Dienstag, 27. Oktober 2020

In Deutschland gibt es keine Revolution, weil man dazu den Rasen betreten müsste

In Österreich wiederum liegt es eher daran, dass wir uns aus Verpflichtungen immer ganz gerne herauslavieren. Wo bei Deutschen Ehrlichkeit und Direktheit gefragt ist, reicht es bei uns nur zu einem "Des wird si scho ausgehen", "Des schau ma dann, wenn ma soweit sind" oder "Nur kaane Wölln" (Übersetzung: "Das wird schon klappen"; "Das werden wir sehen, wenn wir soweit sind"; "Nur keine Wellen" bzw. "Nur keine Aufregung"). Wobei wir momentan sehr wohl eine Revolution haben - auch wenn es eher eine Möchtegern-Revolution ist, denn den meisten ist leider nicht klar, wogegen sie eigentlich revoltieren. Da ich dieses Thema allerdings, zugegebenermaßen, ein bisschen leid bin, will ich mich heute einem gänzlich anderen Thema widmen. Einem, über das in meinem Dunstkreis gerade letzte Woche wieder einmal sehr angeregt diskutiert wurde und eines, das uns Österreicher und Deutsche mehr oder weniger verbindet.

Ich habe ja schon seit längerem immer wieder unser veraltetes Schulsystem kritisiert - und war da bei weitem nicht die einzige. Nach wie vor scheitern Reformversuche jedoch vor allem an der Bürokratie, die uns auf der einen Seite natürlich viel Sicherheit gibt, auf der anderen Seite aber auch ein Hemmschuh für den Fortschritt ist. Daran konnte - entgegen aller Hoffnungen - auch der bisherige Verlauf der Corona-Krise nichts ändern. Nach wie vor dümpeln wir in einem Unterrichtssystem herum, das vor etwa zweihundert Jahren festgesetzt und seither nur geringfügig verändert wurde - und das, entgegen aller Behauptungen, die Schüler nur unzureichend auf die Welt jenseits der Schulmauern vorbereitet. Ein gutes Beispiel dafür ist in etwa die Digitalisierung, die schon zu meiner Schulzeit höchst mangelhaft war, die sich aber, wie ich neulich von meiner ältesten Nichte erfahren musste, seither kaum verbessert hat. Das ist nicht nur für die Schüler, sondern auch für engagierte, motivierte Lehrer bisweilen frustrierend. Ich möchte mich heute aber speziell einem Unterrichtsfach widmen, an dem sich die Geister wohl besonders scheiden - und das für mich und auch viele andere eine sehr schmerzhafte Erfahrung war. Ich möchte über den Schulsport sprechen.

Die Idee hinter diesem Schulfach ist ja grundsätzlich nicht verkehrt: Schüler verbringen den Großteil ihrer Zeit mit Sitzen, also ist es naheliegend, einen Ausgleich dazu anzubieten. Ganz abgesehen davon wusste man ja schon in der Antike, dass Bewegung die Gehirnaktivität fördert. Gerade in der heutigen Zeit, wo viele Kinder und Jugendliche sich auch in ihrer Freizeit nicht mehr so viel und gern bewegen und nicht selten auch schlecht ernähren, wird in der ewigen Schuldebatte gerne betont, wie wichtig der Sportunterricht doch sei, da dieses Fach Schüler dazu motiviere, etwas für ihren Körper zu tun und fit zu bleiben. Gerade für unsportliche Kinder und Jugendliche wäre der Turnunterricht doch enorm wichtig, denn diese würden davon am meisten profitieren.

Und ab diesem Punkt beginnt die Sache, an Realitätsbezug zu verlieren. Denn unsportliche Schüler profitieren überhaupt nicht von den Turnstunden - und das kann ich euch, meine lieben Leser und Innen, aus eigener Erfahrung versichern. Für junge Menschen, deren körperliche Leistungsfähigkeit nicht dem oberen Durchschnitt entspricht, hat der Sportunterricht absolut keinen Mehrwert - im Gegenteil: In den acht bis zwölf oder dreizehn Schuljahren wird speziell diesen Kindern und Jugendlichen jegliche Freude an Bewegung gründlich ausgetrieben. Das Resultat: Die meisten wollen nach Beendigung der Schullaufbahn nie wieder auch nur das Geringste mit Sport zu tun haben. Ich selbst habe insgesamt zehn Jahre gebraucht, bis ich mich dazu überwinden konnte, mehr für meinen Körper zu tun, als im Sommer ein paar Bahnen durch das Schwimmbecken zu ziehen und mir in Discos die Seele aus dem Leib zu tanzen. Zu sehr war die Erinnerung an Sport für mich mit Demütigung und Herabsetzung verbunden.

Sportlichkeit wird ja bekanntlich mit ganz besonders vielen positiven Eigenschaften verknüpft. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum Unsportlichkeit im Gegenzug dazu so negativ besetzt ist. Das sieht man ja schon in Serien und Filmen für Kinder und Jugendliche - die "Guten" sind immer sportlich und fit, während die "Bösen" sich nie bewegen, dafür aber Zigaretten rauchen und markige Sprüche klopfen. Wer unsportlich ist, gerät schnell in den Verdacht, faul und undiszipliniert zu sein. Dass auch viele Profisportler den Verlockungen von Drogen, Partys und Sex auf Dauer nicht widerstehen können, wird gerne ausgeblendet - und nimmt man es einmal zur Kenntnis, werden diese wie Abtrünnige behandelt, viel mehr noch als etwa Musiker, denn bei dene das ja sozusagen erwartet wird. Was den Schulsport betrifft, so werden hier jedoch viele dieser positiven Eigenschaften, die so gerne hochgehalten werden, überhaupt nicht berücksichtigt - etwa Fairness und Teamgeist. Stattdessen werden negative Eigenschaften wie Konkurrenzdruck, Herabwürdigung Schwächerer und eine widerliche Ellbogenmentalität zutage gefördert. Der deutsche und österreichische Schulsport hat immer noch ein bisschen was von dem Fanatismus der Turnvater-Jahn-Mentalität: Die Guten werden gelobt, die Schlechten gedemütigt. Eine Methode, die in den meisten Bereichen als veraltet und kontraproduktiv gilt - aber wenn es um Sport geht, scheint sie immer noch legitim zu sein. Vielleicht, weil diejenigen, die diese Haltung pflegen, ein schlechtes Gedächtnis haben - oder weil sie immer zu den Guten gehört haben und sich deswegen nicht vorstellen können, wie es ist, auf der anderen Seite zu stehen.

Ja, ich weiß genau, dass es nicht leicht ist, das Versagen anderer nachzuvollziehen, wenn man etwas selbst sehr gut kann. Ich kann auch nicht nachvollziehen, dass jemand anders nach dem tausendsten Mal Erklären noch immer nicht den Unterschied zwischen Dass und Das versteht - aber es ist eben so, und ich muss es akzeptieren, weil diejenigen, die diese Probleme haben, sie sich nicht ausgesucht haben. Es gibt Menschen, die können besonders gut malen und zeichnen, während andere mit großer Mühe ein paar krakelige Striche zu Papier bringen; es gibt Menschen, die in Eigenregie ein Haus renovieren, während andere sich mit dem Hammer die Finger blau schlagen, wenn sie nur ein Bild an die Wand hängen wollen; es gibt Menschen, die mit Leichtigkeit Fremdsprachen lernen, während diese für andere stets ein Buch mit sieben Siegeln bleiben; und es gibt Menschen, die mühelos sportliche Bestleistungen erbringen, während andere schon froh sind, wenn sie den Ball nicht dauernd fallenlassen. Und ihr könnt mir glauben - ich habe mir nicht ausgesucht, zu Letzteren zu gehören. Ich habe immer die besonders Talentierten beneidet, weil ich selbst nie so war. Ich stimme zu, dass jeder dazu imstande ist, seine körperlichen Leistungen mit ein wenig Ausdauer und Disziplin zu verbessern - aber man kann nicht Kinder und Jugendliche, die sich in ihrer Entwicklung und körperlichen Konstitution häufig stark voneinander unterscheiden, zu Leistungen zwingen, zu denen sie häufig gar nicht imstande sind. Vor allem aber können gerade Turnlehrer, die ihren Beruf mit Sicherheit nicht ihrer Abneigung gegen Sport zu verdanken haben, ihre eigenen körperlichen Fähigkeiten nicht unterschiedslos bei all ihren Schülern voraussetzen.

Ja, ich gehörte zu den Schlechtesten in Turnen. Ich gebe es offen zu. Und nein, ich war nicht dick, hatte keine Behinderung, ernährte mich nicht auffallend schlecht und wuchs auch nicht in einer Familie auf, die ständig vor dem Fernseher hockte und Fast Food fraß. Wir hatten hinter dem Haus einen Hof und einen großen Garten, in dem ich mit meinen Cousins, die nebenan wohnten, fast täglich herumtobte, meine Eltern fuhren häufig mit mir raus aufs Land, wir machten mindestens zweimal jährlich durchaus aktive Urlaube, wir gingen wandern und eislaufen, ich lernte Schwimmen, Fahrrad und Ski fahren. Ich war nie ein großes Talent im Sport - alle anderen waren immer viel besser als ich -, aber ich tat, was ich konnte, und war meistens auch mit Begeisterung dabei. So lange, bis ich in die Schule kam. Von da an begann ich Sport mit jedem Jahr mehr und mehr zu hassen.

Ich war ein schüchternes, zurückhaltendes Kind, das nicht so leicht Anschluss an Gleichaltrige fand. Obwohl mir, wie schon gesagt, Mädchenkram zuwider war, musste ich fünf Jahre lang in eine reine Mädchenschule gehen, wo man mich verspottete, weil ich kurze Haare hatte und mich weigerte, Röcke und Kleider zu tragen. Im Gymnasium saß ich dann mehrere Jahre alleine, weil ich es nicht schaffte, in eine der Cliquen zu kommen, die sich im ersten Jahr gebildet hatten und die im zweiten Jahr, als ich in die Schule kam, nicht bereit waren, sich für eine Neue zu öffnen. Der Turnunterricht war eine weitere Möglichkeit, mir zu zeigen, dass ich so, wie ich bin, nicht passe, dass ich nicht dazugehöre, dass mein Körper nichts ist als ein vollkommen nutzloser Zellhaufen, dass ich nichts weiter bin als ein Stück Dreck, das hier eigentlich gar nichts verloren hat. Ich war nicht behindert, aber häufig fühlte ich mich so. Ich konnte nicht so schnell laufen wie die anderen, ich konnte nicht mit dem Ball umgehen, ich konnte nicht grazil auf Holmen und Balken herumturnen, leichtfüßig über Böcke springen, wie ein Affe Seile und Stangen hinaufklettern, Räder drehen und geschraubte Saltos vollführen. Vor allem aber hatte ich oft Angst - beispielsweise habe ich nie diesen Felgaufschwung geschafft, weil ich das eine Mal, als ich Hilfe hatte, Panik bekam, sobald ich mit dem Kopf nach unten an der Stange hing. Das prägendste Erlebnis für mich und all jene, die bei Mannschaftssportarten eher untalentiert sind, waren aber natürlich die Mannschaftswahlen: Die Besten und Motiviertesten durften Teams zusammenstellen - nur damit ich am Ende in irgendeine Gruppe gestoßen wurde, die es als Strafe betrachtete, mich mitschleppen zu müssen. Aber wenn ich mir eine Ausrede einfallen ließ, um mich dem entziehen zu können, war das natürlich auch wieder nicht recht - alle anderen müssen auch turnen, warum soll DIE schon wieder eine Extrawurst bekommen? Und so verbrachte ich die Stunden, in denen Völkerball, Volleyball, Basketball oder Fußball gespielt wurde, eher damit, den guten Spielern möglichst nicht im Weg zu sein, um nicht auch noch deren Unmut auf mich zu ziehen - trotzdem war ich immer schuld, wenn die Mannschaft, der ich zugeteilt war, nicht gewann. Außer in jenen Jahren, in denen die beste Basketballerin der Schule in unserer Klasse war - sie ließ mich immer in ihrer Mannschaft mitspielen, und da sie sowieso immer die meisten Körbe warf, konnte ich mich darauf beschränken, mich möglichst unauffällig zu verhalten.

Im Gymnasium fragte ich meine Turnlehrerin einmal, warum ich unbedingt Ball spielen lernen muss, wenn ich das doch sowieso gar nicht können will und nach Ende der Schulzeit mit Sicherheit nie wieder einen Ball in die Hand nehmen werde. Sie erwiderte, dass ich ja auch in anderen Schulfächern Sachen lernen muss, die mir keinen Spaß machen und die ich in meinem späteren Leben möglicherweise nicht brauchen werde. Mit öden Kurvendiskussionen und sinnlosen Noten-Dreisätzen kam ich allerdings weitaus besser zurecht - vielleicht deshalb, weil man sich von seinem Versagen da noch irgendwie distanzieren kann. Im Turnunterricht ist es jedoch dein Körper, der bewertet wird - und den kannst du nach einem Misserfolg nicht einfach abstreifen und in eine Ecke schmeißen. Zudem ist man gerade in der Pubertät in einem Alter, in dem man ständig seinen Körper bewertet und in Frage stellt - das wird nicht unbedingt besser, wenn man ständig mit seinem sportlichen Unvermögen konfrontiert wird. Das einzige, was uns Österreichern erspart blieb, worüber ich auch unendlich dankbar bin, sind die Bundesjugendspiele - ein Wettbewerb, in dem ich gleich vor Publikum hätte zeigen können, wie unfähig und zurückgeblieben ich war, hurra! Ich bin wirklich froh, dass ich wenigstens das nicht machen musste. Mein Partner hatte es da natürlich bedeutend leichter - als Fußballstar schon im Teenageralter wurde er nicht gezwungen, auf Geräten herumzueiern, solange er nur mit dem Ball alle in Erstaunen versetzte.

Als meine Schulzeit beendet war, verweigerte ich jahrelang jede sportliche Betätigung - zu sehr war Sport für mich mit Angst und Demütigung verbunden, zu wenig traute ich mir in der Hinsicht zu. Wozu mich für etwas anstrengen, wenn meine Bemühungen ohnehin nicht anerkannt werden? Wozu Bewegungen vollführen, bei denen ich mich sowieso nur blamiere? Wozu noch einmal diese lächerlichen Fetzen anziehen, die sich "Turnkleidung" nennen? Na ja - wenn man jung ist, verzeiht einem der Körper noch viel. Aber an meinem älteren Bruder sah ich dann, dass Mangel an Bewegung doch nicht wirklich das Gelbe vom Ei ist - denn der Mensch ist nun mal nicht dazu geschaffen, tagaus, tagein vorm Computer zu hocken oder sich auf Partys wegzuschießen. Als ich das entdeckte, war ich Ende Zwanzig - und im Rahmen einer Therapie lernte ich Sport schließlich völlig neu kennen. Auf einmal ging es nicht mehr darum, besser als alle anderen zu sein - es ging nur noch um den eigenen Körper und wie man diesen durch Bewegung unterstützen kann. Und ich entdeckte: Auch Sport kann Spaß machen! Und nun mache ich schon seit Jahren kleinere Bewegungseinheiten - ganz freiwillig. Und ich mache es gern - weil ich weiß, warum ich es mache. Und weil keiner mich fertigmacht, weil ich nicht den Ehrgeiz habe, die Übersportlerin zu werden. Und weil meine Bemühungen zählen und nicht, dass ich etwas schaffe, was ich nun mal nicht schaffen kann.

Die Frage ist natürlich, wie man solche Probleme lösen kann. Denn obgleich ich inzwischen weiß, dass ich mit meiner Abneigung gegen Schulsport bei weitem nicht allein dastehe, scheine ich doch zu einer Minderheit zu gehören. Für die meisten Schüler - und das war auch schon zu meiner Schulzeit so - kann es offenbar gar nicht genug Turnstunden geben. Und für viele, die ansonsten nicht so gut in der Schule sind, ist es eine der wenigen Möglichkeiten, zu einer guten Note zu kommen. Trotzdem finde ich, gehört gerade der Sportunterricht dringend reformiert - immerhin wird ja ständig darüber geklagt, dass die jüngere Generation immer fetter wird und nur noch vor dem Smartphone und der Spielkonsole versauert. Dennoch ist mir im Laufe der Zeit, die ich mit Leuten sprach, die ebenfalls ein Schulsport-Trauma haben, eines aufgefallen: Nicht jeder, der den Sportunterricht gehasst hat, fiel in die Kategorie "dickes Kind, das sich nicht gern bewegt". Viele waren nicht einmal wirklich unsportlich - sie konnten nur nicht das leisten, was im Turnunterricht verlangt wurde. Und vielen geht es wie mir - sie können mit dem Leistungsgedanken nichts anfangen, sondern wollen einfach Spaß haben, ohne den Anspruch, unbedingt der/die Beste zu sein. Und da beginnt es ja schon: Selbst wenn man einen Sport ausübt, der einem liegt, werden häufig nur diejenigen gefördert, denen ohnehin alles leicht fällt, während die anderen kaum beachtet werden. Vor allem aber sollte das Angebot an Sportarten ein wenig breiter ausfallen - immerhin heißt es ja, der Sportunterricht soll Schüler dazu anregen, sich mehr zu bewegen, und wie soll das funktionieren, wenn immer nur dasselbe gemacht wird? Ich könnte mir vorstellen, dass es in den höheren Klassen auch reicht, wenn man sich für eine Sportart entscheidet. Das Wichtigste ist jedoch, wie ich finde, dies: Man sollte endlich einmal anerkennen, dass unsere Gesellschaft von Vielfalt lebt und nicht von Uniformität. Und dass Kinder keine unbeschriebenen Blätter sind, die man alle zu denselben sportlichen Höchstleistungen zwingen kann, sondern dass wir alle mit jener Individualität, die uns als Erwachsene auszeichnet, bereits geboren werden. Bon voyage!

vousvoyez

Freitag, 16. Oktober 2020

Delphine sind schwule Haie

(c) vousvoyez
Die Idee hat schon was für sich - ist aber natürlich schon deswegen unsinnig, weil Haie Fische sind und Delphine Säugetiere. Soweit ich jedoch weiß, kommt Homosexualität zumindest bei Delphinen tatsächlich vor. Was selbstverständlich die These widerlegt, Homosexualität sei "wider der Natur", aber darüber hab ich ja bereits einen anderen Artikel geschrieben. Heute möchte ich mich einem Thema widmen, das nur allzu oft - absichtlich und auch unabsichtlich - missverstanden wird, aber immer wieder eine wichtige Rolle spielt. Ich möchte heute einmal über Zensur und damit verwandte Themen sprechen.

Wäre also zunächst einmal die Frage zu klären: Was ist überhaupt Zensur? Nun, laut Definition bezeichnet Zensur eine in der Regel staatlich verordnete Kontrolle von Information, und zwar sowohl im medialen als auch im privaten Bereich, mit dem Ziel, die Verbreitung unerwünschte Inhalte zu unterdrücken bzw. zu verhindern. Betroffen davon sind etwa Nachrichten, Inhalte künstlerischer Werke oder auch Meinungsäußerungen von Einzelpersonen. Was bedeutet das konkret? Man kann sagen, dass Zensur dazu dient, zu verhindern, dass Informationen, die etwa als für Staat oder Institution schädigend eingestuft werden, in Umlauf geraten. Das muss nicht zwangsläufig anti-demokratisch sein - es kann im Gegenteil auch dazu dienen, den Zugang zu anti-demokratischen Inhalten zu erschweren bzw. zu verhindern. Aber natürlich kann Zensur auch missbräuchlich angewendet werden - etwa, um herrschende Machtstrukturen zu zementieren. Deswegen war und ist Zensur in diktatorischen Regimen auch essenziell. Aus dem Dritten Reich ist uns die Bücherverbrennung geläufig, der die Werke jüdischer oder missliebiger Autoren zum Opfer fielen, während in China die allermeisten international gebräuchlichen IP-Adressen, etwa die von YouTube, Facebook oder Google, gesperrt sind - was sogar gegen die eigene Verfassung des Landes verstößt. Bei uns in Österreich - ebenso wie bei den meisten unserer Nachbarn - ist staatliche Zensur nicht erlaubt, da diese gegen die Grundrechte verstößt.

Nun ist es bekanntlich so, dass häufig "Zensur" gekreischt wird, wenn bestimmte Inhalte auf bestimmten medialen Plattformen nicht geduldet werden. Beliebt ist dieses Vorgehen vor allem bei meinen speziellen Freunden, den Rechtsgestrickten und Verschwörungsideologen. Der Fehler dabei ist, dass YouTube und Facebook nicht "der Staat" sind, sondern private Plattformen, die ihre eigenen Richtlinien haben, die sich vom Gesetz der einzelnen Länder, in denen die User leben, durchaus unterscheiden können. Ebenso verhält es sich beispielsweise mit Interessensgruppen auf Social-Media-Plattformen - die Entscheidung, was hier erlaubt ist und was nicht, obliegt allein den Verantwortlichen, sofern sie mit den Richtlinien der Plattform übereinstimmt. Natürlich kann man das kritisieren und darüber diskutieren - aber im Zweifelsfall steht es mir immer frei, die Gruppe zu verlassen und eine andere zu suchen, die meinen Interessen eher entspricht, oder gar eine zu gründen, die ich nach meinen eigenen Vorstellungen gestalten kann. Ebenso gestaltet es sich mit diesem Blog hier - dies sind die Vereinigten Staaten von vousvoyez. Ich bin die Kaiserin, ich bin die Präsidentin, ich bin die Königin (frei nach Rush Hour). Das als "Zensur" zu bezeichnen, ist genauso unsinnig, wie von "Deportation" zu reden, wenn ich beispielsweise jemanden aus meiner Wohnung werfe, weil mir sein Benehmen nicht gefällt.

Womit wir bei einem ganz wichtigen Grundrecht wären, über das aktuell ja wieder heiß diskutiert wird - nämlich der Meinungsfreiheit. Nun ist es ja so, dass Personen wie etwa jüngst der *räusper* "Musiker" Michael Wendler, die sich öffentlich zu Verschwörungsideologien bekennen, ihre Karriere und ihren sozialen Anschluss riskieren. Andererseits hindert sie dies ja nicht daran, ihre Meinung zu äußern, ohne dafür gesetzlich belangt zu werden - es ist halt so, dass Meinungsfreiheit andere nicht dazu verpflichtet, deiner Meinung eine Bühne zu bieten, seien es nun Internetplattformen oder traditionelle Medien wie etwa das Fernsehen. Genauso wenig verbietet deine Meinungsfreiheit anderen, deiner Meinung zu widersprechen - sie gilt für alle und nicht nur für dich selbst. Und sie ist auch nicht absolut grenzenlos - weder steht sie über den anderen Grundrechten, noch über der Meinungsfreiheit aller anderen. Und es gibt Inhalte, die nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt sind - beispielsweise die bewusste Verbreitung von Falschinformationen und Falschbehauptungen. Das Problem ist, dass Tatsachen und Fakten häufig als "Meinung" missverstanden bzw. auf dieselbe Ebene heruntergebrochen werden. Aber wenn das so wäre, dürftet ihr mir nicht sagen, dass eins und eins zwei ist, weil ich der Meinung bin, es sei fünf. Im übrigen zeigen gerade Rechtsgestrickte und Verschwörungsideologen, wie ernst das Ding mit der Meinungsfreiheit in unseren Breiten genommen wird - auch wenn wir durch die sozialen Netzwerke und Algorithmen, wie ich zugeben muss, immer mehr Schwierigkeiten damit haben, Meinungsvielfalt auszuhalten.

Zur Meinungsfreiheit gehört natürlich auch die künstlerische Freiheit, wobei diese ja häufig auch durch den Jugendschutz geregelt ist. Wobei vor allem die Freigabe von Filmen bei uns in Österreich weitaus lockerer gehandhabt wird als etwa bei unserem Nachbarn Deutschland. Für die Altersfreigabe von Filmen ist bei uns die JMK (Jugendmedienkommission) des Bundesministeriums für Bildung zuständig - wobei die Regelungen in einzelnen Bundesländern variieren können. Dazu gibt es eine Positivkennzeichnung für Filme, die speziell für Kinder und Jugendliche geeignet ist. Allgemein verfährt die JMK jedoch meist weniger streng als die deutsche FSK (Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft), auch wenn bei analogen Medienträgern, also Videokassetten, DVDs und Blu-Rays, häufig die FSK-Empfehlung übernommen wird. Weder in Österreich noch in Deutschland gibt es eine explizite Verpflichtung zur Kennzeichnung von Medienträgern - allerdings gilt in Deutschland jeder nicht von der FSK überprüfte Film als nicht jugendfrei, selbst wenn es sich dabei um einen handelt, dessen Darstellung von Sex und Gewalt so explizit ist wie etwa in Wendy. In Deutschland gibt es außerdem noch den berüchtigten Index, die Liste der jugendgefährdeten Medien, die alles, was auf analogen Medien erhältlich ist und als "jugendgefährdend" eingestuft wird, umfasst. Medien, die auf dem Index landen, dürfen nicht öffentlich beworben oder verkauft werden, während der Verkauf von beschlagnahmten Medien auch für Privatpersonen strafbar ist. Doch nicht einmal das kann man als "Zensur" bezeichnen - denn der Besitz dieser Medien ist nur in Ausnahmefällen strafbar, etwa, wenn es sich um Kinderpornographie handelt. Da es den Index in Österreich nicht gibt, ist unser Land natürlich vor allem für deutsche Horrorfilm-Fans ein Paradies, da sie sich hier die Uncut-Version von Filmen beschaffen können, die in Deutschland nicht erhältlich sind.

Überhaupt gehören Filme aus dem Horror-Genre zu jenen, die häufig der Indizierung und Beschlagnahmung zum Opfer fallen. Die Gründe dafür liegen auf der Hand - nämlich die oft sehr explizite Darstellung von Gewalt. In Wirklichkeit gehen sie aber oft viel tiefer. Wenn wir uns die Sache genauer ansehen, dann geht es ja in diesen Filmen häufig um tiefe Abgründe, die hinter der Fassade einer vordergründig heilen und sauberen Welt verborgen liegen. Nicht umsonst spielen Horrorfilme ja so häufig im amerikanischen Kleinstadtmilieu, denken wir nur an Stephen King oder auch an die Nightmare-on-Elm-Street-Reihe, und entlarven das liberal-demokratische Narrativ des "amerikanischen Traums" so häufig als Scheindebatte. Entsprechend geht es bei der Erschwerung des Zugangs zu gewissen Horrorfilmen häufig nur vordergründig um den Schutz der Konsumenten - in Wirklichkeit sollen etablierte Ideologien geschützt werden. Dass Horrorfilme diese häufig nicht stützen, sondern als überholt entlarven, zeigt sich auch dadurch, dass sie selten Lösungen bieten - hier erscheint kein strahlender Held, der die Menschheit vor der Gefahr befreit und die alte Ordnung wiederherstellt, wie es etwa in Katastrophenfilmen so häufig der Fall ist.

Was die Filmzensur in den USA betrifft, so erlebt man deren Geschichte vor allem, wenn man unterschiedliche Filme aus unterschiedlichen Jahrzehnten betrachtet. Nachdem öffentliche Forderungen nach einer allgemeinen Filmzensur laut geworden waren, wurde dort im Jahre 1930 der Motion Picture Production Code eingeführt, der unter anderem die Darstellung von Gewalt, Sexualität und Nacktheit untersagte. Dies führte dazu, dass in den Filmen aus dieser Zeit häufig sogar Ehepaare in getrennten Betten schliefen. Durch den gesellschaftlichen Wertewandel wurde dieser jedoch wieder aufgegeben und 1968 durch das MPAA film rating system ersetzt, das lediglich die Eignung von Filmen für bestimmte Altersgruppen prüft. Dies bescherte uns in den 1970er und 1980er Jahren einige großartige Filme, die allerdings auch sehr viel Gewalt beinhalteten.

Abschließend möchte ich sagen, dass selbstverständlich auch das Grundrecht der Meinungs- und künstlerischen Freiheit in unseren Breiten nicht immer adäquat gewürdigt wird. Bevor wir aber "Diktatur" schreien, sollten wir uns einmal vor Augen halten, dass es uns hier in Österreich - und auch in Deutschland - immer noch verhältnismäßig gut geht. Es ist nicht selbstverständlich, dass unsere Meinungsfreiheit so gut geschützt wird, wie es hier der Fall ist. Das sage ich vor allem deshalb, weil ich durchaus schon Leute kennengelernt habe, die Erfahrung mit diktatorischen Regimes hatten und haben.

vousvoyez

Dienstag, 6. Oktober 2020

Wer Comic Sans benutzt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren

(c) vousvoyez
Wobei ich sagen muss, dass ich in meiner Anfangszeit am Computer Spaß daran hatte, verschiedene Schriftarten auszuprobieren - aber ich nehme mal an, so ging es jedem. Wobei die 1990er ja generell das Jahrzehnt der bunten und aufregenden Schriftarten war. Das wird zumindest jedem klar, der mal eine Bravo aus dieser Zeit durchgeblättert hat. Die Neunziger waren auch das Jahrzehnt, in dem die Disney-Filme einen neuerlichen großen Aufschwung erfuhren - und viele der alten in restaurierter Fassung in die Kinos zurückkehrten. Und deshalb will ich wieder mal damit fortfahren, die Hintergründe der Disney-Klassiker ein wenig auszuleuchten.

101 Dalmatiner von Clyde Geronimi, Hamilton Luske und Wolfgang Reitherman erschien im Jahr 1961 und basiert auf dem 1956 erschienenen Roman The Hundred and One Dalmatians, or the Great Dog Robbery (Hundertundein Dalmatiner) der englischen Schriftstellerin und Drehbuchautorin Dorothy Gladys "Dodie" Smith. Es war das erste Buch, das sie nicht unter einem Pseudonym veröffentlichte und ist auch ihr bekanntestes Werk - nicht zuletzt durch den Film. Die Geschichte handelt von einem Wurf Dalmatinerwelpen, die von der extravaganten Cruella de Vil entführt werden, da diese von einem Pelzmantel aus Dalmatinerfell träumt, und von den Hundeeltern, die sich auf die abenteuerliche Suche nach ihren Welpen machen. Im Buch sind es drei erwachsene Dalmatiner - Pongo (benannt nach Smiths eigenem Hund), Missis Pongo und Perdita. Im Film verschmelzen die beiden Hündinnen zu Pongos Gefährtin Perdita, außerdem setzt die Handlung früher ein - nämlich vor der Heirat des jungen Ehepaares Dearly, zu dem die Hunde gehören. In dem Film wurde erstmals eine neue Technik, die Xerox-Fotokopie, verwendet, die es ermöglichte, die Originalskizzen direkt auf den Film zu übertragen, was die Produktion enorm beschleunigte - zuvor musste nämlich jede Zeichnung per Hand mit Tinte zu Papier gebracht werden. Gleichzeitig löste dieses Verfahren auch die künstlerische Schwierigkeit, hundertein Dalmatiner auf einem Filmbild unterzubringen. Diese Technik war in den nächsten zwei Jahrzehnten charakteristisch für die Disney-Filme, was jedoch in der Folge zu einer Verflachung der Disney-Animationskunst führte, die erst in den 1980er Jahren gestoppt wurde.

Der letzte Zeichentrickfilm in Spielfilmlänge, der noch von Walt Disney selbst produziert wurde, war Das Dschungelbuch aus dem Jahr 1967 unter der Regie von Wolfgang Reitherman. Nicht zuletzt aufgrund seines Soundtracks ist dies einer der populärsten Disney-Filme aller Zeiten. Er basiert auf Motiven von The Jungle Book (Das Dschungelbuch) einer Sammlung von Erzählungen und Gedichten des in Indien geborenen britischen Schriftstellers und Dichters Rudyard Kipling, der im Jahr 1907 als erster englischsprachiger Autor den Literaturnobelpreis erhielt - wobei er mit damals 42 Jahren bis heute den Rekord als jüngster Literaturnobelpreisträger hält. Ursprünglich handelt es sich dabei um zwei Bücher - veröffentlicht 1894 und 1895 -, die heute jedoch in der Regel in einem Band herausgegeben werden. Bis heute gehört The Jungle Book zu den bekanntesten und erfolgreichsten Jugendbüchern, auch wenn Kiplings allgemein eher positive Einstellung zum Kolonialismus gemeinhin kritisiert wird. Die bekanntesten Erzählungen sind natürlich die des Menschenjungen Mowgli (in verschiedenen Übersetzungen auch Maugli oder Mogli geschrieben), der bei den Tieren im indischen Dschungel aufwächst, die ihm beibringen, die Gesetze der Natur zu achten und zu befolgen. Weitere Geschichten aus dem Dschungelbuch sind etwa die des Mungos Rikki-Tikki-Tavi, der im Garten einer weißen Familie in Indien lebt und diese vor gefährlichen Schlangenangriffen beschützt, oder die des Jungen Toomai, dem Sohn eines Mahut, eines Elefantenführers, der nur in die Fußstapfen seines Vaters treten kann, wenn er den Tanz der Elefanten gesehen hat. Im Disney-Film werden allerdings nur die Geschichten von Mowgli als Motiv verwendet und zu einer völlig eigenständigen Geschichte verarbeitet. Disney starb, noch bevor der Film in die Kinos kam - auch wenn Das Dschungelbuch nicht der letzte war, den er in Auftrag gegeben hatte. Sein kreativer Einfluss auf den Film war längst nicht mehr so groß wie bei den ersten, aber seine Entscheidungen waren für den Stil nach wie vor ausschlaggebend. So ist der Film weit weniger düster als die Literaturvorlage, auch wenn im Vorspann noch ersichtlich ist, dass das ursprünglich noch nicht so geplant war. Vor allem der anfangs von Terry Gilkyson komponierte Soundtrack war ihm nicht heiter genug - lediglich The Bare Necesseties (Versuch's mal mit Gemütlichkeit) wurde in das Endprodukt mit aufgenommen, die restliche Musik stammte dann von den Brüdern Robert und Richard Sherman, die auch schon die Lieder zu Mary Poppins geschrieben hatten.

Der Roman erzählt, wie Mowgli, der seine Eltern bei einem Überfall des Tigers Shere Khan verloren hat, in einer Wolfsfamilie aufgezogen wird; wie der Bär Baloo und Bagheera, der schwarze Panther ihn lehren, im Dschungel zu überleben und dessen Gesetze zu achten; wie er durch eine Intrige aus dem Wolfsrudel verstoßen wird und zu den Menschen zurückkehrt; wie er seinen ewigen Widersacher Shere Khan besiegt und von den Menschen verstoßen wird, woraufhin er zu den Wölfen zurückkehrt. Im Film wiederum beschließen die Wölfe, als Mowgli zehn Jahre alt ist, dass Bagheera ihn wieder zu den Menschen zurückbringen soll, weil Shere Khan, der Tiger ihn sonst töten würde. Mowgli ist gar nicht begeistert von der Idee, in einem Menschendorf leben zu müssen, und gerät ständig in Schwierigkeiten bei dem Versuch, Bagheera zu beweisen, dass er nicht vor Shere Khan beschützt werden muss. Dabei trifft er auf den gutmütigen, unbekümmerten Bären Baloo, der den Jungen sofort adoptieren will. Als dieser jedoch von einer Horde Affen verschleppt wird, muss Baloo einsehen, dass sein Schützling nur in der Obhut von seinesgleichen sicher ist. Als er versucht, dies Mowgli zu erklären, fühlt dieser sich verraten und läuft weg; kurz darauf wird er von Shere Khan angegriffen, wobei Baloo ihn gerade noch vor seinen Klauen retten kann, schafft es jedoch, den Tiger zu besiegen. Die Gefahr, vor der Mowgli in Sicherheit gebracht werden sollte, scheint gebannt, doch auf ihrer Reise sind er, Bagheera und Baloo an den Rand des Menschendorfes gekommen, wo der Junge ein Mädchen trifft und ihr ins Dorf folgt. Neben dem Disney-Film ist mir auch die Nippon-Animation-Serie aus dem Jahr 1989 bekannt, deren Handlung teilweise auf der Romanvorlage, zum Teil aber auch auf der Filmversion von Disney basiert.

Der 1999 erschienene Film Tarzan unter der Regie von Kevin Lima und Chris Buck ist bis jetzt die einzige abendfüllende, animierte Version der Tarzan-Geschichten des amerikanischen Schriftstellers Edgar Rice Burroughs und beruht auf dessen Roman Tarzan of the Apes (Tarzan bei den Affen) von 1912. Für diesen Film wurde eigens die Deep-Canvas-Software erstellt, die es erlaubt, CGI-Hintergründe zu erstellen, die wie handgezeichnet wirken; sie wurde jedoch in keinem anderen Film mehr eingesetzt. Das Aussehen des jungen Tarzan war an dessen Sprecher, den Schauspieler Alex D. Linz, angelehnt, die Songs wurden von Phil Collins komponiert und auch gesungen - nicht nur in der englischen, sondern auch in der deutschen, spanischen, italienischen und französischen Fassung. Die Geschichte handelt von einer britischen Familie, die sich von einem brennenden Schiff an die afrikanische Küste retten; nach dem Tod der Eltern wird der kleine Sohn von einer Gruppe Affen großgezogen. Während es im Film jedoch ein Gorillapaar ist, dessen Kind von einem Leoparden getötet wurde, ist es im Buch eine unspezifische Affenart. Im Laufe der Geschichte lernt Tarzan Jane kennen, die Tochter eines Wissenschaftlers, und verliebt sich in sie. Im Roman zieht er mit ihr nach England, heiratet sie und wird Vater, kehrt jedoch später wieder mit ihr nach Afrika zurück. Im Film bleibt Jane bei Tarzan in Afrika und gliedert sich in die Affengemeinschaft ein. Außer der Disney-Version existieren noch über hundert Realverfilmungen der Tarzan-Geschichte; am bekanntesten sind sicher die zwölf Filme mit Johnny Weissmüller in der Hauptrolle, dem ersten Schauspieler, der seine Hollywood-Karriere seinen herausragenden Leistungen als Sportler - er war fünffacher Olympiasieger im Freistilschwimmen - zu verdanken hatte (sein schauspielerisches Talent war eher mäßig) und der den charakteristischen Tarzanschrei kreierte.

Sowohl die Geschichte von Mowgli als auch die von Tarzan greift das Phänomen der "Wolfskinder" auf - Kinder, die ihre Entwicklungsphase eine Zeitlang außerhalb menschlichen Einflusses verbrachten und sich daher in ihrem Verhalten von normal sozialisierten Kindern unterscheiden. Viele dieser Kinder sollen von Tieren - etwa Wölfen oder Bären - großgezogen worden sein, der Wahrheitsgehalt der meisten Wolfskind-Geschichten wird jedoch von Wissenschaftlern angezweifelt. Solcherlei Legenden kursieren praktisch seit Anbeginn der Geschichte, doch die allermeisten stammen aus zweiter Hand, und nur wenige Fälle konnten tatsächlich wissenschaftlich untersucht werden. Manchen Berichten aus erster Hand wird ebenfalls Manipulation vorgeworfen, etwa der über die Mädchen Amala und Kamala, zwei Mädchen, die in einem indischen Waisenhaus aufwuchsen und 1920 angeblich in der Höhle einer Wölfin gefunden wurden - Joseph Amrito Lal Singh, der Missionar und Rektor des Waisenhauses, der sie fand, behauptete in seinen Aufzeichnungen, sie würden auf allen Vieren gehen, äßen nur rohes Fleisch und könnten für Menschen unmögliche Sinnesleistungen vollbringen, aber seine Schilderungen wurden nie bestätigt. Wolfskind-Geschichten aus dem Mittelalter sind natürlich stark von Aberglauben geprägt, beispielsweise sind sie eng mit den Wechselbalg-Geschichten verbunden, derer zufolge Kinder von dämonischen Wesen ausgetauscht wurden; wie diese wurden sie damals dazu benutzt, Behinderungen vermeintlich zu "erklären" und die Misshandlung von Kindern, die nicht der Norm entsprachen, zu rechtfertigen. Im Zuge der Aufklärung rückten Wolfskinder ins Interesse von Anthropologen und Pädagogen, die an ihnen die natürliche Bestimmung des Menschen innerhalb der Gesellschaft beweisen wollten. Viele Sagen und Legenden thematisieren die Wolfskinder, sie sind jedoch auch in allen möglichen künstlerischen Genres vertreten. Bekannt ist natürlich die Sage der Gründer Roms, der Zwillinge Romulus und Remus, die ausgesetzt und von einer Wölfin gesäugt worden sein sollen. Aber auch der Ursprungsmythos der Türken erzählt von einem Jungen namens Asena, der als einziger Überlebender seines Stammes, der einem Massaker zum Opfer fiel, von einer Wölfin großgezogen wurde. Auch Wolfdietrich, ein von einem unbekannten Autor verfasstes mittelalterliches Epos, erzählt von einem Helden, der seine Kindheit teilweise in der Obhut von Wölfen verbrachte. Außerdem fällt mir noch die (etwas langweilige) italienische Komödie Bingo Bongo von Pasquale Festa Campanile aus dem Jahr 1982 mit Adriano Celentano in der Hauptrolle ein - die Geschichte eines jungen Mannes, der von Schimpansen im afrikanischen Dschungel großgezogen und von einer Expedition aufgegriffen wird, die ihn für wissenschaftliche Studien nach Mailand bringen. Dort entdeckt er die Großstadt als neuen Dschungel, lernt das Sprechen, verliebt sich in die Anthropologin Laura und wird zum Vermittler zwischen Mensch und Tier.

Da zu dem Dalmatiner-Film nicht allzu viel zu finden war und sich das Thema Wolfskinder in Zusammenhang mit Tarzan und dem Dschungelbuch natürlich anbot, hatte ich diesmal das große Vergnügen, nicht nur zwei, sondern gleich drei Filme hinsichtlich ihrer Hintergründe behandeln zu können. Natürlich habe ich auch noch genügend Stoff für weitere Fortsetzungen. Ich habe auch bereits wieder Ideen für neue Artikel. Fürs erste danke ich euch für eure Aufmerksamkeit und hoffe, dass ihr auch das nächste Mal wieder mit dabei seid. Bon voyage!

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