeweckten Wahrheitsfindern zu befassen. Das ist jetzt schon fast zwei Jahre her, und ich muss gestehen - auch wenn ich keine bin, die unbedingt die Vergangenheit zurückhaben will, sehne ich mich angesichts dessen, was mir aktuell begegnet, häufig nach der Zeit der Flacherdler und schwulen Frösche zurück.

Auf der anderen Seite gibt es auch wieder Trends, von denen ich wünschte, sie wären endlich ausgestorben, aber leider sind sie es nicht. Zu diesen zählen die Challenges - denn von denen gibt es leider bis heute immer wieder neue. Zu Beginn der Pandemie gab es ja diese dumme Influencer-Barbie, die nichts Besseres zu tun hatte, als einen Toilettensitz abzulecken, was dann natürlich ein paar Volltrottel nachgemacht haben - wenn es kein Toilettensitz war, waren es die Haltegriffe in öffentlichen Verkehrsmitteln. Eine andere Tussi, die sich wohl für besonders witzig hielt, bastelte sich aus den zu diesem Zeitpunkt nicht leicht zu bekommenden Einweg-Gesichtsmasken einen, ähm, "originellen" Büstenhalter. Mindestens eine dieser Intelligenzbestien brachte diese besonders coole Aktion bereits ins Krankenhaus.

Mein Leben läuft jetzt seit kaum einem Monat wieder halbwegs "normal", und schon flattert uns der nächste unglaublich witzige Trend ins Haus - die Kulikitaka-Challenge. Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber ich habe Gruppentänze immer schon verabscheut. Oder sagte ich das schon? Na, egal, jedenfalls ist es momentan Trend, Tanzvideos von Jugendlichen zu Toño Rosarios (in meinen Augen bescheuertem) Song Kulikitaka auf TikTok zu posten, was ja an sich noch völlig okay ist. Was allerdings überhaupt nicht okay ist - einigen scheint das bloße Tanzen dann doch zu langweilig geworden zu sein, und was kann man da Tolles tun, um ein bisschen Pep in die Videos zu bringen, hm? Richtig - Tiere erschrecken! Ihr habt richtig gelesen - die Ersteller der Videos sind dazu übergegangen, mit den ruckartigen Tanzbewegungen Tiere zu verängstigen. Waren es anfangs noch die eigenen Hunde und Katzen, geht man nun immer öfter dazu über, Kühe in Panik zu versetzen. Ich verstehe ja ehrlich gesagt überhaupt nicht, warum manche Leute inzwischen schon praktisch ein Leumundszeugnis brauchen, um auf eine Alm gelassen werden zu können - selbst ich als Stadtkind weiß schon, seit ich denken kann, dass man in der Nähe von Tieren, die zwar meist friedlich, aber dennoch deutlich größer und stärker sind als man selbst und die einen mit einem Stoß schwer verletzen könnten, vorsichtig zu sein hat. Dass man auf einer Weide voller Kühe nicht einfach herumtrampelt und sich aufführt, wie es einem beliebt. In den letzten Jahren höre ich aber immer wieder, dass es Leute gibt - erwachsene Leute! - die das offensichtlich überhaupt nicht begreifen. Und jetzt versetzt man diese Tiere auch noch mutwillig in Panik, nur damit andere denken, man wäre witzig oder cool. Ganz abgesehen davon, dass es ein ziemlicher Arschloch-Move ist, Tiere zu erschrecken und sich darüber lustig zu machen, ist das auch noch richtig gefährlich - für einen selbst, für die Tiere und auch für andere Menschen.

Nun sind Jugendtrends ja keineswegs etwas absolut Neues - wie wir wissen, bringt jede Zeit neue kulturelle Aktivitäten und Stile der jüngeren Generation hervor. Wir hatten unsere, unsere Eltern und Großeltern hatten ihre, und die Jugend von heute hat eben auch ihre eigenen, die zum Glück nicht alle so extrem bescheuert sind wie die Challenges. Nicht nur das - Jugendkultur fing nicht erst Mitte des vorigen Jahrhunderts an. Ich bin mir sicher, dass sich die jüngere Generation schon seit Anbeginn der Zivilisation stilistisch und weltanschaulich immer wieder von der älteren abgrenzte. Und das muss auch so sein - weil wir uns sonst nie weiterentwickelt hätten. Schon der griechische Philosoph Sokrates ließ es sich nicht nehmen, die Respektlosigkeit der Jugend zu beklagen und dass man sich früher als junger Mensch noch zu benehmen wusste - umso paradoxer, dass ausgerechnet er wegen angeblich verderblichen Einflusses auf die Jugend mit dem Schierlingsbecher hingerichtet wurde. Aber auch aus schriftlichen Quellen aus dem mittelalterlichen Byzantinischen Reich geht hervor, dass zumindest die männliche Jugend bereits damals eigene Subkulturen bildete. Ein weiteres Beispiel für frühe Jugendkulturen war die "Jeunesse dorée" ("vergoldete Jugend") des gehobenen Bürgertums, die sich im Laufe der Französischen Revolution von der Politik distanzierte und dem Vergnügen sowie der Entwicklung neuer Moden hingab und dabei viel Verachtung seitens der älteren Generation erfuhr. Ab dem frühen 19. Jahrhundert revoltierten viele Studentenverbindungen - Burschenschaften, Sängerschaften und Turnerschaften -, deren Tradition teilweise bis ins Mittelalter zurückreichte, gegen die reaktionäre Politik der Restauration, was zur bürgerlich-liberalen Märzrevolution 1848/49 führte. Bekanntlich sind viele dieser Verbindungen inzwischen aber eher rechtslastig.

Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wandten sich im deutschsprachigen Raum viele Jugendliche aus dem bürgerlichen Milieu von der fortschreitenden Industrialisierung ab. Die zunehmende Verstädterung weckte in ihnen eine Sehnsucht nach Natur und Gemeinschaft. So entstanden zur damaligen Zeit viele Wanderbewegungen, die erste war der in Steglitz gegründete Wandervogel, innerhalb derer man sich in Kleingruppen aus Jugendlichen und jungen Erwachsenen organisierte und seine Freizeit hauptsächlich mit Wanderungen draußen in der Natur verbrachte. Anfangs noch unpolitisch, wandten sich viele dieser Bewegungen nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend rechts-nationalistischen Idealen zu, ein Trend, der von den Nationalsozialisten erkannt und für seine Zwecke genutzt wurde. Ab 1933 wurden sämtliche Jugendvereinigungen verboten - junge Leute wurden nun in der Hitlerjugend und im Bund deutscher Mädel zusammengefasst. Ich hatte vor ein paar Monaten mal eine Auseinandersetzung mit Leuten, die behaupteten, die Jugend hätte dort Respekt vor den Eltern gelernt. Das ist romantisch-verklärter Schwachsinn - die jungen Leute wurden aus dem Einflussbereich der älteren Generation entfernt, für Hitlers Ideologie instrumentalisiert und zu Kanonenfutter für den bereits geplanten Zweiten Weltkrieg ausgebildet. Wer diese Indoktrination für "romantisch" hält, der sollte ganz dringend einen Arzt aufsuchen. Oder einen Geschichtslehrer.

Natürlich liefen aber nicht alle Jugendlichen dieser Ideologie blind hinterher. Viele erkannten im Laufe der Zeit, dass der Drill in der Hitlerjugend nicht mehr allzu viel mit der Freiheit zu tun hatte, die sie sich erträumt hatten. Vor allem der Beginn des Krieges desillusionierte viele einstmals brave Jünger des Nationalsozialismus, und so manche von ihnen wurden zu erbitterten Widerständlern. Auch die bekannten Geschwister Scholl, die sich später der studentischen Münchener Widerstandsbewegung Weiße Rose anschlossen und wegen widerständischer Aktivitäten auf dem Schafott hingerichtet wurden, waren ursprünglich in der HJ bzw. im BDM - so manche sehen das als Indiz, warum diese es nicht verdient hätten, als Helden gefeiert zu werden. Ich antworte darauf allerdings, dass Jugendliche erstens damals keine Wahl hatten, als sich diesen Bewegungen anzuschließen und dass es zweitens Respekt verdient, zu erkennen, dass man bisher falschen Idealen nachgelaufen ist, und sich diesen auch noch so mutig entgegenzustellen. Neben der Weißen Rose gab es aber auch die sozialistischen Edelweißpiraten, die sich hauptsächlich auf den Kölner Raum konzentrierten und sich ebenfalls aktiv dem Regime widersetzten. In deutschen Großstädten wie Frankfurt, Berlin und Hamburg, aber auch in Wien entstand die damals oppositionelle Swing-Jugend, die sich am amerikanisch-englischen Lebensstil orientierte und sich vor allem durch die Swing-Musik von der Hitlerjugend abgrenzte. Ab 1937 war das Spielen von Swing-Musik in Tanzlokalen verboten; dass jedoch alle Gaststätten dazu verpflichtet wurden, Schilder mit der Aufschrift Swing tanzen verboten aufzuhängen, ist allerdings ein Marketing-Gag aus den 1970er Jahren - nach Kriegsbeginn waren Tanzveranstaltungen sowieso generell verboten.

In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg standen einige junge Literaten des anglo-amerikanischen Sprachraums für das Lebensgefühl einer neuen Zeit - sie reisten mit wenig bis gar keinem Geld übers Land und hörten Bebop und Modern Jazz. Die so genannte Beat Generation ist uns vor allem durch Schriftsteller wie Jack Kerouac, William S. Burroughs und Allen Ginsbergh in Erinnerung geblieben. Als ich etwa fünfzehn war, waren es diese Bücher, die mich zum Träumen anregten. Ab Mitte der 1950er Jahre läutete der Rock'n'Roll, der sich Ende der 1940er Jahre in den USA aus dem schwarzen Rhythm'n'Blues entwickelt hatte und 1955 durch den Film Blackboard Jungle (Saat der Gewalt) allmählich auch die europäische Jugend in seinen Bann zog, eine neue Ära ein. Die ältere Generation, die gerade einen Krieg hinter sich gebracht hatte und für die schon die Sissi-Trilogie knallharte Action war, schätzte diese neuen Töne gar nicht - sie hielten sie für viel zu laut und zu aggressiv, was uns in der heutigen Zeit, in der die wilden Zeiten des Punk und Heavy Metal bereits ein alter Hut sind, natürlich lächerlich vorkommt. Sie wussten eben noch nicht, was auf sie zukam.

Den Lederjacken und pomadisierten Haaren folgten im Laufe der 1960er Jahre erst die Beatles und die Rolling Stones, von denen jeder auf seine Weise die Musik revolutionierte, und gegen Ende des Jahrzehnts schließlich die bunte, auffällige Kleidung, der klimpernde Schmuck, die langen Haare und struppigen Bärte der Hippies. Diese Bewegung nahm im größtenteils studentischen Umfeld der USA ihren Anfang und verbreitete sich allmählich auch in anderen Teilen der Welt - man nahm alle möglichen Drogen, liebte die Natur, fuhr in bunt bemalten VW-Bussen durch die Weltgeschichte, predigte Liebe und Frieden und frönte der sexuellen Befreiung, und das alles zu den Klängen von Scott McKenzie, Frank Zappa, Jimi Hendrix, den Doors, Creedence Clearwater Revival, Janis Joplin, Jefferson Airplane und wie sie alle hießen. Es war die Zeit der ersten großen Open-Air-Konzerte, und Festivals wie das Monterey Pop Festival, das tragische Altamont Free Concert und natürlich das Woodstock Festival gingen in die Geschichte ein. In der Zeit um 1968 entwickelten sich außerdem zunehmend linksorientierte politische Bewegungen, die vor allem von Studenten geprägt waren. Diese waren dann irgendwann nicht mehr ganz so friedlich - aus der ursprünglich friedlichen Bürgerrechtsbewegung der USA gingen beispielsweise die Black Panther hervor, während sich aus der deutschen Studentenbewegung die Rote Armee Fraktion (RAF) entwickelte. Und wir dürfen auch nicht die mörderische Manson-Familie vergessen, die so viele Menschenleben auf dem Gewissen hat.

Nachdem der schillernde Glamrock den alternativen Hippies in den frühen 1970ern eine Absage erteilt hatte, entstand Mitte dieses Jahrzehnts in New York City eine Bewegung aus Studenten und jungen Arbeitern, deren Ziel hauptsächlich die Provokation war - nämlich der Punk, der später nach England kam und in der Folge auch nahezu die ganze Welt eroberte. In Deutschland nahm er erst Fahrt auf, als er im englischsprachigen Raum schon fast wieder out war, und stellte zusammen mit dem New Wave die Weichen für die Neue Deutsche Welle. Auffällig für Punks war natürlich in erster Linie ihr Erscheinungsbild - zerrissene Kleidung, Nieten, Buttons, Aufnäher, Armeestiefel und Alltagsgegenstände wie Sicherheitsnadeln. Am markantesten waren aber natürlich die Haare, die anfangs extrem kurz getragen wurden, ehe sie bunt gefärbt und mit viel Gel in Kombination mit rasierten Stellen zu allen möglichen gewagten Frisuren gestylt wurden, deren bekannteste natürlich bis heute der Irokese ist. Zu den ersten Punks dieser Bewegung gehörten die New York Dolls, die Ramones, The Clash und die Sex Pistols - im deutschsprachigen Raum sind bis heute vor allem die Ärzte, die Toten Hosen und die Böhsen Onkels bekannt, wobei man deren Musikstil inzwischen schon lange nicht mehr ausschließlich dem Punk zuordnen kann.

Ausgehend von den späten 70ern wurde die Jugendkultur in den 1980ern und 1990ern weitaus heterogener. Damals formierte sich beispielsweise die Schwarze Szene (Gothic, Dark Wave etc.); außerdem gab es die Popper, die sich von den anderen durch teure Markenkleidung und eine gewaltige Föhnwelle unterschieden; oder die Metal-Szene, die ursprünglich als Jugendkultur begann, heute jedoch alle erdenklichen Altersgruppen umfasst. Ich erinnere mich an eine Zeit im letzten Jahrzehnt, als Teenager gerne in T-Shirts mit Logos von Punk- und Metal-Bands herumliefen, deren Musik sie überhaupt nicht kannten. Am schrecklichsten fand ich ein weißes Ramones-T-Shirt mit Glitzersteinchen, das ich einmal an einem Mädchen sah. Den Gegenpol zum Starkult der Rock-Szene bildeten die Clubs, in denen Techno und House gespielt wurde und wo das gemeinsame ekstatische Musikerlebnis im Vordergrund stand. Ich konnte damit eher wenig anfangen, lernte aber auch diese Musikrichtung allmählich zu schätzen - zumindest die weniger nervige Variante. Hingezogen fühlte ich mich eher zu den "Slackers" der Indie-Bewegung, die ihre frühe Ausdrucksform im Grunge fand, heute aber eher noch dem Namen nach "independent" ist. In Nordeuropa und den USA waren eine Zeit lang außerdem die Straight Edgers sehr aktiv, die sich aus dem Punk entwickelt hatten, aber jegliche Drogen, Alkohol und Tabak ablehnten - manche ernährten sich sogar streng vegan. Die radikalsten unter ihnen waren die Hardliners, die gegen alles kämpften, was nicht ihrer Ideologie entsprach, seien es Abtreibungen, Homosexualität oder Gewalt gegen Tiere. Sie überlebte sich hauptsächlich deshalb, weil die anderen Straight Edgers nicht mit den Hardliners in einen Topf geworfen werden wollten.

Eine Jugendkultur, die sich, wenn auch sehr verändert, bis in die heutige Zeit gehalten hat, ist die Hip-Hop-Szene. Diese machte vor allem die Street fashion populär, die anfangs noch sehr von der Black-Pride-Bewegung geprägt war und später zunehmend Einflüsse aus dem Gangsta-Milieu übernahm. In meiner Jugend gehörten dazu die extrem tief sitzenden Baggy Pants, Kapuzenpullover, Baseballcaps und Bandanas sowie Markenturnschuhe. Später zeugten riesige Markenlogos und auffälliger Gold- und Platinschmuck vom finanziellen Aufstieg der Rap-Stars. In den frühen 2000ern präsentierten viele von ihnen auf MTV stolz ihren Reichtum, immer in derselben Reihenfolge: fettes Auto, riesige Villa, gewaltiger Swimmingpool, ein Bett für etwa zehn Personen sowie ein begehbarer Schrank voller Sneaker-Einzelstücke. Heute ist der Bekleidungsstil deutlich individueller, aber hochpreisige Marken müssen immer noch sein. Neben der Kleidung spielt natürlich auch die Rap-Musik eine wesentliche Rolle - der schnelle Sprechgesang hat seinen Ursprung bekanntlich in der afro-amerikanischen Kultur. In den frühen Achtzigern noch ein Nischenprodukt, etablierte sich Rap allmählich immer mehr innerhalb der populären Musikszene und wurde bald auch von weißen Interpreten übernommen. In den Neunzigern etablierte sich der Sprechgesang des Rap allmählich auch in anderen Musikrichtungen - eine Zeit lang verfügten praktisch alle Chart-Songs über Rap-Sequenzen, was ich, um ehrlich zu sein, manchmal auch eher nervig fand. In den 90ern etablierte sich auch der Deutschrap, der vor allem im letzten Jahrzehnt immer beliebter wurde. Eine wesentliche Rolle in der Hip-Hop-Kultur spielen außerdem auch Breakdance und Graffiti-Kunst. Ich habe mich als Jugendliche selbst auch auf dem Grundstück von Freunden an der Spraydose versucht - allerdings mit eher mäßigem Erfolg. Momentan bemerke ich, dass viele Rapper ihre Baseballcaps gegen Aluhüte eingetauscht zu haben scheinen - immerhin ist eines der Kennzeichen dieser Musikrichtung der Kampf gegen das Establishment. Grundsätzlich habe ich auch nichts dagegen - ich finde halt, wenn schon, dann sollte man diesen wenigstens mit Verstand führen.

Eine eher umstrittene Jugendkultur ist die Skinhead-Szene, gekennzeichnet durch sehr kurz geschnittene oder gar abrasierte Haare, Springerstiefel mit Stahlkappen sowie Bomber-, Harrington- oder Donkey-Jacken. Entgegen der landläufigen Meinung sind nicht alle dieser doch sehr heterogenen Szene Nazis - es gibt neben den bekannten rechtsradikalen Skins auch unpolitische oder gar linksradikale. Die ersten Skinheads traten Ende der 1960er Jahre auf, in den späten 1970ern bildete sich die rechtsradikale, fremdenfeindliche Szene heraus, die zum üblichen Outfit im Laufe der Zeit auch neonazistische Symbole hinzufügte. Besonders in den 1990ern waren Neonazi-Gruppierungen für viele Jugendliche eine Möglichkeit, gegen Eltern zu rebellieren, die sich von Rock'n'Roll, Hippies, Punks und Metal nicht mehr aus der Ruhe bringen ließen. Ich hatte damals den Eindruck, dass viele junge Nazi-Skinheads nicht die blasseste Ahnung von dem hatten, was sie da von sich gaben, und Rechtsrock hauptsächlich deshalb hörten, weil er die strengen Tabus bricht, die wir uns mit der Bewältigung des Nationalsozialismus nach und nach auferlegt haben. Ehrlich gesagt sehne ich mich heute manchmal ein bisschen nach jener Zeit, als man Neonazis an ihrer Kleidung und ihren zur Schau gestellten Symbolen noch sehr leicht erkennen konnte.

Als ich etwa Anfang bis Mitte zwanzig war, war der Emo-Stil bei Jugendlichen sehr angesagt. Sie trugen bevorzugt schwarz, manchmal auch zweifarbig gefärbte Haare, meist in einem asymmetrischen Pony, der ein Auge verdeckt, ansonsten mischten sie Elemente aus Punk, Grunge, Gothic, Rockabilly und der Skater-Kultur miteinander. Die schwarze Kleidungsfarbe wurde oft durch grelle Muster kontrastiert, außerdem machten sie die zuvor verpönten Röhrenhosen populär, die ich inzwischen nicht mehr sehen kann. Kennzeichnend waren auch niedliche Accessoires, Piercings und schwarz geschminkte Augen sowohl bei Jungen als auch bei Mädchen. Ein beliebtes Accessoire ist auch die Rasierklinge, außerdem wird den Anhängern dieser Szene ein Hang zur Selbstverletzung nachgesagt, dies gilt aber mit Sicherheit nicht für alle. Im deutschsprachigen Raum etablierte sich der Emo-Style vor allem durch die deutsche Band Tokio Hotel. Abgesehen davon möchte ich auch die Gamer-Szene, die Surfer und Skater sowie die Cosplayer nicht unerwähnt lassen, die sich hauptsächlich durch ihre jeweiligen Interessen formieren. Aber auch die Fridays-For-Future-Bewegung, die sich vor zwei Jahren um die damals sechzehnjährige Greta Thunberg formierte und sich mit Mitteln des zivilen Ungehorsams für den Klimaschutz einsetzt, kann als Jugendkultur gesehen werden.

Was den Challenge-Trend betrifft, so hat dieser mit den Jugendkulturen wohl eher wenig zu tun. Ich bleibe da bei meiner Theorie, die ich an anderer Stelle schon einmal angesprochen habe - nämlich, dass diese das Ergebnis dessen sind, dass Kinder und Jugendliche in den USA heutzutage kaum noch Freiheiten haben. Mich hat es schockiert, zu hören, dass Kinder dort nicht frei wählen dürfen, was sie spielen wollen, dass Erwachsene aktiv in jeden Konflikt zwischen den Kindern eingreifen und dass es augenscheinlich Eltern gibt, die jeden Schritt ihres Kindes auf dem Handy beobachten. Da ist es kein Wunder, dass der eine oder andere Jugendliche auf blöde Ideen kommt. Ich finde diese Entwicklung allerdings höchst bedenklich, da aus solchen Kindern Leute werden, die Entscheidungen nicht mehr selbst treffen können. Gepaart mit einem miserablen Schulsystem ist dieser Trend für das Streben nach einer gesunden Demokratie höchst kontraproduktiv - denn wer nicht in der Lage ist, selbst zu entscheiden, verlangt nach einem starken Führer, und das Ergebnis sehen wir ja bereits heute. Deshalb mein Appell an alle: Geht ein bisschen gelassener mit den Ideen und Träumen der jungen Generation um. Lasst sie ihren Weg selbst finden und akzeptiert, dass sie vielleicht mit dem, was ihr an eurer eigenen Jugend so toll findet, nichts anfangen können. Lasst die Jugend ihre Erfahrungen selbst machen und greift nur dort ein, wo es unbedingt nötig ist - beispielsweise eben bei dummen Challenges oder destruktiven Ideologien. Und vor allem - bleibt im Dialog und versucht, eure Differenzen sachlich zu klären. Nur so können wir auf eine positive Zukunft hoffen.

vousvoyez

Samstag, 20. Juni 2020

Ich kann die Komplexität meiner Gedanken nur in Emojis ausdrücken

Das Problem gesammelter und wöchentlich veröffentlichter Weisheiten ist, dass man oft vergisst, wer der Urheber ist. So geht es mir auch mit dieser hier - ich meine aber, dass sie aus der einst so beliebten und bis zum Erbrechen wiederholten Fernsehserie How I Met Your Mother stammt. Emoticons bzw. Emojis haben die schriftliche Kommunikation bekanntlich revolutioniert - als die SMS aufkamen, wurden sie in der ASCII-Zeichenkombination verwendet, mit der Zeit hatten aber immer mehr digitale Plattformen eigene Emojis zur Verfügung, so dass man heute eher selten mit solchen Kombinationen :-) arbeitet, die man nur erkennen kann, wenn man den Kopf auf die linke Schulter legt. Im Großen und Ganzen sind sie aber aktuell die gängigste Möglichkeit, Botschaften zu kommunizieren, die über den schriftlichen Inhalt hinausgehen - bekanntlich ist es ja bei der schriftlichen Form des zwischenmenschlichen Austauschs kaum möglich, nonverbale Botschaften zu vermitteln.

Emojis haben sich so sehr in der digitalen Kommunikation etabliert, dass vor drei Jahren sogar ein Animationsfilm in die Kinos kam, der von ihnen handelte. Wie ich schon häufiger ausgeführt habe, sind digitale Animationsfilme aktuell weitaus gefragter als die handgezeichneten. Wobei Disney jetzt zur Abwechslung mal nicht ein Remake nach dem anderen raushauen kann, weil die Filmindustrie aktuell mehr oder weniger stillgelegt ist - wer hätte das gedacht. Aber mit ihrer neuen Streaming-Plattform Disney + werden sie wohl genug Geld scheffeln, um auch diese Krise einigermaßen glimpflich zu überstehen. Ob ich mich darüber freuen kann, weiß ich nicht - wie ihr wisst, bin ich mit Disney-Filmen aufgewachsen, und es gibt sehr viele, die ich auch heute immer noch sehr gern sehe, aber wenn ich merke, wie dieser Multikonzern nahezu alles andere schluckt, bekomme ich, ehrlich gesagt, ein etwas mulmiges Gefühl. Trotzdem kommt bekanntlich schon seit mehr als achtzig Jahren kein Kind mehr an den Disney-Filmen vorbei. Wobei wir natürlich wissen, dass die abendfüllenden Disney-Filme auf ältere Vorlagen zurückgreifen und zum großen Teil auch stark verändert und teilweise auch entschärft wurden. Und dem will ich mich heute widmen.

Zu den Vorlagen, die für diese Filme verwendet werden, zählen etwa Klassiker der Kinderliteratur oder auch Märchen und Sagen. Und natürlich dürfen da die Märchen der Gebrüder Grimm nicht fehlen. Jacob und Wilhelm Grimm waren zwei deutsche Sprachwissenschaftler und Volkskundler, die im frühen 19. Jahrhundert nach alten Volksliedern für die Volksliedersammlung Des Knaben Wunderhorn suchten, die von Achim von Arnim und Clemens Brentano herausgegeben wurde. Dabei trugen sie auch alte Volksmärchen, mündlich tradierte Erzählungen und literarische Exzerpte zusammen, aus denen in Folge die berühmten von ihnen selbst herausgegebenen Kinder- und Hausmärchen entstanden, die bis heute zum Kanon der Kinderliteratur zählen, auch wenn sie ursprünglich nicht speziell für Kinder gedacht waren. Was auch erklärt, warum so viele von ihnen so unglaublich brutal sind; zudem werden etwa das antiquierte Frauenbild und die antisemitischen Stereotype, die in vielen dieser Geschichten transportiert werden, heutzutage durchaus kritisch betrachtet. Abgesehen davon sind viele dieser Märchen den allermeisten Menschen zwar bekannt, allerdings eher selten in der Originalform. Die vier Grimm-Märchen, die von Disney verfilmt wurden, sind beispielsweise in dessen Version bekannter. Ich denke, viele werden sich wundern, wenn sie erfahren, wie sehr sie in der Zeichentrick-Variante verändert und sogar entschärft wurden.

Schon der älteste Disney-Langfilm, Schneewittchen und die sieben Zwerge aus dem Jahr 1937 unter der Regie von David D. Hand, geht auf ein Grimm-Märchen gleichen Namens zurück - wobei dieses in den Kinder- und Hausmärchen lediglich als Schneewittchen angeführt ist. Von diesem Märchen sind in unterschiedlichen Kulturen verschiedene ältere Varianten bekannt; der älteste schriftliche Beleg ist in der Sammlung des Schriftstellers, Philologen und Literaturkritikers Johann Karl August Musäus unter dem Titel Richilde zu finden. In der Erstausgabe der Grimm-Märchen trug das Märchen noch den Titel Schneeweißchen, der jedoch wahrscheinlich später geändert wurde, um ihn von der Geschichte Schneeweißchen und Rosenrot zu unterscheiden. Unter dem Titel Schneeweißchen findet sich die Geschichte auch in Ludwig Bechsteins Deutschem Märchenbuch wieder. Die Filmversion von Disney weicht in einigen Punkten von der Volksmärchen-Version ab - so bringt der Jäger der bösen Königin nicht das Herz eines Schweines, sondern Lunge und Leber eines Frischlings. Und diese bewahrt sie nicht in einer Schatulle auf, sondern lässt sie kochen und verspeist sie dann in dem Glauben, die äße die Innereien Schneewittchens. Überdies ist Kannibalismus ein beliebtes Motiv in den Grimm-Märchen. Außerdem wird Schneewittchen, als sie bei den Zwergen lebt, nicht nur einmal, sondern gleich dreimal von der bösen Königin aufgesucht in der Absicht, sie zu ermorden - beim ersten Mal stranguliert sie sie mit einem Gürtel, beim zweiten Mal steckt sie ihr einen vergifteten Kamm ins Haar, beim dritten Mal teilt sie sich mit ihr einen Apfel, wobei sie ihr die giftige Hälfte gibt und selbst die ungiftige verzehrt. Wobei die Disney-Version mit dem unheimlichen Wald und der gemeinen Königin, die sich in eine furchterregende Märchenhexe verwandelt, ebenfalls das eine oder andere Kind in Angst und Schrecken versetzen kann. Ich war zum Glück nicht mehr ganz so klein, als ich den Film zum ersten Mal gesehen habe. Zudem wird Schneewittchen am Ende nicht vom Prinzen wachgeküsst - ihr rutscht das vergiftete Apfelstück aus dem Hals, als die Zwerge, während sie ihren gläsernen Sarg transportieren, über eine Wurzel stolpern, woraufhin sie ins Leben zurückfindet.

Die zweite Adaption eines Grimm-Märchens ist Cinderella aus dem Jahr 1950 unter der Regie von Clyde Geronimi, Wilfried Jackson und Hamilton Luske. Sie geht auf das Märchen Aschenputtel zurück, von dem eine ältere Version auch in den Histoires ou Contes du temps passé (Geschichten oder Erzählungen aus alter Zeit), einer Märchensammlung des französischen Schriftstellers Charles Perrault, zu finden ist, unter dem Titel Aschenputtel oder Der gläserne Schuh (Cendrillon ou la Petite Pantoufle de verre). Eine neuere Version ist unter dem Titel Aschenbrödel bei Bechstein angeführt. Die Disney-Version ist näher an der Fassung von Perrault als an der der Gebrüder Grimm - beispielsweise verliert Cinderella nicht, wie im Grimm-Märchen, einen goldenen, sondern einen gläsernen Schuh, und sie schüttelt das schöne Kleid und die Schuhe nicht von einem kleinen Baum auf dem Grab ihrer Mutter, sondern erhält diese von einer guten Fee. Auch das Motiv des von Mäusen gezogenen Kürbis, der in eine von Pferden gezogene Kutsche verwandelt wird, stammt aus dem Perrault-Märchen. Aber auch von seiner Fassung gibt es Abweichungen - Cinderella tanzt nicht drei Abende hintereinander, sondern nur an einem Abend mit dem Prinzen, ehe sie den gläsernen Schuh verliert, der sie letztendlich identifiziert. Und die doch ziemlich verstörende Episode mit den beiden bösen Stiefschwestern, die sich Zehen bzw. die Ferse abschneiden, um in den Schuh zu passen, fehlt gänzlich - allerdings hat auch Bechstein sie bereits ausgelassen.

Das dritte von Disney verfilmte Grimm-Märchen ist Dornröschen aus dem Jahr 1959 von Clyde Gernomimi, Les Clark, Eric Larson und Wolfgang Reithermann. Allerdings ist auch dieser Film der Version von Perrault, Die schlafende Schöne im Walde (La Belle au Bois dormant) näher als der deutschen, weshalb die Prinzessin auch den Namen Aurora trägt. Das erkennt man auch am Soundtrack, der aus der Musik von Pjotr Iljitsch Tschaikowskis Dornröschen besteht, dessen Handlung sich seinerseits an Perraults Version anlehnt. Ebenfalls bemerkenswert ist der für einen Disney-Film ungewöhnlich kantige Zeichenstil Eyvind Earles, der von der mittelalterlichen Architektur und Malerei inspiriert ist und sowohl Elemente der Gotik als auch der Renaissance enthält. Wie bei Perrault, so fehlt auch in diesem Film das Motiv der zwölf goldenen Teller, die daran schuld sind, dass nicht alle dreizehn Feen zu Dornröschens Taufe eingeladen werden. Auch die Freier, die in der Dornenhecke vor dem Schloss verbluten, kommen im Film nicht vor, auch wenn sie sowohl bei Perrault als auch bei den Gebrüdern Grimm erwähnt werden. Der zweite Teil der Perrault-Version kommt jedoch weder bei Grimm noch im Film vor - hier verheimlicht der Prinz nämlich die Hochzeit mit Dornröschen, und als er in den Krieg zieht, befiehlt seine Mutter, seine Ehefrau und die beiden Kinder, die sie inzwischen hat, töten und ihr als Mahlzeit anrichten zu lassen. Der Haushofmeister täuscht sie jedoch, und am Ende muss die böse Mutter sich selbst richten. Doch selbst Perraults Adaption ist schon erheblich geglättet - von der neapoletanischen Version Sonne, Mond und Thalia (Sole, Luna e Talia) aus Giambattista Basiles Sammlung Pentameron, in der die Prinzessin nicht wachgeküsst, sondern vergewaltigt wird, habe ich bereits an anderer Stelle berichtet.

Das vierte Grimm-Märchen wurde 2010 unter dem Namen Rapunzel - neu verföhnt von Disney adaptiert. Dieser Film orientiert sich optisch sehr am Stil der Rokoko-Malerei - die Vorlagen sind handgezeichnet, das Endergebnis präsentiert sich aber in zeitgemäßer 3D-Computeranimation. In dem Film fehlt die Episode, die der Titelfigur ihren Namen verleiht, nämlich den Heißhunger ihrer schwangeren Mutter auf Rapunzeln - hierbei ist wohl das gemeint, was gemeinhin als Feldsalat, bei uns in Österreich auch als Vogerlsalat bekannt ist -, die im Garten der Nachbarin, einer bösen Zauberin, wachsen. Außerdem hat Rapunzel ihr ungewöhnlich langes Haar nicht, wie im Film, durch einen Zaubertrank, den ihre Mutter in der Schwangerschaft eingenommen hat, sondern offenbar deswegen, weil es nie geschnitten wird. Auch das Motiv des In-den-Turm-Kletterns der bösen Zauberin und später des Prinzen an Rapunzels Haaren fehlt im Film, und auch sonst weicht er stark von der literarischen Vorlage ab. Wie Dornröschen, so hat auch Rapunzel eine ältere Version in Basiles Pentameron unter dem Titel Petrosinella. Hier wird die Titelfigur jedoch nicht nach dem Vogerlsalat, sondern nach der Petersilie benannt ("Petrosinella" bedeutet in etwa "Petersilchen"). Aber auch sie wird von einer bösen Hexe entführt und in einen Turm gesperrt, in den sie und später auch der Prinz nur hineinkommen kann, indem sie an Petrosinellas Haar hinaufklettern. Was muss das Mädel doch für eine robuste Kopfhaut gehabt haben, dass es dabei nicht skalpiert wurde!

Natürlich sind Grimm-Märchen, wie schon eingangs erwähnt, nicht die einzige Quelle für die beliebten Kinderfilme. So gibt es Verfilmungen beliebter Kinderbücher, wie etwa Pinocchio, Bambi oder Alice im Wunderland, Adaptionen von Sagen und Legenden wie Die Hexe und der Zauberer, Robin Hood und Hercules, und Arielle, die Meerjungfrau  und Die Eiskönigin sowie auch der Kurzfilm Das hässliche Entlein finden ihren Ursprung in den Märchen von Hans-Christian Andersen. Wobei den Andersen-Märchen in den Filmversionen einiges von ihrer Schwere und Melancholie genommen wurde. Ich denke, ich werde mich öfter mal auf die Spuren der Vorlagen der Disney-Filme begeben, denn ich finde es tatsächlich sehr spannend, und es macht Spaß, dafür Recherche zu betreiben. Inzwischen hoffe ich, dass ihr alle brav bleibt und gut auf euch aufpasst. Wir sehen uns bei der nächsten Gelegenheit wieder. Bon voyage!

vousvoyez

Donnerstag, 18. Juni 2020

Ich werde mein Haus in Zukunft mit einem Aufreißfaden sichern - weil ich offenbar die einzige bin, die damit umgehen kann

Der Aufreißfaden soll natürlich Messer, Schere und andere Hilfsmittel zum Öffnen von Verpackungen überflüssig machen. Die Krux daran ist allerdings, dass viele das nicht zu kapieren scheinen bzw. dass manche gar nicht erst danach suchen - stattdessen wird die Verpackung so sehr misshandelt, dass die Gefühle, die beim Anblick eines zerfetzten Kartons mit noch vorhandenem Aufreißfaden in mir freigesetzt werden, mich unweigerlich an einen gewissen Fernsehdetektiv denken lassen, dessen Zwangsneurosen wir es zu verdanken haben, dass er inzwischen zu einem geflügelten Wort geworden ist. Aber gut, ab und an habe auch ich so meinem Ärger mit dem Aufreißfaden - manchmal reißt nämlich die Lasche ab, an der man ziehen soll, während man an ihr zieht! Das soll mal einer verstehen. Aber im Großen und Ganzen scheine ich mit Aufreißfäden weniger Probleme zu haben als andere. Sonst würden sich nicht so viele darüber beschweren, dass die Dinger ja ach so nervig sind.

Und nervig geht es jetzt auch weiter, nämlich mit einer Fortsetzung meiner allseits beliebten Eierer-Liste - die dieses Mal jedoch nicht mehr so Corona-lastig ausfallen wird wie die vorige. Auch wenn ich es mir, offen gestanden, nicht verkneifen kann, ein paar Seitenhiebe an jene ganz speziellen Exemplare zu verteilen, die uns Krisenzeiten wie diese noch ein kleines bisschen weniger erträglich machen. Aber über die allermeisten kritisch Nachdenkenden habe ich mich ja schon in meiner letzten Liste zur Genüge ausgelassen. Deshalb ist diese wieder ein wenig aufgelockert mit anderen Exemplaren nerviger Menschen.

Top-Eierer Numero 9: Die Realitätsverdränger

Und springen wir gleich ins kalte Wasser, damit wir es hinter uns haben! Ich weiß nicht, ob es am Lockdown liegt, als ich vergleichsweise wenig von der Außenwelt mitbekam, oder daran, dass ich mit Außenreizen ohnehin schon so meine Probleme habe - vielleicht ist es beides zusammen -, aber momentan habe ich das Gefühl, als drehe sich die Welt mit doppelter Geschwindigkeit. Beispielsweise habe ich besonders an belebten Plätzen oft das Gefühl, ständig aufpassen zu müssen, dass ich niemanden über den Haufen renne oder dass mich niemand über den Haufen rennt. Viele Leute rasen wie zu Ende der Adventszeit ohne links und rechts zu schauen durch die Gegend - wie Kühe beim Almabtrieb. Zudem fühle ich mich an der Supermarktkassa aktuell ziemlich häufig bedrängt - zumindest, wenn ich auf die glorreiche Idee komme, in der Innenstadt einzukaufen, anstatt einfach zum Hofer ums Eck zu gehen, wo es ein bisschen relaxter zugeht. Aber ich brauche ja unbedingt den Bio-Kaffee und das rosinenfreie Müsli vom SPAR! Zudem ist heute die erste Woche, in der man in Läden und Gastronomie-Betrieben keine Gesichtsmaske mehr tragen muss. Und als sei das noch nicht genug, ist mir auch das Busfahren in letzter Zeit ziemlich zuwider. Das liegt vor allem daran, dass vielen die Sicherheitsvorkehrungen mittlerweile egal zu sein scheint - die Masken werden nicht richtig aufgesetzt, manche tragen gar keine mehr, und häufig stehen alle so dicht gedrängt, dass ich jetzt wieder viel mehr zu Fuß unterwegs bin. Liebe Top-Eierer Numero 9: Nur weil die Maßnahmen jetzt gelockert wurden, heißt es noch lange nicht, dass alles vorbei ist!

Top-Eierer Numero 10: Die extrem aufgeschlossenen Penistorten-Bäckerinnen

Lassen wir also die letzten Corona-Eierer hinter uns und wenden wir uns nun denjenigen zu, die auch vor und nach einer solchen Pandemie hohes Nerv-Potenzial haben. Nun betrifft diese crazy Aufgeschlossenheit natürlich nicht nur Frauen, sondern auch Männer. Die Frauen haben halt nur das größere Potenzial, sie auch in die Welt zu tragen - sowohl live als auch virtuell. Sie malen Penis-Bilder, backen Vagina-Muffins und Penistorten, sammeln Sexspielzeug, kommen sich dabei wie unglaublich aufgeschlossene, verrückte Hühner vor und finden das alles auch noch sooooo witzig! Hihihi, schau, ein Penis! Da, schon wieder einer, hihihihihi! Hihihihihi, sie hat Penis gesagt! Und natürlich muss das Sexleben auch haarklein auf Social Media ausgebreitet werden - natürlich, um den Neid der anderen Damen zu erwecken, die mit Sicherheit nicht so ein aufregendes Sexleben haben! Und selbstverständlich haben sie alle Fifty Shades of Grey gelesen oder zumindest die Filme gesehen, weshalb es natürlich nicht nur völlig in Ordnung, sondern auch total kühn und wagemutig ist, sich von seinem sexy Männi ein bisschen den Hintern versohlen zu lassen. Selbstredend, dass alle, die dieses Verhalten übertrieben und die Geschlechtsteil-Kunst eher ekelhaft finden, natürlich total spießig sind und gefälligst mal den Stock aus dem Arsch nehmen sollen.
Nun, ich habe an anderer Stelle schon einmal erwähnt, dass dieses Gekicher, wann immer es um menschliche Geschlechtsteile geht, und dieser wahnsinnig lustige Humor in Wirklichkeit auf Leute hinweist, die eigentlich selbst total spießig sind, aber gern crazy und aufgeschlossen wären. Ihr wahnsinnig lustiger, unglaublich schriller und edgy Humor bewegt sich auf dem geistigen Niveau von Kindergartenkindern, die bekanntlich alle Ausdrücke, die nur irgendwie mit Körperausscheidungen und Sexualität zu tun haben, zum Schreien komisch finden. Solche Leute finden dann auch Vulgär-Komödien total super und glauben, dass diese ach so viele Tabus brechen - obwohl sie das ja in Wirklichkeit gar nicht tun, denn wo es keine Tabus mehr gibt, können diese auch nicht gebrochen werden. Und selbst wenn man das tut, spricht das nicht automatisch für Qualität. Ich frage mich, ob diese Leute schon mitgekriegt haben, dass die Zeiten, als dereinst alle Leute in die Kino strömten, um Hildegard Knef in Die Sünderin für ein paar Sekunden nackt zu sehen, schon längst vorbei sind. Sexualität wurde, wie alles andere auch, schon längst von der Konsumgesellschaft vereinnahmt, und als sexuell aufgeschlossen gilt heute derjenige, der für die Befriedigung seiner körperlichen Gelüste einen ganzen Werkzeugkasten benötigt. Natürlich wollen wir nicht zurück in eine Zeit, als alles Sexuelle außerhalb des zeugenden Kontextes als Schande galt - aber es ist gerade die Tatsache, dass der Sexualität jegliches Geheimnis genommen wird, die dieser ihren Reiz entzieht. Entsprechend ist das vorab erwähnte Fifty Shades of Grey mit seinem vertraglich geregelten, neoliberalen Sex auch kein bahnbrechender Tabubruch, sondern lediglich ein Abbild der zum Konsumgut degradierten Sexualität unserer Zeit. Romane wie diese lösen das Versprechen, das sie verheißen, nicht ein und folgen damit den Gesetzen der Konsumgesellschaft - denn natürlich gibt auch Werbung ein Versprechen, von dem wir wissen, dass sie es nie einlösen wird können, denn wie soll mein Leben sich verändern, wenn ich statt diesem Waschmittel jenes kaufe? Dazu passt auch das, was ich an anderer Stelle schon erwähnt habe, nämlich, dass die heutige Pornographie den Menschen entmenschlicht, indem sie ihn auf bestimmte Körperteile reduziert. Liebe Top-Eierer Numero 10: Ihr seid leider nicht die ersten, die auf die Idee gekommen sind, Geschlechtsteile zu malen!

Top-Eierer Numero 11: Prominentengeile

Dieses Exemplar hat durchaus das Potenzial, seinen Horizont zu erweitern, verschwendet aber den letzten Rest seiner geistigen Fähigkeiten fast ausschließlich darauf, wie ein Schwamm jegliche Information über diesen oder jenen Prominenten aufzusaugen. Sie wissen genau, welcher Hollywoodstar seine Frau betrogen hat, was die Lieblingsfarbe von Tom Cruise ist und was David Beckham am 15. 6. 2002 zum Frühstück gegessen hat. Sie kaufen jedes Klatschblatt und schauen sich jede High-Society-Sendung an, tauschen sich mit anderen über die sexuellen Vorlieben von Nicole Kidman aus und können genau sagen, wer das Kleid von Prinz Harrys Ehefrau Meghan entworfen hat. Und natürlich ist es hierzulande ihr größter Traum, einmal auf dem Wiener Opernball von den ORF-Reportern aufgespürt zu werden, damit ihre Verwandten und Freunde sie morgen in der High-Society-Sendung Seitenblicke bewundern können. Ich frage mich häufig, ob solche Leute - hauptsächlich Frauen - überhaupt ein eigenes Leben haben, dass sie sich so sehr für das Leben von Personen interessieren, die sie eigentlich gar nicht kennen. Aber ja - früher hat man über die Nachbarn getratscht, heute tauscht man sich über Prominente aus. Wobei ich denke, dass es nicht ausschließlich daran liegt. Ich denke, dass diese Art von Voyeurismus in Wirklichkeit Ausdruck einer Sehnsucht ist, der Sehnsucht nach der Welt der Reichen und Schönen, zu der sie nie gehören werden. Diese Leute fühlen sich zu jenen hingezogen, die für sie nur Verachtung übrig haben und deren Luxus nur möglich ist, weil sie von ihnen ausgebeutet werden. Ähnlich wie die jungen Leute, die am meisten Gefahr laufen, in die Armutsfalle zu geraten, versuchen, so auszusehen und sich so zu verhalten wie ihre Unterdrücker und sich ihnen auf diese Weise zu unterwerfen, anstatt gegen die Unterdrückung anzukämpfen. Top-Eierer Numero 11 hat keinen Begriff mehr davon, was Freiheit eigentlich ist - er missversteht diesen Begriff als die Freiheit, sich alles kaufen zu können, was er begehrt. Diese unterschwellige Gewissheit, dass seine Sehnsucht sich nie erfüllen wird, macht, dass er den Reichen und Berühmten, denen er völlig unerkannt ist, seinen moralischen Stempel aufdrückt: Er urteilt über ihr Verhalten, ihre Art, sich zu kleiden und über ihren Körper, als sei er derjenige, der die Regeln macht und als hätten andere die Verpflichtung, sich danach zu richten. Ähnlich wie nervige Fangirls sich einbilden, sie hätten zu bestimmen, ob ihr Lieblingssänger eine Freundin haben darf oder nicht. Liebe Top-Eierer Numero 11: Ein bisschen vor der eigenen Türe kehren wäre angebracht.

Top-Eierer Numero 12: Leute, die erpresserische Kettenposts teilen

Wer kennt es nicht: Du hast ein Meme oder einen Text vor dir, mit dem du eigentlich ganz konform gehst, der sogar eine wichtige Botschaft vermittelt. Und am Ende steht dann sowas wie: "Wenn du das nicht teilst, bist du ein schlechter Mensch", "Niemand wird das teilen" oder "Nur wenige werden den Mut haben, das zu teilen". Früher ließ ich mich von sowas noch triggern. Heute teile ich Posts, die so enden, gleich extra nicht - denn ich habe absolut keine Lust, mich erpressen zu lassen. Es ist ja sehr schön, wenn man sich Gedanken macht über den Hunger in der Welt, über Tierquälerei und den Klimawandel, über Mobbing und psychische Erkrankungen. Wenn das niemand tut, ändert sich auch nichts. Die Sache ist halt die - wir ändern die Welt auch nicht, indem wir solche Memes teilen. Im vorletzten Jahrzehnt habe ich all die weltweiten Live-Aid-Konzerte für Afrika miterlebt - geändert hat sich seither nichts. Weil man eben so viele Konzerte geben und Memes teilen kann, wie man will; solange sich in Politik und Gesellschaft nicht grundlegend was ändert, lösen wir solche Probleme nicht. Liebe Top-Eierer Numero 12: Klar könnt ihr euch auch weiterhin über Social Media gegen soziale Ungerechtigkeit und die Ausbeutung unseres Planeten aussprechen - ich mache das schließlich auch. Aber ihr könnt nicht erwarten, dass jeder eure gut gemeinten Posts auch teilen wird. Ich bin gerne bereit, auf Probleme aufmerksam zu machen, aber ich lasse mich nicht dazu nötigen, bestimmte Posts zu teilen, nur weil sie mir erzählen, dass ich scheiße bin, wenn ich es nicht mache. Ähnlich wie auch die Kettenbriefe, in denen steht, dass man nur ein echter Freund ist, wenn man sie teilt - echte Freunde erkennt man nicht daran, dass sie deine Kettenbriefe teilen, sondern vor allem daran, dass die Chemie auch noch stimmt, wenn man mal länger nichts voneinander gehört hat, und dass der eine dem anderen nicht egal ist.

Ich hege die Hoffnung, dass ich jetzt länger nichts mehr zu dem leidigen Thema schreiben muss - zumal ich mittlerweile auch gar nicht mehr so viel Zeit dafür habe, mich über bestimmte Leute aufzuregen. Ich kann also wieder einigermaßen realistisch davon ausgehen, dass ich mich jetzt wieder anderen Dingen zuwenden kann. Natürlich ist es möglich, dass es neuerlich zu einer Ansteckungswelle kommt und ich dann wieder zu viel Zeit habe. Aber natürlich wollen wir das alle nicht hoffen - ich für meinen Teil merke, dass die Rückkehr ins Leben mir doch einiges an Kraft abverlangt, deshalb bin ich nicht so scharf darauf, das in naher Zukunft zu wiederholen. Allerdings haben wir in der Zeit seit Beginn der Krise doch so einiges über Covid 19 gelernt, sprich, möglicherweise werden wir, sollte es zu einem erneuten Anstieg kommen, ein bisschen besser damit umgehen können als beim letzten Mal. Ich hoffe jedenfalls das Beste - und dass ihr gesund bleibt und so gut wie möglich über die Runden kommt. Wir sehen uns jedenfalls mit Sicherheit bald wieder. Bon voyage!

vousvoyez

Dienstag, 9. Juni 2020

Du gehst saufen, damit du dei Oide net siehst und dann kommst ham und siehst as doppelt

Ich weiß beim besten Willen nicht mehr, wo ich diesen Spruch herhabe, aber ich kann immer noch darüber lachen. Das ist mit Sicherheit ein schönes Beispiel für den "Schmäh", der an uns Österreichern immer so geschätzt wird. Auch ich lasse meinen "Schmäh" ja immer wieder mit einfließen - widme mich aber häufig auch ernsten Themen, wie alle wissen, die diesen Blog schon länger verfolgen. Wie ihr sicher wisst, habe ich mich in meinem letzten Post ja auch einem ziemlich ernsten Thema gewidmet. Deswegen möchte ich heute wieder mal was Lustiges machen und meine Liste an Filmklischees, Logikfehlern und Ähnlichem fortsetzen. Vor allem deshalb, weil ich das schon so lang nicht mehr gemacht habe - und meine Notizen nach all der Zeit immer noch erstaunlich ergiebig sind. Ehe ich aber anfange, vorab noch ein paar Worte in eigener Sache.

Besonders die, die selbst schreiben, können vielleicht nachvollziehen, dass meine Artikel auch ein gewisses Maß an Aufwand bedeuten - den ich sehr gerne erbringe (damit hier niemand behaupten kann, ich würde jammern). Und dass ich natürlich auch etwas von meinem Herzblut hineinstecke. Ich halte nichts von Leuten, die sagen: "Ich schreibe nur für mich selbst - was andere denken, ist mir egal." Bei solchen Leuten frage ich mich, warum publizierst du dann? Deswegen bemühe ich mich auch, ein bisschen Abwechslung hineinzubringen. Umso mehr freut es mich, euch mitteilen zu können, dass ich für keinen Artikel je so viel positives Feedback bekommen habe wie für meinen letzten über Rassismus. Dafür möchte ich euch noch einmal danken, denn es ermutigt mich, weiterzumachen und vor allem auch, mich Themen zu widmen, die für mich wichtig sind. Ich habe vielleicht keine große Reichweite, aber dafür wissen meine wenigen Leser das, was sie lesen, auch zu schätzen.

Okay, genug der Streicheleinheiten, es geht los:

Logikfehler, offene Fragen, Klischees und alles, was so dazugehört, in Filmen

1) Wenn ich mich auf Logikfehler in Filmen beziehe, so geht es natürlich meist um solche auf nicht ganz so hohem künstlerischem Niveau. Allerdings muss ich sagen, dass es auch in qualitativ hochwertigen Filmen ab und an zu solchen kommen kann. Ein prominentes Beispiel ist der zu Recht zu den Klassikern zählende Film Citizen Kane, dessen gesamte Handlung jedoch auf einem erstaunlich auffälligen Logikfehler beruht: Protagonist Charles Foster Kane stirbt alleine im Bett auf seinem privaten Schloss Xanadu, in der Hand eine Schneekugel, die er fallen lässt und die auf dem Boden zerbricht, nachdem ein letztes Wort, "Rosebud"(dt.: Rosenknospe), über seine Lippen kam. Kurz darauf findet einen Krankenschwester den Leichnam. Es folgt eine Rückblende, nachdem ein Reporter den Auftrag bekam, herauszufinden, was Kane mit seinem letzten Wort gemeint haben mag. Das Ding ist nur: Charles Foster Kane starb allein - außer ihm war zur Stunde seines Ablebens niemand ihm Raum, und das Wort "Rosebud" war eher ein Flüstern. Wie konnte man also wissen, dass gerade das sein letztes Wort war? Nun, die Bedeutung des Wortes "Rosebud" wird am Ende des Films aufgelöst - zumindest für den Rezipienten. Wie man überhaupt davon in Kenntnis gesetzt wurde, wird wohl ein ewiges Rätsel bleiben.
[edit: Nach einer neuerlichen Sichtung des Films bin ich zu dem Schluss gekommen, dass dieser Logikfehler möglicherweise beabsichtigt war.]

2) In Science-Fiction-Filmen sehen Außerirdische praktisch immer annähernd menschlich aus - Unterschiede gibt es größtenteils nur am Kopf. Wobei natürlich hier die meisterhaft nach H. R. Gigers biomechanischen Phantasiewesen gestalteten Figuren in den Alien-Filmen hervorstechen, die unsere Vorstellung von außerirdischem Leben mit Sicherheit mit geprägt haben. Dennoch finde ich es bemerkenswert, dass intelligentes Leben außerhalb unseres Planeten in der Vorstellung der meisten zumindest menschenähnlich ist. Auch die Körpergröße ist meist mit der von Menschen vergleichbar. Die Intelligenz ist der des Menschen jedoch meist überlegen. Was erklären würde, warum uns noch nie Außerirdische besucht haben - wobei die auch nicht eben den besten Eindruck von uns haben können, wenn die immer nur Vollidioten entführen.

3) Außerdem werden außerirdische Sprachen häufig sofort problemlos verstanden - und wenn nicht, leistet immer ein Übersetzungscomputer Abhilfe, der selbst mit der Sprache von Wesen zurechtkommt, die noch nie ein Mensch zu Gesicht bekommen hat. Und obgleich wir über die Komplexität von Sprachprogrammen Bescheid wissen, arbeitet er außerdem auch immer vollkommen fehlerfrei. Werden fremde Planeten betreten, ist deren Atmosphäre außerdem stets für Menschen verträglich.

4) Es sei hier noch zu erwähnen, dass das Weltall in Filmen meist aus Sternen von ein paar Metern Durchmesser besteht, die nur ein paar Kilometer voneinander entfernt sind. Dabei weiß man, wenn man sich nur ein wenig mit der Materie befasst, dass auch Sonnensystem-Modelle in Schulbüchern immer komplett ungenau sind, denn Sterne und Planeten schweben nicht nebeneinander aufgefädelt im Weltall, sondern sind Lichtjahre voneinander entfernt und haben Durchmesser von Millionen von Kilometern. Deswegen reicht ein Menschenleben ja auch nicht einmal aus, um unser Sonnensystem zu verlassen. Im übrigen können Raumschiffe auch erstaunlich nahe an Sterne herankommen, ohne je Schaden zu nehmen, obwohl Helligkeit und Strahlung Lebewesen, die auf viel weiter entfernten Planeten leben, Schaden zufügen kann. Interessant, nicht?

5) In älteren Filmen, in denen Computer vorkommen, ist es äußerst leicht, herauszufinden, ob eine Diskette oder CD-Rom von einem Virus befallen ist: Sobald sie vom Laufwerk erkannt wird, erscheint vor rotem Hintergrund über den gesamten Bildschirm das Wort "Virus". Interessant ist auch, dass die Bildschirme immer rattern müssen wie diese alten Anzeigetafeln an den Bahnhöfen, wenn sie einen Text darstellen. Außerdem ist die Leistung des Geräts auch völlig irrelevant - das Bild baut sich immer pixel- bzw. zeilenweise auf, wobei die wichtigsten Worte immer nur Buchstabe für Buchstabe sichtbar werden. Bei der Übertragung von Daten muss der Rechner außerdem immer pfeifende Geräusche von sich geben, und jede Hardware ist mit jedem Computer kompatibel. Fehlermeldungen werden immer mittels roten, den ganzen Bildschirm ausfüllenden Lettern angezeigt, die das Wort ERROR bilden. Eine Maus oder ein adäquates Eingabegerät ist vollkommen unbekannt, jegliche Handlung wird via Tastatur ausgeführt.

6) Interessant ist auch das Phänomen der Getränkeautomaten: Besonders auf Polizeirevieren funktionieren die nämlich nie, oder sie benötigen einen festen Tritt gegen das Gehäuse, damit sie das tun, was man von einem Getränkeautomaten erwartet. Wunderbar parodiert wird das in der österreichischen Fernsehserie Kottan ermittelt, in der der Polizeichef einen aussichtslosen Kampf gegen einen äußerst widerspenstigen Kaffeeautomaten führt. In den letzten fünfzehn Jahren haben die Automaten jedoch harte Konkurrenz durch den bis heute äußerst beliebten "Coffee to go" bekommen, der meist von hübschen jungen Damen in den obligatorischen Kunststoffbechern mit Deckel in einer Haltevorrichtung aus Karton kredenzt wird. Man hat ja genug Zeit, zwischendurch zu Starbucks um die Ecke zu gehen, nicht wahr? Überhaupt wird auf Umweltschutz wohl nicht so viel Wert gelegt, denn auch Einweggeschirr und -besteck aus Plastik ist äußerst beliebt.

7) Auch die billigsten Überwachungskameras haben in Filmen immer gestochen scharfe Qualität. Jedes Detail kann durch einfaches Zoomen vergrößert werden, und die Aufnahmen dieser Kameras beinhalten dramaturgische Schnitte und erstaunlich präzise Kamerabewegungen. Wenn die Person, die gefilmt wird, direkt in die Kamera starrt, zoomt diese automatisch auf ihr Gesicht. Schlösser können mittels eines Drahtstücks, beispielsweise einer Büroklammer, oder einer Scheckkarte spielend leicht geknackt werden - außer die Tür befindet sich in einem brennenden Gebäude, in dem Frauen und/oder Kinder eingeschlossen sind. Alternativ ist es auch möglich, die Tür mit der Schulter zu rammen oder das Schloss mit einem einzigen präzisen Schuss zu öffnen. Alarmsysteme sind bei ihrer Aktivierung immer so laut, dass die Einbrecher sofort gewarnt werden und in Ruhe Reißaus nehmen können.

8) Bei Verfolgungsjagden mit dem Auto in mediterranen Kleinstädten wird immer ein Obstkarren oder ein Obststand, manchmal sogar ein ganzer Obstmarkt zu Fall gebracht. In den USA werden gerne leere Pappkartons, die warum auch immer am Straßenrand gestapelt sind, umgefahren, und wenn ein Hydrant mit dem Auto erwischt wird, hinterlässt er immer eine Wasserfontäne. Bei Verfolgungsjagden schnallt man sich natürlich auch nicht an und bleibt trotzdem fest im Sitz, selbst bei scharfen Kurven, abrupten Bremsungen und sogar Überschlägen - auch schwere Unfälle werden stets ohne allzu gefährliche Verletzungen überstanden. Natürlich wird bei Verfolgungsjagden auch immer gekonnt gedriftet, auch wenn man ohne diesen Special Effect viel schneller vorankommen würde.

9) Natürlich müssen auch die handelnden Personen stets bestimmten Klischees entsprechen: So sind Hacker immer Klischee-Stubenhocker, häufig übergewichtig, nicht selten pickelig und haben oft auch lange, zerzauste Haare, die manchmal im Nacken zusammengebunden werden. Kommt in Horrorfilmen ein Wissenschaftler vor, so ist dieser grundsätzlich immer verrückt und wird meist selbst Opfer eines seiner Experimente. Psychokiller wohnen häufig noch bei ihrer Mutter, die meistens fett ist und ständig schrill kreischt - vom Treiben ihres Kindes hat sie allerdings keinen Schimmer. In diesen Tagen besonders ironisch: Polizeichefs und Richter sind häufig Schwarze, der Richter kann zusätzlich gerne auch weiblich sein. Spielt ein Polizist die Hauptperson, ist er häufig wortkarg oder zynisch und neigt zum Außenseitertum, was daran liegt, dass er in der Vergangenheit ein Familienmitglied - Bruder, Ehefrau oder Kind - bei einem Anschlag oder einem Unfall verloren hat. Meist erklärt er, dass er grundsätzlich ohne Partner arbeitet, bekommt aber gegen seinen Willen einen zugeteilt, den er anfangs nicht ausstehen kann. Asiaten sind grundsätzlich von Geburt an mit allen fernöstlichen Kampfstilen vertraut.

10) Unglückliche Liebe ist in vielen Filmen vorprogrammiert: Das Herumzeigen des Fotos der Geliebten ist beispielsweise der Garant dafür, dass man den Krieg nicht überleben wird. Wenn der Ermittler in einer Krimiserie sich in eine Tatverdächtige verliebt, ist diese meist entweder das Opfer oder gar die Täterin. Auch die Ehefrau eines Polizisten fällt häufig einem Anschlag des Täters zum Opfer - was dem Cop gleich einmal einen Freifahrtsschein für das Ignorieren jeglicher Regeln ausstellt, um Rache zu üben. 

11) Wenn der Partner von der Freundin oder Ehefrau in flagranti erwischt wird, muss er ihr nachlaufen und rufen: "Es ist nicht so, wie du denkst!" Alternativ auch: "Ich werde dir alles erklären!" Wenn eine Frau ihren völlig aufgelösten Freund oder ihr weinendes Kind im Arm hält, muss sie sagen: "Es ist okay..." Die im deutschen Sprachraum völlig unbekannte Methode, einen Streit mit "Sag du es mir" zu beginnen, wurde auch erst durch englischsprachige Filme bekannt: "Warum hast du das gemacht?" - "Ich weiß nicht, sag du es mir!" Wenn eine Frau ihrem (Sex)Partner eröffnet, dass sie schwanger ist, muss dieser ganz verblüfft fragen: "Wie ist denn das passiert?" Da hat wohl jemand im Biologie-Unterricht nicht aufgepasst...

12) In Familienfilmen und -serien ist die Mutter ständig am Kochen, man sieht aber nur selten jemanden essen und wenn, dann sind es nur ein paar Bissen. Der Teller wird auch oft halbvoll wieder abgeräumt. Außerdem gehört in jedes amerikanische Haus besser betuchter Familien ein Flügel, auch wenn keiner der Bewohner Klavier spielt. Orangensaft wird immer in Glaskaraffen und niemals direkt aus dem Tetrapak gereicht. Reiche Darsteller trinken immer braunen, hochprozentigen Alkohol, den sie aus dicken Flaschen mit gläsernem Stöpsel in dickwandige Gläser, sogenannte Tumbler, gießen. Vervollständigt wird das oft durch einen gut sitzenden Anzug oder eine kleidsame Hausjacke, richtig stilecht auch noch durch eine fette Zigarre. Wenn eine wichtige Meldung im Fernsehen kommt, genügt es, das Gerät einzuschalten, um die erwartete Information zu bekommen. Sitzt die Person bereits vor dem eingeschalteten Fernseher, kommt die Meldung immer genau in dem Augenblick, in dem sie sich auf den Bildschirm konzentriert. Als kleines Kind habe ich auch nie verstanden, wie man so viele Kanäle haben kann, bis ich irgendwann einmal kapiert habe, dass es nicht überall nur die beiden ORF-Programme gibt.

13)  In amerikanischen Filmen mit Vater-Sohn-Konflikt ist es außerdem obligatorisch, dass es immer eine Szene geben muss, in der Vater und Sohn im Garten einen Baseball hin- und herschießen, oder sie werfen ein paar Körbe in der Garageneinfahrt des Einfamilienhauses. Ein gestörtes Eltern-Kind-Verhältnis nimmt häufig dadurch seinen Anfang, dass Vater, Mutter oder gar beide Eltern die Schultheateraufführung oder auch einen wichtigen Sportwettkampf ihres Kindes verpassen.

Okay, das war eine weitere Liste äußerst wichtiger Filmklischees. Diesmal habe ich es sogar geschafft, mich bezüglich technischer Logikfehler ein wenig schlau zu machen. Ob und wann ich eine sechste Liste mache, kann ich noch nicht sagen. Auf jeden Fall werden wir aber noch weiterhin unseren Spaß haben!

vousvoyez

Donnerstag, 4. Juni 2020

Wenn ich in die Kirche gehe, fallen sofort alle Kreuze von den Wänden

Oder sie wollen es zumindest und sind zu fest angeschraubt. Wobei ich momentan das Gefühl habe, es sind mehr als nur die Kreuze, die überall von den Wänden fallen. Um es möglichst pathetisch zu formulieren: Die heilige Kuh Amerika wird gerade auf dem Altar der Niedertracht geopfert. Und leider kann ich diese Ironie nicht einmal richtig genießen. Denn die Lage ist ernst - sehr ernst sogar.

Der 11. September 2001 war für diejenigen, die diese Zeit bewusst miterlebt haben, eine Art Zäsur - zuvor hatte man irgendwie das Gefühl, dass die Vereinigten Staaten unantastbar sind, aber was damals geschah, hat uns eines Besseren belehrt. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren die USA so eine Art Sehnsuchtsort für viele junge Leute - und vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg für die ältere Generation der Inbegriff des Sittenverfalls. Ich finde es etwas lustig, dass es inzwischen umgekehrt zu sein scheint. Die Popkultur hat, wie ich bereits in meinem letzten Artikel erläutert habe, nach wie vor einen großen Einfluss. Und doch ist vieles, womit die Bevölkerung sich identifiziert, nicht so, wie es zu sein scheint - etwa die US Constitution, die amerikanische Verfassung, die von reichen weißen Männern geschrieben wurde und nicht, wie allgemein angenommen, allen amerikanischen Bürgern die gleichen Rechte sichern sollte, sondern lediglich dazu gedacht war, die Vorherrschaft dieser reichen weißen Männer zu sichern. Wer mehr dazu erfahren will, dem empfehle ich ein sehr interessantes Video, schön mit Quellen ausgestattet (und wir wissen ja, wie wichtig Quellen sind, nicht wahr?), die es einem ermöglichen, sich noch weiter mit der Thematik zu befassen.

Natürlich wissen all diejenigen, die sich nicht "Kritiker" schimpfen, schon längst, dass die USA aktuell einen Präsidenten haben, dessen Narzissmus ihm eigentlich jede Qualifikation nimmt, so viel Verantwortung zu tragen. Natürlich werden mir jetzt all diejenigen, die ihn für den tollsten Mann der Welt halten, empört widersprechen. Mein Rat: Lasst es einfach. Ich kenne diesen Mist schon zur Genüge. Aber okay, ich bin nicht hier, um endlos darüber zu lamentieren. Ich bin hier, um über eines der größten Probleme in diesem Land zu sprechen - ein Problem, das auch bei uns existiert und von dem ich weiß, dass so manche es nicht mehr hören wollen, aber ehrlich gesagt ist mir das im Moment ziemlich egal. Solange es existiert, muss darüber geredet werden, ob wir wollen oder nicht.

Ja, wir müssen uns wieder mal über Rassismus unterhalten - und der Grund liegt auf der Hand: Letzte Woche ist ein weiterer Mensch diesem zum Opfer gefallen. Ein weiteres Leben wurde ausgelöscht, weil derjenige, dem es gehörte, die falsche Hautfarbe hatte. Und diesmal hat die ganze Welt es gesehen - und wer versucht, diese Tatsache auch nur irgendwie zu relativieren, der lügt sich in die eigene Tasche. Und es spielt auch überhaupt keine Rolle, ob George Floyd etwas getan haben soll, was zu dieser Festnahme führte - so etwas ist in keinem Fall zu rechtfertigen. Und selbst wenn es die zweite Autopsie nicht gegeben hätte - wer sich minutenlang auf den Hals eines anderen Menschen kniet, nimmt dessen Tod zumindest billigend in Kauf. Offen gestanden bin ich nicht die einzige, die schon längere Zeit damit gerechnet hat, dass die Situation irgendwann einmal eskalieren wird. Schon zu Beginn der Corona-Krise hatte ich Gespräche darüber, dass diese die USA mit Sicherheit besonders hart treffen wird, nachdem deren ach so toller Präsident seiner Bevölkerung vor nicht allzu langer Zeit die Möglichkeit auf kostenlose medizinische Versorgung genommen hat. Und das hat sich auch ziemlich bald bestätigt. Der Mord an einem weiteren US-Bürger Schwarzer Hautfarbe durch die Hand eines Polizisten war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Aber er zeigt eben auch, dass ein Feiertag für Martin Luther King nicht ausreicht, um den Rassismus gegen die Schwarze US-Bevölkerung aus der Welt zu schaffen.

Bereits die Ankunft von Menschen mit Schwarzer Hautfarbe auf dem amerikanischen Kontinent war ein Akt der Gewalt, denn bekanntlich besteht der größte Teil der heute lebenden Afroamerikaner aus Nachfahren afrikanischer Sklaven, die vom 17. bis zum 19. Jahrhundert dorthin verschleppt wurden, um auf den Plantagen der damaligen europäischen Kolonien zu arbeiten. Das gesetzliche Verbot der Sklaverei, das zuerst in den Nordstaaten der USA und durch den Sezessionskrieg auch in den Südstaaten erfolgte, beseitigte jedoch weder den Rassismus noch die Benachteiligung von Afroamerikanern - die heute so genannten Jim-Crow-Gesetze legitimierten die Racial Segregation, die Rassentrennung, die natürlich nur für Weiße von Vorteil war. Im Zuge der "Großen Migration", der Abwanderung Schwarzer Amerikaner aus den ländlichen Südstaaten in die Industriestädte des Nordens zu Beginn des 20. Jahrhunderts, formierte sich das Civil Rights Movement, die Bürgerechtsbewegung, die die Gleichberechtigung von Afroamerikanern forderte und durch den Bus-Boykott von Montgomery 1955/56, die Folge der Festnahme von Rosa Parks, einer Schwarzen, die sich geweigert hatte, ihren Sitzplatz im Bus einem Weißen zu überlassen, internationale Aufmerksamkeit erlangte und so in den fünfziger und sechziger Jahre zu ihrem Höhepunkt kam. Während deren Ziele unter dem Baptistenpfarrer Martin Luther King jr. noch durch gewaltfreien Widerstand und zivilen Ungehorsam durchgesetzt wurden, führte die zunehmende Gewalt gegen Bürgerrechtler ab Mitte der Sechziger und die Ermordung Kings 1968 allmählich zu einer Radikalisierung und zur Erstarkung der Black-Power-Bewegung unter Stokley Carmichael, Malcolm X und der Black Panther Party, die wesentlich gewaltbereiter war. Die Bürgerrechtsbewegung führte zwar zu einem Wachstum der Schwarzen Mittelschicht, verbesserte die Lebensbedingungen der armen Mehrheit jedoch nicht. Daran konnte auch der erste Schwarze US-Präsident Barack Obama nichts ändern. Der Tod von George Floyd war nicht der erste Mord an einem Afroamerikaner durch die Staatsgewalt. Und es war auch nicht das erste Mal, dass die Anklage der Mörder erst nach zahlreichen Protesten und auch dann sehr zögerlich erfolgte. Und ich möchte eines klar stellen: Ich heiße die gewalttätigen Ausschreitungen nicht gut. Ich möchte mich in aller Form von jenen distanzieren, die den Namen George Floyd dazu missbrauchen, auf den Straßen zu randalieren und das Chaos auszunutzen, um zu plündern und zu brandschatzen. Und ich erkenne an, dass Polizisten in einem Land, in dem praktisch jeder mit einer Schusswaffe herumlaufen darf, manchmal härtere Geschütze auffahren müssen - das gilt aber nicht für jene, die auf Journalisten, friedliche Demonstranten oder gar unbeteiligte Passanten schießen. Ebenso erkenne ich auch an, dass es auf der anderen Seite etliche Cops gibt, die sich auf die Seite der Demonstranten gestellt haben und ebenfalls ein Ende der Gewalt gegen Schwarze fordern. Das Ding ist halt, wie schon gesagt, folgendes: Es war klar, dass die Situation irgendwann einmal eskaliert, zumal all die friedlichen Proteste der Vergangenheit gegen Waffengewalt absolut nichts gebracht haben. Zumal dieses Land aktuell einen Präsidenten hat, der die Situation immer nur noch schlimmer macht, der die USA seit seinem Amtseintritt immer mehr spaltet und seine eigene Bevölkerung jetzt sogar mit Waffengewalt bedroht, ein Vorgehen, das schon diktatorische Züge annimmt. Und während Schwarze nach wie vor unter Vorurteilen leiden, die teilweise völlig absurd sind, während viele von ihnen größtenteils wegen Lappalien oder gar unschuldig im Knast landen, während People of Colour sich nach wie vor mit schlechterer Bildung, schlechterer medizinischer Versorgung, schlechteren Jobs und einem niedrigeren Einkommen begnügen müssen, empört man sich hierzulande über brennende Autos und eingeschlagene Fensterscheiben. Und mittlerweile sprechen die üblichen Verdächtigen davon, dass Video sei von "der Antifa" "inszeniert" worden.

Nun hat bei uns Weißen nicht nur in den USA, sondern auch hier in Europa und in anderen Teilen der Welt spätestens seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts formal ein Umdenken stattgefunden - die allermeisten von uns wissen, dass Rassismus nichts Gutes ist, und kaum jemand möchte ein Rassist sein. Dennoch sind rassistische Stereotype nicht überwunden, auch wenn sie viele meiner weißen Mitmenschen gar nicht verstehen oder für übertrieben halten - viel schlimmer finde ich aber jene, die versuchen, das Problem absichtlich klein zu reden. Das sind dann meist die, die behaupten, Rassismus existiere nur, wenn man darüber rede, oder die einem Rassismus vorwerfen, wenn man über Rassismus spricht, denn menschliche Rassen existieren ja nicht. Nun, es stimmt, dass die pseudowissenschaftliche Rassentheorie mit ihrer hierarchischen Zuordnung, der zufolge die weiße Rasse ganz oben und die schwarze ganz unten rangiere und die zahlreiche entsetzliche Grausamkeiten gegen Schwarze Menschen legitimierte, längst überholt ist, da die äußeren phänotypischen Merkmale von nur sehr wenigen Genen verursacht werden und die Hautfarbe ohnehin einem sehr hohen Selektionsdruck unterliegt. Doch dass es innerhalb bestimmter ideologischen Tendenzen immer noch üblich ist, die Wertigkeit eines Menschen an der Hautfarbe zu messen, kann man damit nicht wegerklären. Rassismus zu benennen bedeutet also nicht, Menschen von sich aus verschiedenen "Rassen" zuzuordnen, sondern eine Ideologie zu benennen, die genau dies tut. Natürlich meinen nicht alle Menschen, die versichern, dass für sie nicht die Hautfarbe, sondern der Mensch zähle, es böse - im Gegenteil, sie wollen versichern, dass sie ihr Gegenüber unabhängig von seiner ethnischen Zugehörigkeit respektieren. Das Problem ist allerdings - solche Argumentationen beseitigen Rassismus nicht, sondern sie verhindern die Auseinandersetzung mit diesem. Ähnlich ist es, den Hastag BlackLivesMatter zu okkupieren, der Solidarität mit Opfern von Rassismus ausdrücken soll, und mit AllLivesMatter zu beantworten. Vorgeblich, um zu versichern, dass jeder Mensch unabhängig von seiner Hautfarbe wichtig ist. In Wirklichkeit lenkt man jedoch nur von dem ab, was hier passiert ist. Noch schlimmer, man versucht, diejenigen, die das Problem beim Namen nennen, mundtot zu machen, ob mit Absicht oder nicht. Man kann ja auch nicht auf einer Krebs-Tagung herumlaufen und erklären, dass es auch noch andere Krankheiten gibt. Wenn ein Haus brennt, bespritzt die Feuerwehr doch auch nicht alle Häuser im Viertel, weil alle Häuser zählen. Wer auf diese Weise relativiert, spielt nur den Rassisten in die Hände - denn deren Intention ist es, alle Strukturen, die unterdrücken, für diejenigen unsichtbar zu machen, die davon nicht betroffen sind. Nicht-weiße Menschen können sich aber nicht aussuchen, ob ihre Hautfarbe zählt oder nicht - durch Kategorisierung von außen sind sie viel mehr als wir dazu genötigt, sich mit ihrer ethnischen Herkunft auseinanderzusetzen. Wenn wir Ungerechtigkeiten nicht zulassen wollen, müssen wir sie sichtbar machen.

Und jetzt noch mal was in eigener Sache: Mir wird nicht selten unterstellt, mein Interesse daran, gegen Rassismus zu kämpfen, hänge ausschließlich damit zusammen, dass mein Freund aus Afrika stammt. Nun, ich habe mich schon mit Rassismus auseinandergesetzt, als ich meinen Freund noch gar nicht kannte - ich habe schon als Zehnjährige meine Eltern darauf hingewiesen, dass Schwarze das N-Wort nicht schätzen und man es sich lieber abgewöhnen sollte, wenn man sie mit Respekt behandeln will. Aber ich gebe durchaus zu, dass ich nicht in einer Gesellschaft leben will, die den Mann, den ich liebe, aufgrund seines Äußeren schlechter behandelt als mich und ja, das passiert in manchen Bereichen durchaus. Ich werde öfter als andere mit seinem Aussehen und seiner Herkunft konfrontiert, als wenn er ein weißer Europäer wäre, und das ist nicht immer so angenehm. Weil ich in der einen oder anderen Form immer das Gefühl habe, dass meine Beziehung nicht der "Norm" entspricht, obwohl sie eigentlich gar nicht so anders ist als die anderer Paare.

Rassismus fängt nicht da an, wo ein Mensch aufgrund seiner Hautfarbe von einem anderen Menschen getötet wird. Rassismus fängt im Kleinen an und ist uns häufig gar nicht bewusst - wenn wir der Herkunft eines anderen zu viel Bedeutung beimessen, weil er anders aussieht. Wenn wir einem Menschen mit anderer Hautfarbe vorschreiben wollen, wann er sich beleidigt zu fühlen hat und wann nicht. Wenn wir nicht anerkennen wollen, dass es im Kampf gegen Rassismus nicht um uns geht. Wenn wir glauben, die Sexualisierung von Personen anderer ethnischer Herkunft sei ein Kompliment. Wenn wir an veralteten Strukturen festhalten, weil sie ja früher auch niemanden gestört haben. Wir sind erwachsen genug, um anzuerkennen, dass jeder Fehler macht - es ist nicht schlimm, wenn ihr euch in dem, was ich zuvor aufgezählt habe, wiederfindet, aber es ist schlimm, wenn ihr nichts daraus lernen wollt.

Und es ist wichtig, dass ihr eines begreift: Es geht nicht um Schuld, es geht um Verantwortung. Was passiert ist, kann man nicht mehr ändern - aber man kann dazu beitragen, dass die Zukunft ein kleines bisschen besser wird. Bon voyage!

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