Ich habe ja schon seit längerem immer wieder unser veraltetes Schulsystem kritisiert - und war da bei weitem nicht die einzige. Nach wie vor scheitern Reformversuche jedoch vor allem an der Bürokratie, die uns auf der einen Seite natürlich viel Sicherheit gibt, auf der anderen Seite aber auch ein Hemmschuh für den Fortschritt ist. Daran konnte - entgegen aller Hoffnungen - auch der bisherige Verlauf der Corona-Krise nichts ändern. Nach wie vor dümpeln wir in einem Unterrichtssystem herum, das vor etwa zweihundert Jahren festgesetzt und seither nur geringfügig verändert wurde - und das, entgegen aller Behauptungen, die Schüler nur unzureichend auf die Welt jenseits der Schulmauern vorbereitet. Ein gutes Beispiel dafür ist in etwa die Digitalisierung, die schon zu meiner Schulzeit höchst mangelhaft war, die sich aber, wie ich neulich von meiner ältesten Nichte erfahren musste, seither kaum verbessert hat. Das ist nicht nur für die Schüler, sondern auch für engagierte, motivierte Lehrer bisweilen frustrierend. Ich möchte mich heute aber speziell einem Unterrichtsfach widmen, an dem sich die Geister wohl besonders scheiden - und das für mich und auch viele andere eine sehr schmerzhafte Erfahrung war. Ich möchte über den Schulsport sprechen.
Die Idee hinter diesem Schulfach ist ja grundsätzlich nicht verkehrt: Schüler verbringen den Großteil ihrer Zeit mit Sitzen, also ist es naheliegend, einen Ausgleich dazu anzubieten. Ganz abgesehen davon wusste man ja schon in der Antike, dass Bewegung die Gehirnaktivität fördert. Gerade in der heutigen Zeit, wo viele Kinder und Jugendliche sich auch in ihrer Freizeit nicht mehr so viel und gern bewegen und nicht selten auch schlecht ernähren, wird in der ewigen Schuldebatte gerne betont, wie wichtig der Sportunterricht doch sei, da dieses Fach Schüler dazu motiviere, etwas für ihren Körper zu tun und fit zu bleiben. Gerade für unsportliche Kinder und Jugendliche wäre der Turnunterricht doch enorm wichtig, denn diese würden davon am meisten profitieren.
Und ab diesem Punkt beginnt die Sache, an Realitätsbezug zu verlieren. Denn unsportliche Schüler profitieren überhaupt nicht von den Turnstunden - und das kann ich euch, meine lieben Leser und Innen, aus eigener Erfahrung versichern. Für junge Menschen, deren körperliche Leistungsfähigkeit nicht dem oberen Durchschnitt entspricht, hat der Sportunterricht absolut keinen Mehrwert - im Gegenteil: In den acht bis zwölf oder dreizehn Schuljahren wird speziell diesen Kindern und Jugendlichen jegliche Freude an Bewegung gründlich ausgetrieben. Das Resultat: Die meisten wollen nach Beendigung der Schullaufbahn nie wieder auch nur das Geringste mit Sport zu tun haben. Ich selbst habe insgesamt zehn Jahre gebraucht, bis ich mich dazu überwinden konnte, mehr für meinen Körper zu tun, als im Sommer ein paar Bahnen durch das Schwimmbecken zu ziehen und mir in Discos die Seele aus dem Leib zu tanzen. Zu sehr war die Erinnerung an Sport für mich mit Demütigung und Herabsetzung verbunden.
Sportlichkeit wird ja bekanntlich mit ganz besonders vielen positiven Eigenschaften verknüpft. Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum Unsportlichkeit im Gegenzug dazu so negativ besetzt ist. Das sieht man ja schon in Serien und Filmen für Kinder und Jugendliche - die "Guten" sind immer sportlich und fit, während die "Bösen" sich nie bewegen, dafür aber Zigaretten rauchen und markige Sprüche klopfen. Wer unsportlich ist, gerät schnell in den Verdacht, faul und undiszipliniert zu sein. Dass auch viele Profisportler den Verlockungen von Drogen, Partys und Sex auf Dauer nicht widerstehen können, wird gerne ausgeblendet - und nimmt man es einmal zur Kenntnis, werden diese wie Abtrünnige behandelt, viel mehr noch als etwa Musiker, denn bei dene das ja sozusagen erwartet wird. Was den Schulsport betrifft, so werden hier jedoch viele dieser positiven Eigenschaften, die so gerne hochgehalten werden, überhaupt nicht berücksichtigt - etwa Fairness und Teamgeist. Stattdessen werden negative Eigenschaften wie Konkurrenzdruck, Herabwürdigung Schwächerer und eine widerliche Ellbogenmentalität zutage gefördert. Der deutsche und österreichische Schulsport hat immer noch ein bisschen was von dem Fanatismus der Turnvater-Jahn-Mentalität: Die Guten werden gelobt, die Schlechten gedemütigt. Eine Methode, die in den meisten Bereichen als veraltet und kontraproduktiv gilt - aber wenn es um Sport geht, scheint sie immer noch legitim zu sein. Vielleicht, weil diejenigen, die diese Haltung pflegen, ein schlechtes Gedächtnis haben - oder weil sie immer zu den Guten gehört haben und sich deswegen nicht vorstellen können, wie es ist, auf der anderen Seite zu stehen.
Ja, ich weiß genau, dass es nicht leicht ist, das Versagen anderer nachzuvollziehen, wenn man etwas selbst sehr gut kann. Ich kann auch nicht nachvollziehen, dass jemand anders nach dem tausendsten Mal Erklären noch immer nicht den Unterschied zwischen Dass und Das versteht - aber es ist eben so, und ich muss es akzeptieren, weil diejenigen, die diese Probleme haben, sie sich nicht ausgesucht haben. Es gibt Menschen, die können besonders gut malen und zeichnen, während andere mit großer Mühe ein paar krakelige Striche zu Papier bringen; es gibt Menschen, die in Eigenregie ein Haus renovieren, während andere sich mit dem Hammer die Finger blau schlagen, wenn sie nur ein Bild an die Wand hängen wollen; es gibt Menschen, die mit Leichtigkeit Fremdsprachen lernen, während diese für andere stets ein Buch mit sieben Siegeln bleiben; und es gibt Menschen, die mühelos sportliche Bestleistungen erbringen, während andere schon froh sind, wenn sie den Ball nicht dauernd fallenlassen. Und ihr könnt mir glauben - ich habe mir nicht ausgesucht, zu Letzteren zu gehören. Ich habe immer die besonders Talentierten beneidet, weil ich selbst nie so war. Ich stimme zu, dass jeder dazu imstande ist, seine körperlichen Leistungen mit ein wenig Ausdauer und Disziplin zu verbessern - aber man kann nicht Kinder und Jugendliche, die sich in ihrer Entwicklung und körperlichen Konstitution häufig stark voneinander unterscheiden, zu Leistungen zwingen, zu denen sie häufig gar nicht imstande sind. Vor allem aber können gerade Turnlehrer, die ihren Beruf mit Sicherheit nicht ihrer Abneigung gegen Sport zu verdanken haben, ihre eigenen körperlichen Fähigkeiten nicht unterschiedslos bei all ihren Schülern voraussetzen.
Ja, ich gehörte zu den Schlechtesten in Turnen. Ich gebe es offen zu. Und nein, ich war nicht dick, hatte keine Behinderung, ernährte mich nicht auffallend schlecht und wuchs auch nicht in einer Familie auf, die ständig vor dem Fernseher hockte und Fast Food fraß. Wir hatten hinter dem Haus einen Hof und einen großen Garten, in dem ich mit meinen Cousins, die nebenan wohnten, fast täglich herumtobte, meine Eltern fuhren häufig mit mir raus aufs Land, wir machten mindestens zweimal jährlich durchaus aktive Urlaube, wir gingen wandern und eislaufen, ich lernte Schwimmen, Fahrrad und Ski fahren. Ich war nie ein großes Talent im Sport - alle anderen waren immer viel besser als ich -, aber ich tat, was ich konnte, und war meistens auch mit Begeisterung dabei. So lange, bis ich in die Schule kam. Von da an begann ich Sport mit jedem Jahr mehr und mehr zu hassen.
Ich war ein schüchternes, zurückhaltendes Kind, das nicht so leicht Anschluss an Gleichaltrige fand. Obwohl mir, wie schon gesagt, Mädchenkram zuwider war, musste ich fünf Jahre lang in eine reine Mädchenschule gehen, wo man mich verspottete, weil ich kurze Haare hatte und mich weigerte, Röcke und Kleider zu tragen. Im Gymnasium saß ich dann mehrere Jahre alleine, weil ich es nicht schaffte, in eine der Cliquen zu kommen, die sich im ersten Jahr gebildet hatten und die im zweiten Jahr, als ich in die Schule kam, nicht bereit waren, sich für eine Neue zu öffnen. Der Turnunterricht war eine weitere Möglichkeit, mir zu zeigen, dass ich so, wie ich bin, nicht passe, dass ich nicht dazugehöre, dass mein Körper nichts ist als ein vollkommen nutzloser Zellhaufen, dass ich nichts weiter bin als ein Stück Dreck, das hier eigentlich gar nichts verloren hat. Ich war nicht behindert, aber häufig fühlte ich mich so. Ich konnte nicht so schnell laufen wie die anderen, ich konnte nicht mit dem Ball umgehen, ich konnte nicht grazil auf Holmen und Balken herumturnen, leichtfüßig über Böcke springen, wie ein Affe Seile und Stangen hinaufklettern, Räder drehen und geschraubte Saltos vollführen. Vor allem aber hatte ich oft Angst - beispielsweise habe ich nie diesen Felgaufschwung geschafft, weil ich das eine Mal, als ich Hilfe hatte, Panik bekam, sobald ich mit dem Kopf nach unten an der Stange hing. Das prägendste Erlebnis für mich und all jene, die bei Mannschaftssportarten eher untalentiert sind, waren aber natürlich die Mannschaftswahlen: Die Besten und Motiviertesten durften Teams zusammenstellen - nur damit ich am Ende in irgendeine Gruppe gestoßen wurde, die es als Strafe betrachtete, mich mitschleppen zu müssen. Aber wenn ich mir eine Ausrede einfallen ließ, um mich dem entziehen zu können, war das natürlich auch wieder nicht recht - alle anderen müssen auch turnen, warum soll DIE schon wieder eine Extrawurst bekommen? Und so verbrachte ich die Stunden, in denen Völkerball, Volleyball, Basketball oder Fußball gespielt wurde, eher damit, den guten Spielern möglichst nicht im Weg zu sein, um nicht auch noch deren Unmut auf mich zu ziehen - trotzdem war ich immer schuld, wenn die Mannschaft, der ich zugeteilt war, nicht gewann. Außer in jenen Jahren, in denen die beste Basketballerin der Schule in unserer Klasse war - sie ließ mich immer in ihrer Mannschaft mitspielen, und da sie sowieso immer die meisten Körbe warf, konnte ich mich darauf beschränken, mich möglichst unauffällig zu verhalten.
Im Gymnasium fragte ich meine Turnlehrerin einmal, warum ich unbedingt Ball spielen lernen muss, wenn ich das doch sowieso gar nicht können will und nach Ende der Schulzeit mit Sicherheit nie wieder einen Ball in die Hand nehmen werde. Sie erwiderte, dass ich ja auch in anderen Schulfächern Sachen lernen muss, die mir keinen Spaß machen und die ich in meinem späteren Leben möglicherweise nicht brauchen werde. Mit öden Kurvendiskussionen und sinnlosen Noten-Dreisätzen kam ich allerdings weitaus besser zurecht - vielleicht deshalb, weil man sich von seinem Versagen da noch irgendwie distanzieren kann. Im Turnunterricht ist es jedoch dein Körper, der bewertet wird - und den kannst du nach einem Misserfolg nicht einfach abstreifen und in eine Ecke schmeißen. Zudem ist man gerade in der Pubertät in einem Alter, in dem man ständig seinen Körper bewertet und in Frage stellt - das wird nicht unbedingt besser, wenn man ständig mit seinem sportlichen Unvermögen konfrontiert wird. Das einzige, was uns Österreichern erspart blieb, worüber ich auch unendlich dankbar bin, sind die Bundesjugendspiele - ein Wettbewerb, in dem ich gleich vor Publikum hätte zeigen können, wie unfähig und zurückgeblieben ich war, hurra! Ich bin wirklich froh, dass ich wenigstens das nicht machen musste. Mein Partner hatte es da natürlich bedeutend leichter - als Fußballstar schon im Teenageralter wurde er nicht gezwungen, auf Geräten herumzueiern, solange er nur mit dem Ball alle in Erstaunen versetzte.
Als meine Schulzeit beendet war, verweigerte ich jahrelang jede sportliche Betätigung - zu sehr war Sport für mich mit Angst und Demütigung verbunden, zu wenig traute ich mir in der Hinsicht zu. Wozu mich für etwas anstrengen, wenn meine Bemühungen ohnehin nicht anerkannt werden? Wozu Bewegungen vollführen, bei denen ich mich sowieso nur blamiere? Wozu noch einmal diese lächerlichen Fetzen anziehen, die sich "Turnkleidung" nennen? Na ja - wenn man jung ist, verzeiht einem der Körper noch viel. Aber an meinem älteren Bruder sah ich dann, dass Mangel an Bewegung doch nicht wirklich das Gelbe vom Ei ist - denn der Mensch ist nun mal nicht dazu geschaffen, tagaus, tagein vorm Computer zu hocken oder sich auf Partys wegzuschießen. Als ich das entdeckte, war ich Ende Zwanzig - und im Rahmen einer Therapie lernte ich Sport schließlich völlig neu kennen. Auf einmal ging es nicht mehr darum, besser als alle anderen zu sein - es ging nur noch um den eigenen Körper und wie man diesen durch Bewegung unterstützen kann. Und ich entdeckte: Auch Sport kann Spaß machen! Und nun mache ich schon seit Jahren kleinere Bewegungseinheiten - ganz freiwillig. Und ich mache es gern - weil ich weiß, warum ich es mache. Und weil keiner mich fertigmacht, weil ich nicht den Ehrgeiz habe, die Übersportlerin zu werden. Und weil meine Bemühungen zählen und nicht, dass ich etwas schaffe, was ich nun mal nicht schaffen kann.
Die Frage ist natürlich, wie man solche Probleme lösen kann. Denn obgleich ich inzwischen weiß, dass ich mit meiner Abneigung gegen Schulsport bei weitem nicht allein dastehe, scheine ich doch zu einer Minderheit zu gehören. Für die meisten Schüler - und das war auch schon zu meiner Schulzeit so - kann es offenbar gar nicht genug Turnstunden geben. Und für viele, die ansonsten nicht so gut in der Schule sind, ist es eine der wenigen Möglichkeiten, zu einer guten Note zu kommen. Trotzdem finde ich, gehört gerade der Sportunterricht dringend reformiert - immerhin wird ja ständig darüber geklagt, dass die jüngere Generation immer fetter wird und nur noch vor dem Smartphone und der Spielkonsole versauert. Dennoch ist mir im Laufe der Zeit, die ich mit Leuten sprach, die ebenfalls ein Schulsport-Trauma haben, eines aufgefallen: Nicht jeder, der den Sportunterricht gehasst hat, fiel in die Kategorie "dickes Kind, das sich nicht gern bewegt". Viele waren nicht einmal wirklich unsportlich - sie konnten nur nicht das leisten, was im Turnunterricht verlangt wurde. Und vielen geht es wie mir - sie können mit dem Leistungsgedanken nichts anfangen, sondern wollen einfach Spaß haben, ohne den Anspruch, unbedingt der/die Beste zu sein. Und da beginnt es ja schon: Selbst wenn man einen Sport ausübt, der einem liegt, werden häufig nur diejenigen gefördert, denen ohnehin alles leicht fällt, während die anderen kaum beachtet werden. Vor allem aber sollte das Angebot an Sportarten ein wenig breiter ausfallen - immerhin heißt es ja, der Sportunterricht soll Schüler dazu anregen, sich mehr zu bewegen, und wie soll das funktionieren, wenn immer nur dasselbe gemacht wird? Ich könnte mir vorstellen, dass es in den höheren Klassen auch reicht, wenn man sich für eine Sportart entscheidet. Das Wichtigste ist jedoch, wie ich finde, dies: Man sollte endlich einmal anerkennen, dass unsere Gesellschaft von Vielfalt lebt und nicht von Uniformität. Und dass Kinder keine unbeschriebenen Blätter sind, die man alle zu denselben sportlichen Höchstleistungen zwingen kann, sondern dass wir alle mit jener Individualität, die uns als Erwachsene auszeichnet, bereits geboren werden. Bon voyage!
vousvoyez