Mittwoch, 27. Oktober 2021

Wirr ist das Volk

©vousvoyez
Nachdem die Parole "Wir sind das Volk" aktuell ja vor allem bei Schwurbeldemos sehr beliebt ist, erlaube ich mir an dieser Stelle einmal einen kleinen kulturhistorischen Abriss. Dieser Satz wird in Georg Büchners Revolutionsdrama Dantons Tod aus dem Jahre 1835 von einem Bürger geäußert und legt in diesem Kontext den Fanatismus Robespierres offen, dessen Visionen eines neuen Staates mit der Guillotine erreicht werden sollen. Während der Märzrevolution 1848 fand diese Phrase Eingang in Ferdinand Freiligraths spätromantischem Gedicht Trotz alledem, das in der von Karl Marx herausgegebenen Neuen Rheinischen Zeitung veröffentlicht wurde, aber erst im 20. Jahrhundert durch die Liedermacher Wolf Biermann und Hannes Wader größere Bekanntheit erlangte. Im Jahre 1934 wurde der Satz von Martin Heidegger in einer Vorlesung über Logik behandelt, kurz nachdem dieser aufgrund von Unstimmigkeiten über die Hochschulpolitik vom Amt des Direktors der Freiburger Universität zurückgetreten war. In Martin Scorseses Film Taxi Driver aus dem Jahre 1976 wirbt der Präsidentschaftskandidat mit dem Slogan "We are the people". Bekannt ist uns der Slogan "Wir sind das Volk" heute vor allem von den Montagsdemonstrationen 1989/90 in der DDR, ausgerufen von den oppositionellen Demonstranten, denen in den sozialistischen Medien schwere Gewaltausbrüche unterstellt worden waren - in der Wendephase wurde er allerdings sehr schnell von der Parole "Wir sind ein Volk" abgelöst. 2004 wurde "Wir sind das Volk" während der Montagsdemonstrationen gegen den Sozialabbau wieder aufgegriffen - dieser Protest gegen Hartz IV verhallte jedoch weitgehend ungehört. Ab 2014 wurde der Slogan vermehrt von rechtsradikalen Bewegungen vereinnahmt, die gegen die Aufnahme von Flüchtlingen und den Bau von Moscheen protestierten - so war sie während der Pegida-Demonstrationen zu hören sowie bei den Ausschreitungen gegen Flüchtlinge 2016 in Clausnitz sowie den Demonstrationen in Chemnitz im Spätsommer 2018. Heutzutage ist die Parole "Wir sind das Volk", wie schon gesagt, größtenteils auf Demonstrationen gegen die Pandemie-Maßnahmen zu hören.

Spiegel-Journalist und Autor Dirk Kurbjuweit fasste die Sinnhaftigkeit des Slogans "Wir sind das Volk" bereits im Jahre 2015 ziemlich treffend zusammen: Im Unterschied zur Revolution gegen einen autoritären Staat wie eben der DDR kann in einer Demokratie, in der unterschiedliche Meinungen und Interessen nebeneinander existieren dürfen, keine Gruppe für sich in Anspruch nehmen, "das Volk" zu sein, weil "das Volk" hier keine Einheit mehr darstellt. Wäre ja auch blöd: Ich bin zum Beispiel nicht der Meinung, dass wir ohne Maßnahmen durch die Pandemie kommen und dass alle Ausländer böse sind - gehöre ich jetzt nicht zum "Volk"? Entsprechend finde ich die vorliegende Weisheit, welche durch das deutsche Satiremagazin Titanic geprägt wurde und die vor allem auf Demonstrationen gegen Rechtsradikalismus Verwendung findet, äußerst treffend. Auch eine Bildgruppe des aus Berlin stammenden Künstlers Michael Auth, die 2015 in Cottbus ausgestellt worden war, trägt den Titel Wirr ist das Volk. Ich persönlich ziehe es allerdings vor, dergestalt vereinnahmende Demonstrationen und Aktionen eher mit Verballhornungen à la "Wir bin dem Folk" zu beantworten - in Anlehnung an die mangelnden Deutschkenntnisse jener, die von Migranten ein perfektes Deutsch in Rekordzeit verlangen. Gleichzeitig mache ich damit auch deutlich, dass ich nicht einsehe, warum man sich von irgendwelchen ausländerfeindlichen und/oder verschwörungsgläubigen Gruppierungen vereinnahmen lassen soll. Aber da ich in diesem Blog ohnehin schon viel mehr politisiere als ursprünglich beabsichtigt und überdies jetzt auch wieder einige eher ernsthafte Themen behandelt habe, möchte ich mich heute wieder einmal den allseits beliebten Wandersagen oder urbanen Legenden widmen.

Mein letzter Artikel zu diesem Thema war für den einen oder anderen Arachnophobiker mit Sicherheit kein Vergnügen - ich habe von jener Dame erzählt, die angeblich eine exotische Spinne im Topf ihrer Yuccapalme fand, und von Bananenspinnen in Supermärkten. Überhaupt sind Spinnen häufiger mal Gegenstand moderner Märchen - bereits seit meiner Kindheit kenne ich den Mythos, den ich bis heute auch gegenüber Erwachsenen immer mal wieder entkräften muss, nämlich, dass jeder Mensch im Schlaf jährlich etwa acht Spinnen verschluckt. Diese Geschichte ist völlig aus der Luft gegriffen - denn Spinnen sind sehr feinfühlige Lebewesen und haben kein Interesse daran, sich in der Nähe von riesigen, schnorchelnden Fleischklopsen aufzuhalten. Zudem gibt es dafür keine Beweise, nicht einmal Augenzeugenberichte - es ist äußerst unwahrscheinlich, dass kein Mensch jemals bemerkt hat, dass ihm so ein Krabbelviech in den Mund kriecht. Noch unheimlicher sind die Geschichten von Menschen, die meist nach einer Reise in ein exotisches Land angeblich einen seltsamen Pickel oder eine Schwellung irgendwo am Körper bemerken. Manchmal soll der Pickel von alleine aufgeplatzt sein, bisweilen musste die Person auch zum Arzt, der ihn öffnete oder die Stelle sonst wie behandelte. In den meisten Versionen kamen lauter kleine Spinnen aus dem Pickel, in einem Fall soll der Arzt zwei Spinneneier aus einer offenen Wunde abgesaugt haben, auf die der Patient allergisch reagiert hatte. Wen es jetzt schon am ganzen Körper zu jucken beginnt, den kann ich jedoch beruhigen: Spinnen bevorzugen für ihre Gelege eher ruhige, trockene Plätze, häufig befestigen sie sie in dicht gesponnenen Seidenkokons an Pflanzen, zudem fehlt es ihnen an der nötigen Ausstattung, um ihre Eier in Lebewesen ablegen zu können: So etwas können nur Milben oder Schmeißfliegen. Kleiner Fun-Fact am Rande: Ein gewisser "Dr. C", dessen "Prophezeiung", wir geimpften Schlafschafe seien im September alle tot, behauptet, dass sich in dem Impfstoff gegen Covid-19 die Eier außerirdischer Spinnen befinden. Verzeiht mir also, sollte ich in nächster Zeit ein bisschen zu viel Blödsinn schreiben - ich bin halt einfach schon tot und überdies auch noch voll mit außerirdischen Spinneneiern.

Ich habe in einem älteren Artikel ja bereits die Geschichte mit den AIDS-verseuchten Spritzen erzählt, mittels derer angeblich Leute in Diskotheken oder Kinos mit HIV infiziert worden waren. AIDS war ja, wie schon öfter erwähnt, eine der großen Gefahren meiner Jugend, vor denen wir in all den Jahren, die ich das Gymnasium besuchte, jährlich gewarnt wurden. Eine weitere Gefahr, die uns als Teenager ständig drohte, war die Verführung zum Genuss gefährlicher Drogen. Wobei auch hier häufig über die Maßen dramatisiert wurde - beispielsweise wurde man dazu angehalten, in Bars und Discos sein Getränk im Auge zu behalten, falls irgendjemand Drogen da reintun sollte. Nun, das ist noch kein Rat, den man vollständig ins Reich der Legenden abschieben kann - in der 68er-Generation fanden manche es tatsächlich lustig, Getränke anderer Personen ohne deren Wissen mit LSD zu versetzen, und bereits als ich jung war, wurden Mädchen mit K.-o.-Tropfen gefügig gemacht und vergewaltigt. Allerdings sind nicht alle Drogen so geschmacks- und geruchlos, dass man sie unbemerkt verabreichen könnte. Eine weitere Geschichte, die eine Zeitlang gern herumerzählt wurde, behauptete, dass die in meiner Kindheit so beliebten Rubbeltattoos, die man manchmal aus den Kaugummiautomaten ziehen konnte oder die bei den Lutschern dabei waren, die wir im Italienurlaub immer kauften, manchmal von Dealern mit LSD getränkt worden seien, und wenn man sich die auf die Haut rubbelte, sei man bereits im zarten Alter von acht Jahren drogenabhängig. Manche Geschichten erzählten auch, dass die Dealer diese Bildchen angeblich in Kindergärten oder Volksschulen verteilten, um sich ihre zukünftigen Kunden zu sichern. Nun, normalerweise würde zwei Sekunden Nachdenken schon reichen, um die fehlende Logik dieser Geschichte zu erkennen, denn erstens ist LSD zwar durchaus eine gefährliche Substanz, die Psychosen und Flashbacks auslösen kann, macht aber nicht körperlich abhängig und schon gar nicht nach nur einmaligem Konsum; zweitens entfaltet es seine Wirkung nicht durch Aufnahme über die Haut, sondern muss eingenommen werden; drittens ist es doch sehr unwahrscheinlich, dass ein Vierjähriger nach dem vermeintlichen Konsum über Rubbelbildchen von ganz allein zum Dealer geht und souverän nach Drogen fragt. Trotzdem ist diese Behauptung nicht totzukriegen - noch heute findet man sie beispielsweise in dem einen oder anderen Kettenbrief. Und nicht nur das - es gibt heutzutage sogar noch Erwachsene, die das glauben. Einerseits zeigt dies, was für merkwürdige Vorstellungen manche Leute davon haben, wie man drogenabhängig wird; andererseits beruhigen sich manche mit solchen Legenden wahrscheinlich selbst: Wenn mein Kind drogenabhängig wird, dann nicht aus freien Stücken, sondern aufgrund irgendeiner bösen Macht von außen. Ähnlich funktioniert wohl auch die Erzählung von der Blue-Whale-Challenge - möglicherweise kommt man mit dem Suizid oder Suizidversuch seines Kindes besser zurecht, wenn man sich einreden kann, dass es durch eine Gehirnwäsche von außen dazu getrieben wurde, als wenn man sich eingestehen muss, dass möglicherweise Probleme innerhalb der Familie dazu geführt haben. Solche Geschichten sollen aber selbstverständlich vor allem eines bewirken: nämlich, dass Jugendliche ihre Finger von den Drogen lassen. Was ja an sich auch richtig ist - aber bei bestimmten Angstgeschichten hatte ich bisweilen den Eindruck, man wolle uns für dumm verkaufen. Ich erinnere mich beispielsweise, dass eine Lehrerin erzählte, dass wir zu Klebstoffschnüfflern werden können, wenn wir Uhu mit den Zähnen von den Fingern ziehen - komisch nur, dass ich bis heute nie das Bedürfnis hatte, zu schnüffeln.

Wandersagen können bisweilen nicht nur warnen, sondern auch der Instrumentalisierung dienen - beispielsweise werden sie in Bezug auf Flüchtlinge seit 2015 immer wieder erzählt, um Stimmung zu machen. In Deutschland wollen beispielsweise Leute oft erlebt haben, dass Geflüchtete mit vollen Einkaufswägen zur Kassa gegangen und vom Kassier durchgewunken worden sein sollen, nachdem sie gesagt hätten, dass Merkel das alles zahlen würde. Hier in Österreich werden solche Empörungsgeschichten häufig in Verbindung mit Smartphones erzählt - dass angeblich Flüchtlinge mit Zetteln von der Caritas beispielsweise zu Libro oder Hartlauer gegangen seien, sich ein Handy einer teuren Marke ausgesucht hätten und dieses auf Vorlage dieses Zettels geschenkt bekommen hätten. Dieses Märchen wurde schon so oft erzählt, dass die Caritas schon rechtlich dagegen vorgegangen ist. Aktuell wird gerne behauptet, dass die Flüchtlinge jene teuren Anlegerwohnungen geschenkt bekämen, die in meiner Heimatstadt in den letzten Jahren so exzessiv gebaut wurden. Allein, dass man der ÖVP unterstellt, sie würden Wohnungen, in die sie investiert haben, einfach so herschenken, zeigt schon, wie dumm diese Argumentation ist. Manche behaupten auch, dass Flüchtlingsclans Leute so sehr in Angst und Schrecken versetzen, dass sie sich nehmen dürfen, was sie wollen, ohne bezahlen zu müssen. Nun, klar gibt es organisiertes Verbrechen, auch aus dem Ausland importiertes, und natürlich ist die Erpressung von Schutzgeld nichts Neues, aber dass so ein Schutzgelderpresser ganz gemütlich mit dem Einkaufswagen an der Kassa vorbeispaziert, ist doch relativ unwahrscheinlich. Aber natürlich haben Warnsagen auch häufig etwas mit Xenophobie zu tun - erinnern wir uns nur an die Insekten in den Dreadlocks, die Warnung vor Drogendealern oder die Geschichten, die im Urlaub passiert sein sollen. Eine Geschichte, die sehr in die Richtung geht, ist ja auch die von Ehepaaren, die mit ihrem Hund ins Chinarestaurant gehen, woraufhin der Hund verschwindet und ihnen wenig später als Mahlzeit serviert wird.

Ich habe ja auch häufiger schon Geschichten erzählt, in denen Kinder von Fremden entführt, vergiftet oder ihnen sonst irgendwie geschadet wird - solche Fälle gibt es natürlich, in den meisten Fällen passieren solche Sachen aber innerhalb der Familie, wie im Fall der vergifteten Halloween-Süßigkeiten. Auch hier ist es aber wohl leichter zu akzeptieren, dass das eigene Kind von Fremden gefährdet wird als von jemandem, der einem nahe steht. Es war ja schon in meiner Kindheit üblich, Kinder davor zu warnen, Süßigkeiten von Fremden anzunehmen - da man ihnen damals aber nicht erzählen wollte, dass es Erwachsene gibt, die sich sexuell zu Kindern hingezogen fühlen, erfand man wahrscheinlich Geschichten von vergifteten oder mit Drogen versetzten Süßigkeiten. Eltern wiederum werden gerne mit gruseligen Babysitter-Geschichten in Angst und Schrecken versetzt - etwa die von der Babysitterin, welche die Eltern des Kindes, auf das sie aufpassen sollte, anrief, um zu fragen, wie man den Backofen benutzt. Den Eltern kam das komisch vor - sie fuhren schleunigst nach Hause und erkannten, dass es ihr eigenes Kind war, das die Babysitterin im Drogenrausch in den Ofen geschoben hatte. Was solche Angstgeschichten vermitteln sollen, ist klar: Vertraut eure Kinder keinen Fremden an - schon gar nicht, um wegzugehen und euch zu amüsieren.

Eine Sage, die nach dem 11. September 2001 häufig erzählt wurde, war die von dem Terroristen, der aus Dankbarkeit vor einem geplanten Terroranschlag warnte. Meist geht es darum, dass eine unbeteiligte Person in einem Einkaufszentrum oder auf der Straße ein Portemonnaie findet. Es stellt sich heraus, dass der Besitzer der Geldtasche ein fremdländischer Mann ist, meist aus dem arabischen Raum; dieser ist so dankbar, dass er die Person davor warnt, zu einem bestimmten Zeitpunkt an einen bestimmten Ort zu gehen. Als dann der Zeitpunkt eintritt, findet an diesem Ort ein Terroranschlag oder sonst irgendein Verbrechen statt, oder es wird bekannt, dass dieses geplant war. Manchmal wird man auch gewarnt, in nächster Zeit etwas Bestimmtes zu essen oder zu trinken, das sich im Nachhinein als vergiftet herausstellt. Eine Geschichte erzählt von einem Mädchen in den USA, das von ihrem verschollen geglaubten afghanischen Freund einen Brief erhält, in dem er sie vor geplanten Anschlägen auf Kaufhäuser an Halloween gewarnt wird. Ähnliche Geschichten kursierten allerdings schon nach dem Anschlag auf Pearl Harbor durch die japanische Marineluftwaffe im Jahre 1941. Im Bezug auf den Angriff auf Pearl Harbor gibt es ja auch die bekannte Geschichte der Graffitis, die am 7. Dezember 1939 - zwei Jahre vor dem Anschlag - in der Owensville-Highschool in Indiana, USA aufgetaucht sein sollen: Mit weißer Kreide hatte jemand an mehrere Wände die Worte Remember Pearl Harbor geschrieben - die natürlich jeder für seltsam befand, immerhin konnte zu diesem Zeitpunkt ja noch niemand wissen, dass die Pazifikflotte in Pearl Harbor in zwei Jahren angegriffen würde. Bis heute kursieren um diese Legende immer wieder allerlei Verschwörungsmythen - etwa, dass die amerikanische Regierung darüber Bescheid wusste, dass der Anschlag geplant war, und dass ein Insider davor warnen wollte, oder dass die Graffitis von einem Zeitreisenden stammten, der die Menschen warnen wollte. Andererseits stellt sich hier natürlich die Frage, warum man, wenn man vor etwas warnen will, nicht einfach sagt, was Sache ist, sondern kryptische Botschaften an die Wände irgendeiner Highschool schreibt. Ganz abgesehen davon gibt es auch keine Beweise, dass die Geschichte stimmt, etwa ein Foto.Sie war aber zumindest sensationell genug, dass sie als "wahre Geschichte" in die Sendung X-Factor - Das Unfassbare Eingang fand. Was die Geschichte mit den dankbaren Terroristen angeht, so gab es nach dem 11. September häufiger mal die eine oder andere Meldung über geplante Terroranschläge - was angesichts dessen, wie sehr dieses Ereignis verunsicherte, nicht weiter verwunderlich ist. Auch nach dem Tsunami 2004 in Indonesien und Thailand kursierten etliche Geistergeschichten, ausgelöst durch das kollektive Trauma, das nach der Katastrophe in der Bevölkerung herrschte - und sicher auch dem Umstand zu verdanken, dass der Geisterglaube in diesen Regionen sehr ausgeprägt ist.

Wie schon erwähnt, sind Wandersagen in der ganzen Welt bekannt. Mein Freund erzählte mir beispielsweise, dass es in Angola einen Baum geben soll, aus dem, wenn man die Rinde anschneidet, menschliches Blut fließen soll. Zu der Legende selbst habe ich nirgends etwas gefunden, ich habe aber entdeckt, dass es gewisse Baumarten gibt, deren Harz tatsächlich wie menschliches Blut aussieht. In Jamaika gibt es beispielsweise den Brauch, am Karfreitag einen Purgiernussbaum zu fällen, weil dessen blutrotes Harz für die Jamaikaner das Blut Christi symbolisiert. In den 1980er Jahren erzählte man sich in Osteuropa von einem Paar im Goth-Outfit, das Kinder auf dem Weg in den Religionsunterricht - der zur Zeit des Kommunismus nur privat stattfand - aufhielt und sie fragte, ob ihr Religionsheft kariert, liniert oder unliniert sei; war es kariert, ritzte man ihnen Karos ins Gesicht; war es liniert, wurden Linien eingeritzt; war es unliniert, wurde ihnen die Haut vom Gesicht gezogen. Der Hintergrund war, dass die westliche Jugendkultur zur damaligen Zeit langsam auch von Teenagern aus dem Osten adaptiert wurde und dass man auf diese Weise Angst vor der Punk- und Metalkultur verbreiten wollte. In Japan wiederum gibt es den Mythos der Kuchisake Onna, die zu den Yōkai, Dämonen aus dem japanischen Volksglauben, gezählt wird und deren Geschichte schon uralt ist. Sie wird beschrieben als wunderschöne Frau mit langem, schwarzem Haar, die ihr Gesicht verborgen hat, in älteren Legenden hinter einer Theatermaske oder einem Schleier, in neueren auch hinter einer der heute allgegenwärtigen OP-Masken. Meist trägt sie einen roten Regenmantel, manchmal hält sie auch ein großes Messer oder eine riesige Schere in der Hand. Sie soll nachts auf Leute zugehen und sie fragen: "Bin ich schön?" Antwortet man mit ja, nimmt sie die Maske ab - dahinter kommt ein fürchterlich entstelltes Gesicht zum Vorschein, das an den Mundwinkeln weit aufgeschlitzt ist. Dann fragt sie: "Bin ich immer noch schön?" Antwortet man mit ja, entstellt sie einem das Gesicht auf dieselbe Art und Weise; antwortet man mit nein, wird man getötet. Versucht man zu fliehen, wird man von ihr verfolgt und letztendlich umgebracht, denn sie kann so unnatürlich schnell rennen, dass es kein Entkommen gibt. In manchen Versionen kann man sie allerdings besänftigen, etwa, indem man ihr ausweichend antwortet oder Süßigkeiten vor ihre Füße wirft. Die Geschichte kursierte vor allem in den 1970er und 1980er Jahren größtenteils an japanischen Hochschulen und Universitäten.  Man erzählt sich, dass es sich bei Kuchisake Onna um die wunderschöne Frau eines Samurais aus dem 8. Jahrhundert handelte, der ihr in einem Anfall von Eifersucht das Gesicht aufschlitzte, damit sie niemand mehr schön fand. In Südkorea gibt es diese Geschichte mit einer Frau, die durch eine verpfuschte Schönheitsoperation entstellt wurde. Eine weitere beliebte Legende in Japan ist die von Hanako, einem Geist, der auf Mädchentoiletten in Grundschulen spuken soll - meist ist es ein Mädchen mit Pagenschnitt und rotem Rock. Man kann sie auf verschiedene Weisen herbeirufen; manchmal taucht auch nur eine blutige Hand aus der Kloschüssel auf. In der Präfektur Yamagata ist es eine dreiköpfige Echse, die Mädchen verspeist, sobald sie sich aufs Klo setzen; in Kanagawa gibt es außerdem zusätzlich noch Yōsuke, der auf Jungentoiletten sein Unwesen treibt. Es ist also nicht ratsam, in japanischen Grundschulen aufs Klo zu gehen.

Jetzt habe ich euch also wieder ein paar spannende Geschichten der verschwommenen ganz wirklich wahren Art erzählt. Ich hoffe also, dass ihr weiterhin wohlauf seid und gut auf euch achtet. Ich bin auf jeden Fall bald wieder am Schreiben und hoffe, dass ihr dann alle nach wie vor zugegen seid. Bon voyage!

vousvoyez

Dienstag, 26. Oktober 2021

Fridays for Future war mir lieber als Saturdays for Tin Foil Hats

©vousvoyez
Proteste gegen die Maßnahmen gab es ja eigentlich schon ziemlich schnell nach Beginn des ersten Lockdowns. Richtig groß wurden Bewegungen wie "Querdenken" allerdings um den Sommer 2020 - der Höhepunkt der Proteste waren sowohl der versuchte "Sturm" auf den Reichstag in Berlin Ende August dieses Jahres und die #allesdichtmachen-Aktion auf YouTube im April dieses Jahres. Aktuell scheint jedoch in der Querdenker-Bubble Katerstimmung angesagt - die Pandemie ist aktuell hauptsächlich ein Problem für Ungeimpfte; innerhalb der Bewegung herrscht Streit und man beschuldigt sich gegenseitig; viele derer, die sich von ihren unkritischen Anhängern großzügig mit finanziellen Schenkungen versorgen ließen, haben sich ins Ausland abgesetzt, während andere immer verzweifelter um noch mehr Geld betteln; und einigen scheint langsam zu dämmern, dass sie sich die längste Zeit haben verarschen lassen. Natürlich beweisen nur die wenigsten die Größe, dies auch zuzugeben: Meistens sind die anderen schuld, weil sie dumm sind und nicht "aufwachen" wollen, weil sie "es" nicht kapiert hätten und ihnen nicht zuhören wollen. Man könnte schon fast Mitleid mit ihnen haben, wenn das nicht größtenteils Menschen wären, die erwachsen genug sein sollten, um zu wissen, dass das eigene Handeln auch Konsequenzen hat - und dass es nicht zielführend ist, all diejenigen, die man eigentlich überzeugen will, gleich einmal für dumm zu erklären. Zu erkennen, dass man die ganze Zeit den falschen Leuten hinterhergelaufen ist und das auch zuzugeben, erfordert halt nun mal Charakter - aber wer dies schafft, das muss ich auch dazu sagen, verdient tatsächlich Hochachtung.

Ich denke, spätestens seit den Lockdowns sollte auch der/die/das Langsamste begriffen haben, dass mit Social Media die Grenzen zwischen der analogen und der digitalen Welt zunehmend weniger definiert sind. Im Prinzip sollte dies bereits seit Beginn des Arabischen Frühlings Ende 2010 erkennbar sein - aber vor allem die ältere Generation scheint die politische und gesellschaftliche Macht des Internets noch viel zu lange unterschätzt zu haben. Entsprechend ist die digitale Welt, wenn auch kein rechtsfreier, anonymer Raum, immer noch eine mit viel zu wenig und zudem häufig noch ziemlich willkürlichen Regeln. Dies fördert natürlich toxisches Verhalten - beispielsweise die Hasskultur. Und die Tendenz, nicht nur alles zu kritisieren (was ja durchaus wünschenswert ist), sondern auch der Meinung zu sein, der eigene Standpunkt sei der einzig richtige. Vor allem aber auch den Mechanismus, sich selbst zu erhöhen, indem man auf andere herabblickt. Natürlich ist nicht das Internet schuld, dass es solche Verhaltensweisen überhaupt gibt - Fernsehsendungen wie Frauentausch oder die Nachmittags-Talkshows aus den Neunzigern erfüllten schon zuvor diesen Zweck. Es ist die Art und Weise, wie unser Kapitalismus schon seit Jahrzehnten funktioniert - mein Auto ist größer als deines, meine Kleidung sieht besser aus als deine, mein Leben ist toller als deines. Im Prinzip gibt es das wohl schon, seit es Menschen gibt - häufig reicht schon das Aussehen, um sich selbst zu überhöhen und andere zu erniedrigen, denken wir nur an Rassismus. Warum aber tun wir das? Nun, die Antwort ist eigentlich ganz einfach - wir wollen unsere eigenen Fehler verschleiern, indem wir auf den anderen zeigen und sagen: "Ich bin vielleicht nicht perfekt, aber der da ist noch viel schlimmer!" Klar - das lernen wir ja schon im Kindergarten. Und diese Mechanismen greifen auch schon lange in sozialen Netzwerken - und machen mitunter einem Menschen das Leben zur Hölle. Andererseits gibt es dann aber auch wieder welche, die sich durchaus bewusst sind, dass man auch von negativer Aufmerksamkeit profitieren kann - und dies auch forcieren. Und es gibt den Drachenlord - den meistgehassten YouTuber im deutschsprachigen Raum. Der letzte Woche zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt wurde. Die Hoffnung, dass die Geschichte damit zu Ende ist, hat sich bisher allerdings nicht erfüllt - denn der Prozess soll noch einmal aufgerollt werden. Aber wer ist der Drachenlord eigentlich, und warum ist um ihn so ein Hype entstanden?

Rainer Winkler erstellte im Jahr 2011 seinen eigenen YouTube-Kanal und veröffentlichte dort eigens produzierte Videos in der Hoffnung, zu Geld und Ruhm zu gelangen - an sich nichts Besonderes, das haben viele schon vor ihm gemacht. Auch die Videos waren nicht so besonders - es ging hauptsächlich um Metal und Videospiele, bisweilen plauderte der "Drachenlord", wie er sich nennt, auch über sein Privatleben, den Tod seines Vaters und das problematische Verhältnis zum Rest der Familie sowie Mobbing in der Schule. Nach wie vor lebt er alleine in seinem Elternhaus, das mittlerweile ziemlich heruntergekommen ist, in einem kleinen Nest in Mittelfranken, nach dem Besuch einer Förderschule hat er kaum berufliche Perspektiven. Eigentlich die typische gescheiterte Existenz. Auch seine äußere Erscheinung wirkt nicht besonders ansprechend - er ist stark übergewichtig, wirkt meistens nicht sehr gepflegt und trägt am liebsten Metal-Shirts. In Kombination mit seinem breiten fränkischen Dialekt und der Tatsache, dass er offensichtlich psychisch und kognitiv beeinträchtigt ist und wohl auch keine konstruktive Unterstützung hat, ist er so natürlich die ideale Zielscheibe von Spott und Hohn. Und das erhielt er auch ziemlich bald - irgendwann riefen seine Videos Kritiker auf den Plan, die ihrer Ablehnung in den Kommentaren Ausdruck verliehen. Rainer Winkler a. k. a. der Drachenlord ließ sich nur allzu leicht von ihnen provozieren, und so versammelte er bald eine Gemeinschaft von "Hatern", oder "Haidern", wie sie sich mit fränkischem Akzent gerne nennen, auf seinem Kanal. Sie machten sich über sein Aussehen, seine Art zu sprechen, seine mangelnden intellektuellen Fähigkeiten lustig. Er zahlte mit gleicher Münze zurück, ließ immer wieder unüberlegte, bisweilen provokante Aussagen fallen - so beantwortete er etwas zu offenherzig Fragen über sein Intimleben, äußerte sich gerne sexistisch, rassistisch und antisemitisch, bezeichnete den Holocaust als "nice" und verglich im letzten Jahr seine Situation mit jener der Opfer des Amoklaufs in Wien. Die Kommentare unter seinen Videos wurden immer abfälliger, beidseitig sank das Niveau immer tiefer unter die Gürtellinie, und am Ende war nicht mehr auszumachen, wer hier eigentlich agiert und wer reagiert. Das Spiel ging einfach immer weiter - und dauert bis heute immer noch fort, mal mehr, mal weniger.

Im Jahr 2014 beging Rainer Winkler schließlich einen fatalen Fehler: Er gab seinen "Hatern" seine Wohnadresse bekannt, nachdem seine Schwester von einem anonymen Anrufer belästigt worden war, und forderte sie auf, zu ihm zu kommen. Auf diese Weise gelangte die Hasswelle gegen ihn von der digitalen in die analoge Welt: Bis heute fahren täglich Leute aus dem gesamten deutschsprachigen Raum in das Vierzig-Seelen-Dorf, um den Drachenlord zu drangsalieren. Für sie ist es eine Art Spiel, und tatsächlich bezeichnen sie ihre Methode, den Mann so lange zur Weißglut zu treiben, bis er sein Haus verlässt, als "Drachengame". Schon bald beeinträchtigte ihre ständige Anwesenheit jedoch nicht nur den Drachenlord selbst, sondern auch die anderen Leute in der Gegend massiv. Mehrmals täglich wird die Polizei gerufen, die Dorfbewohner kommen seit mittlerweile acht Jahren nicht mehr zur Ruhe, Sachbeschädigungen sind an der Tagesordnung. Im Jahr 2016 stand einer der "Hater" vor Gericht, nachdem er permanent unerwünschte Bestellungen an Winklers Adresse schickte und in seinem Namen Notrufe tätigte, so dass bisweilen ein Großaufgebot an Einsatzkräften ausrückte - auch andere "Anti-Fans" kassierten Anzeigen und Strafen. Es wurden permanent Verfügungen ausgesprochen, um die "Hater" von dem Dorf fernzuhalten, aber diese werden bis heute immer wieder umgangen. Im August 2018 organisierten sich Hunderte von "Hatern" trotz Versammlungsverbots zu einer regelrechten Hass-Demo vor seiner "Drachenschanze", wie sein Haus genannt wird - teilweise waren sie sogar aus dem Ausland angereist. Manche "Hater" haben inzwischen ganze Websites und Kanäle online gestellt, die sich nur damit beschäftigen, den Drachenlord zu demütigen. Für einige von ihnen scheint diese Art von Mobbing gegen eine einzelne Person zu ihrem Lebensinhalt geworden zu sein.

Im Jahr 2019 wurde Rainer Winkler zu sieben Monaten Haft auf Bewährung verurteilt, nachdem er einen seiner ungebetenen Besucher mit Pfefferspray attackiert hatte. Letzte Woche dann waren es zwei Jahre Haft ohne Bewährung - wegen Beleidigung, Körperverletzung und Verstoßes gegen die Bewährungsauflagen, nachdem er Polizisten beschimpft, mit einem Backstein nach einem seiner "Hater" geworfen und einen anderen mit einer Taschenlampe verletzt hatte. In ganz Deutschland und auch hier in Österreich berichten Medien über den Prozess - auf diese Weise wurde ich darauf aufmerksam und beschloss, mir den Sachverhalt einmal genauer anzusehen. Mir fiel auf, dass der Prozess offenbar großen Andrang fand - die "Hater" versammelten sich vor dem Gerichtsgebäude, ein paar von ihnen waren auch im Gerichtssaal zugegen, allerdings mit dem Verbot, dazwischenzurufen oder zu filmen. Rainer Winkler zeigte sich geständig, kündigte an, sein Haus zu verkaufen und wegzuziehen - außerdem wollte er seine Online-Aktivitäten deutlich reduzieren. Nun, zumindest Letzteres hielt er nicht einmal 24 Stunden durch - kaum kehrte er in seine "Drachenschanze" zurück, begann er schon wieder zu streamen, und auch seine Aussagen lassen Zweifel an seiner vor Gericht gezeigten Reue aufkommen. Nun soll der Fall wieder aufgerollt werden - was einerseits bedeutet, dass das "Drachengame" immer noch nicht zu Ende ist, andererseits, dass seine Haftstrafe im schlimmsten Fall noch verlängert werden könnte, denn der Staatsanwaltschaft sind zwei Jahre nicht lang genug.

Nun sind die Meinungen, was diese Geschichte angeht, natürlich ziemlich gespalten - die einen finden es empörend, dass hier wieder mal ein Mobbing-Opfer bestraft wird, während die Täter nicht zur Verantwortung gezogen werden; die anderen argumentieren, dass er ja schließlich selber schuld an der Misere sei und deswegen auch kein Mitleid verdient hätte. Nun, Rainer Winkler hat mehrere Straftaten begangen und war zudem noch vorbestraft - das Urteil musste hier also gesprochen werden. Trotzdem verdient er meiner Ansicht nach auch Mitgefühl - auch wenn seine vom Gericht bescheinigte psychische Erkrankung in Kombination mit Intelligenzminderung offenbar nicht ausreicht, um hier von verminderter Schuldfähigkeit ausgehen zu können. Generell finde ich allerdings, dass keine der beiden Parteien sich der Verantwortung entziehen kann. Und ich bin mir natürlich bewusst, dass ich mit meinem Artikel dem Thema eine Relevanz verschaffe, die es eigentlich nicht verdient hat - sofern man bei einem so reichweitenschwachen Blog überhaupt von Relevanz sprechen kann. Das Ding ist halt nur - das Phänomen "Drachenlord" beschäftigt nicht zum ersten Mal die Internet-Community. Und ich bin weder ein Fan noch ein Hater - bisher habe ich mich in dieser Sache wohlweislich zurückgehalten und sie so gut wie möglich ignoriert. Aber inzwischen ist das Thema schon so groß, dass man es einfach nicht mehr ignorieren kann, und deswegen möchte ich mich dazu äußern.

Eines muss klar sein: Rainer Winkler spielt, wie schon gesagt, in dieser Angelegenheit keineswegs eine passive Rolle: Er reagiert auf jede Kritik und ist dabei nicht zimperlich. Er hat seine Adresse aus freien Stücken preisgegeben und ist mehrmals durch sehr provokante Äußerungen aufgefallen. Sein Verhalten verrät keinerlei Unrechtsbewusstsein, und er scheint auch nicht zu begreifen oder begreifen zu wollen, dass er durchaus Hilfe nötig hätte, jedenfalls hat er alle Angebote in der Richtung bisher ausgeschlagen. Obwohl klar ist, dass er und seine Nachbarn keine Ruhe haben werden, solange er im Internet so präsent ist, und obwohl ihm das schon häufig nahegelegt wurde, macht er keine Anstalten, seine Videos und Streams zu reduzieren oder gar einzustellen - im Gegenteil, das erste, was er macht, sobald die Verhandlung vorbei ist, sind weitere Streams. Und sein Erscheinungsbild bei der Verhandlung - löchriges Bandshirt, Jogginghose, ausgetretene Turnschuhe und ungepflegte Frisur - habe ich auch nicht so richtig verstanden, immerhin bot er auf diese Weise ja noch mehr Angriffsfläche. Manchmal könnte man tatsächlich auf die Idee kommen, dass ihm diese Art der Aufmerksamkeit gefällt, wie bei einem Kind, das seine Eltern nur durch Fehlverhalten auf sich aufmerksam machen kann. Oder er kapiert es einfach wirklich nicht und hat auch niemanden, der ihm das begreiflich machen kann.

Aber ebenso wenig, wie Herr Winkler gezwungen wird, seine Videos zu machen und sich provokant zu äußern, werden auch seine "Hater" gezwungen, zu ihm zu fahren und ihn zu belästigen. Ich habe im Zuge meiner Recherche einige Twitter-Profile dieser "Hater" ausfindig gemacht, aber wirklich plausibel erklären konnte keiner, was er in diesem kleinen Nest vor dem Haus eines wildfremden Menschen überhaupt zu suchen hat. Viele begnügen sich damit, jede Kritik abzuschmettern mit dem Hinweis, dass man ja keine Ahnung von dem "Game" hätte und worum es überhaupt geht - wer sich also nicht zehn Jahre lang mit jedem Schnipsel aus dem Leben des Drachenlord beschäftigt hat, darf dazu gar keine Meinung haben. Interessant! Andere wiederum rechtfertigen ihre dortige Anwesenheit mit "Zivilcourage" - immerhin sind seine häufig feindseligen Aussagen ja trotz allem nicht wegzuerklären. Echt jetzt? Ich frage mich, ob diese Leute ihre "Argumente" tatsächlich selbst glauben: Wenn es wirklich nur darum geht, gegen Sexismus oder Holocaust-Verharmlosung vorzugehen, warum sucht man dann ausgerechnet eine labile Person auf, die ohnehin keiner ernst nimmt, anstatt sich mit jenen anzulegen, die bereits seit mehreren Jahren zündeln, ganz bewusst Menschen aufhetzen und die Grenzen des Sagbaren immer weiter verschieben? Oder ist man dafür möglicherweise zu feige und schießt sich deswegen lieber auf jemanden ein, der mit seinem Aussehen, seinem Verhalten und seinen Lebensumständen ohnehin schon ein leichtes Opfer ist? Es geht ganz augenscheinlich nicht um "Zivilcourage" - es geht einzig und allein darum, den Mann bis aufs Äußerste zu reizen. Oder was hat das Werfen von Feuerwerkskörpern oder das Auftauchen vor dem Haus mit Masken, die das Gesicht von Winklers verstorbenem Vater zeigen, mit Kritik an seinen Provokationen zu tun? Ganz ehrlich: Wer würde nicht irgendwann einmal ausrasten, wenn jahrelang Tag und Nacht irgendwelche Fremden um dein Grundstück herumtigern und ständig darauf aus sind, dich zu provozieren und dir irgendeine lustige Reaktion zu entlocken, über die sie sich dann auslassen können? Abgesehen davon sind ja auch so manche der "Hater" keineswegs solche, die sich im Kampf gegen Rechts besonders hervorgetan haben - viele kokettieren sogar selbst mit rechtsradikalem Gedankengut, wie etwa jener Typ, der zusammen mit seinen Freunden dem Drachenlord per Livestream einen üblen Streich gespielt hat, und ich habe auch so einige Tweets entdeckt, in der "Hater" ihren Phantasien, was sie mit der "geilen Richterin" alles anstellen würden, freien Lauf ließen.

Ich will damit nicht relativieren, dass der Typ allen Anschein nach absolut kein Unrechtsbewusstsein hat, jegliche Hilfe ausschlägt und keinerlei Interesse zeigt, diese Farce zu beenden. Und mir ist vollkommen bewusst, dass sich an der Situation wahrscheinlich nie etwas ändern wird, solange Herr Winkler nicht bereit ist, sich helfen zu lassen. Andererseits generiert er mit seinen "Hatern" nicht nur Aufmerksamkeit, sondern verdient auch Geld an ihnen - sei es, dass sie seine Videos schauen und ihm damit Reichweite verschaffen, sei es, dass andere ihm aus Mitleid ein paar Spenden zukommen lassen. Und ich frage mich ehrlich gesagt auch, was daran so geil ist, sich permanent von einem Menschen, den man als intellektuell unterlegen ansieht, durch Videos triggern zu lassen, die zu schauen einer niemand zwingt, um dann kilometerweit in sein Heimatdorf zu fahren und dort Terror zu machen. Irgendwie scheinen Drachenlord und "Hater" eine merkwürdige Symbiose zu leben - und die Situation ist auch denkbar verfahren. Denn die Frage ist natürlich, wie Herrn Winklers Leben nach YouTube weitergehen soll - er ist im gesamten deutschsprachigen Raum bekannt wie ein bunter Hund und auch nicht leicht zu übersehen, was natürlich bedeutet, dass sein zweifelhafter Ruf ihm überallhin folgen wird. Andererseits ist natürlich die Frage, was es abseits von den Videos überhaupt für Perspektiven gibt - denn abgesehen von der fehlenden Ausbildung ist natürlich die Frage, ob irgendein Arbeitgeber bereit ist, jemandem eine Chance zu geben, der so viel negative Aufmerksamkeit generiert hat. Gleichzeitig können wir bei seinen "Hatern" ja auch das beobachten, was wir schon von dem allseits beliebten Trash-TV kennen - sie schauen sich Drachenlord-Videos an und fühlen sich ihm überlegen, sowohl intellektuell als auch moralisch. Durch das Betrachten der Videos werten sie sich also selbst auf - und machen die Person, der sie zusehen, gleichzeitig durch ihre Abwertung zu einem Objekt. Auf diese Weise versuchen sie sich und anderen auch einzureden, dass das in Ordnung ist, was sie tun - immerhin reagieren sie ja nur auf seine Aussagen.

Die Drachenlord-Geschichte ist das beste Beispiel für das, was Nick Srincek bereits Anfang des letzten Jahrzehnts als "Plattformkapitalismus" bezeichnet hat: Die eigentliche Kontrolle übernimmt hier in Wirklichkeit weder der Drachenlord noch die Hater - sondern die Plattformen YouTube und Twitch selbst bestimmen die Spielregeln. Es gab ja vor zwanzig Jahren mal eine Geschichte, die ein klein wenig an diese hier erinnert: In der Gerichtsshow Richterin Barbara Salesch, die zu Anfang noch echte Fälle verhandelte, amüsierte die Hausfrau Regina Zindler mit ihrem skurrilen Nachbarschaftsstreit und dem sächsischen Dialekt den Fernsehmoderator Stefan Raab so sehr, dass er in seiner Sendung TV Total ein selbst komponiertes Lied vorstellte, in dem er die von Zindler ausgesprochenen Worte "Maschendrahtzaun" und "Knallerbsenstrauch" einbaute. Ich muss dazu sagen, ich habe zu jener Zeit, als das Lied bekannt war, mal irgendetwas bei Libro gesucht, während dieses Lied in Dauerschleife aus den Lautsprechern dröhnte, und das hat mich so irre gemacht, dass Maschen-Draht-Zaun in meiner Liste der meistgehassten Lieder ziemlich weit oben steht, aber das nur nebenbei. Jedenfalls zogen auch Zindler und ihr Nachbar damals massenhaft Schaulustige an, an vorderster Front dabei waren die Boulevard-Medien, die die Grundstücke buchstäblich Tag und Nacht belagerten. Der Unterschied war allerdings, dass in dem Dorf wieder Ruhe einkehrte, sobald die Fernsehteams abgezogen waren - eine solche Kontrollinstanz gibt es im digitalen Zeitalter jedoch nicht mehr. Und diese Dezentralisierung bewirkt, dass die Geschichte, die durch eine Ansammlung an Zufällen entstand, immer weitergeht - und ich ein bisschen die Befürchtung habe, dass das Ganze irgendwann einmal in einer Katastrophe endet, weil keiner wirklich gewillt ist, aufzuhören. Und weil eben die Akteure hier in Wirklichkeit nur Teil einer Dynamik sind, die in Wirklichkeit von den Internetplattformen vorgegeben werden: weil nämlich sie die Struktur festlegen, in der all dies seinen Lauf nimmt, und weil sie auch diejenigen sind, die von all dem am meisten profitieren.

Sowohl YouTube und Twitch als auch Facebook, Twitter und Telegram generieren ihren Profit hauptsächlich aus destruktiven Verhaltensmustern - Wolfgang M. Schmitt geht sogar so weit, das mit der Rüstungsindustrie zu vergleichen. Das klingt vielleicht weit hergeholt, aber erinnern wir uns doch nur daran, wie viel destruktive Energie diese Plattformen schon freigesetzt haben und wie häufig schon tatsächlich Leute zur Waffe gegriffen haben, nachdem sie auf einschlägigen Seiten radikalisiert wurden. Und auch das "Drachengame" funktioniert ähnlich: Die "Hater" rechtfertigen ihr Verhalten damit, dass Herrn Winklers Aussagen absolut inakzeptabel sind; dieser wiederum rechtfertigt diese damit, dass er seit Jahren so extrem belästigt wird. Erinnern wir uns doch nur daran, wie Aussagen durch die Zündelei der Rädelsführer von Querdenken & Co. immer radikaler wurden, und wie die Ermordung an einem jungen Studenten, der sich im Prinzip nur was dazuverdienen wollte, damit gerechtfertigt worden ist, dass er etwas gefordert hatte, was für die coolen Rebellen ein Ding der Unmöglichkeit ist, nämlich ein paar Minuten lang eine Maske zu tragen. Erinnern wir uns daran, dass ein paar Einschränkungen schon ausreichten, um Leute dazu zu bringen, auf die Straße zu gehen und die Hinrichtung von Politikern und Wissenschaftlern zu fordern. Wenn ich mir all diese Ereignisse betrachte, wird mir eines klar: Wir müssen dringend eine Lösung finden, wie wir in Zukunft mit dem Internet umgehen - und vor allem, wie wir mit Menschen ohne Medienkompetenz umgehen. Menschen, die sich auf einschlägigen Websites radikalisieren - und gescheiterte Existenzen wie den Drachenlord, die mit den Möglichkeiten des Internets nicht verantwortungsvoll umgehen können. Ich habe es schon einmal geschrieben, ich wiederhole es noch einmal, und dass die sudanesische Schriftstellerin Tsitsi Dangarembga dies ebenfalls zur Sprache brachte, zeigt mir, dass ich richtig liege: Es ist höchste Zeit für eine neue Aufklärung. Und diese muss auch unseren Umgang mit den digitalen Medien mit einschließen. Juste du courage!

vousvoyez

Mittwoch, 20. Oktober 2021

Michael Wendler findet sich so toll, dass er sich selbst stündlich fünf Autogramme gibt

©vousvoyez
Dazu muss ich anmerken - diese Weisheit stammt aus der Zeit, bevor der Wendler anfing, auf Instagram herumzuschwurbeln. Damals war er einfach nur ein nerviger Promi, von dessen Existenz ich am liebsten gar nicht erfahren hätte, aber leider meinte es das Schicksal nicht gut mit mir. Und auch so manch anderem scheint dieses Schicksal, sofern man es denn so nennen will, übel mitzuspielen. Mein letzter Artikel befasste sich ja mit Antisemitismus, ausgehend von jenem Vorfall, der sich an der Rezeption des Westin-Hotels in Leipzig zwischen Gil Ofarim und einem Hotelmitarbeiter abgespielt haben soll. Jetzt scheint es so auszusehen, als sei die Darstellung des Musikers nicht ganz korrekt gewesen - jedenfalls ist kürzlich ein Überwachungsvideo aufgetaucht, auf dem die Kette, aufgrund derer ihm angeblich der Zutritt verweigert worden sei, nicht zu sehen ist. Die Auswertung der Videos - es existieren mehrere - ist noch nicht abgeschlossen, wir können also nach wie vor nicht mit Sicherheit sagen, wer jetzt die Wahrheit gesagt hat und wer nicht. Das Verhalten der Hotelkette zu dem Vorfall - die Kundgebung mit dem Banner und in was für Fettnäpfchen die sonst noch getreten sind - macht das natürlich nicht besser, das Problem ist halt allerdings: Sollte Ofarim tatsächlich gelogen haben - auch wenn er dies nach wie vor abstreitet -, hat er dem Kampf gegen Antisemitismus damit absolut keinen Gefallen getan. Wir haben es ja von Anfang an gesehen: Kaum wurde der Vorfall bekannt, fanden auch schon die üblichen Verdächtigen den Weg in die Kommentarspalten sämtlicher Social-Media-Kanäle, relativierten die Probleme mit Antisemitismus und spekulierten, dass Herr Ofarim ja nur Aufmerksamkeit wolle. Jetzt, wo tatsächlich Zweifel an dem Wahrheitsgehalt der Geschichte aufkommen, fühlen sich dieselben natürlich bestätigt und zerfetzen sich erst recht das Maul. Auf diese Weise macht man nicht auf Antisemitismus aufmerksam, sondern man macht jene unglaubwürdig, die tatsächlich von Diskriminierung aufgrund ihrer jüdischen Wurzeln betroffen sind. Aber wie gesagt - der Fall ist noch nicht abgeschlossen, und vielleicht tue ich Herrn Ofarim auch Unrecht. Wir werden sehen. Was wir aber heute besprechen werden, sind weitere Eierer, die mich aktuell und auch generell immer wieder nerven.

Top-Eierer Numero 34: "Wegen eurer Elektroautos müssen Kinder leiden"

Anlass ist natürlich jene Doku von ZDFinfo, die kürzlich auf Social Media angepriesen wurde: Darin geht es um das Kobalt für Elektroauto-Batterien, das angeblich daran schuld ist, dass Kinder im Kongo unter Tage arbeiten müssen. Nun - dass der Abbau von Rohstoffen in armen Ländern ein Riesenproblem ist, was Menschenrechte und auch die Umweltproblematik betrifft, ist natürlich schon lange kein Geheimnis mehr. Das Ding ist doch aber: Das ist kein Problem, das explizit die Fahrer von Elektroautos betrifft, und überdies ist es ohnehin nur nur die halbe Wahrheit. Und mal abgesehen davon, schlägt ZDFinfo damit in dieselbe Kerbe wie diejenigen, die krampfhaft nach jeder noch so blödsinnigen Ausrede suchen, um zu rechtfertigen, warum sie auf gar keinen Fall etwas an ihrem Lebensstil ändern können. Das sind dieselben Leute, die angesichts des Klimawandels erklären, dass es immer schon mal wärmer war und dass die junge Generation erst dann das Recht auf eine eigene Meinung hat, wenn sie sich in die Riege der Steuerzahler eingereiht hat. Ein solcher Beitrag bringt lediglich Applaus von jenen, denen es in Wirklichkeit vollkommen egal ist, unter welchen Bedingungen Produkte hergestellt werden, solange sie zu Primark rennen und sich dort für zwanzig Euro neu einkleiden können, solange es morgens genug Kaffee und im Supermarkt preiswerte Bananen gibt, solange man sich jährlich das neueste Handy kaufen und sich wöchentlich mit dem SUV das McDonald's-Menü gönnen kann. Sobald es aber um Dinge geht, die man doof findet, wie eben etwa das Elektroauto, werden sofort literweise Krokodilstränen vergossen wegen der armen Kinder, die im übrigen bequem weit weg in Afrika leben - setzen diese sich dann aber in ein Schlauchboot, weil sie auch am Wohlstand partizipieren wollen, dem auf ihrem Rücken gefrönt wird, oder schaffen sie es gar bis vor unsere Haustüre, dann sind das alles Sozialschmarotzer oder potenzielle Vergewaltiger. Aber solange sie nur für mitleiderregende Fotos posieren, sind sie natürlich furchtbar praktisch für all jene, die glauben, sie hätten die dummen Gutmenschen "durchschaut", die sich in Wirklichkeit ja nur über andere erheben wollen. Und die sich gleichzeitig über die junge Generation erheben, indem sie Fotos von Steine schleppenden Nachkriegskindern teilen und damit ausdrücken wollen, dass die Fridays-for-Future-Demonstranten gar nicht das Recht hätten, für eine lebenswerte Zukunft zu kämpfen, weil es früheren Generationen noch schlechter gegangen wäre. Dass eben diese Kinder genau das getan haben, was der heutigen Jugend bevorsteht, wenn wir so weitermachen wie bisher, nämlich den Dreck aufgeräumt, den Ältere gemacht haben, das wird eher selten bedacht. Ebenso wenig, wie gefragt wird, woher die Rohstoffe für das Gerät stammen, mit dem solche Bildchen geteilt werden. Und bevor hier jemand aufschreit: Ja, ich weiß, auch ich nutze Handy und Laptop, aber zumindest bin ich nicht ständig geil darauf, immer die aktuellsten Modelle haben zu müssen. Liebe Top-Eierer Numero 34: Es geht nicht aller Welt darum, sich moralisch über euch zu erheben, also hört endlich mit dieser Doppelmoral auf!

Top-Eierer Numero 35: Längst überholte Fernsehshows

Angesichts der aktuellen Staffel von Das Supertalent, die offenbar ziemlich langweilig ist und die anscheinend auch keinen mehr so richtig interessieren, wage ich es, die steile These aufzustellen, dass Casting-Shows anscheinend nicht mehr in die heutige Zeit passen. Wir leben ja aktuell in so einer Zeit, in der man ganz offensichtlich versucht, seine Angst vor der Zukunft zu kompensieren, indem man an Vergangenem festhält. So plant man ganz offensichtlich eine Neuauflage von Wetten, dass ...?, die wieder von Thomas Gottschalk moderiert werden soll. Nun, ganz abgesehen davon, dass Gottschalks Einstieg in die Jury von Deutschland sucht den Superstar am Beginn dieses Jahres den ohnehin nicht allzu guten Einschaltquoten eher abträglich war, scheint auch das Interesse an der einst so populären Spieleshow in den letzten Jahren deutlich nachgelassen zu haben. Was auch verständlich ist - in meiner Kindheit und Jugend war Wetten dass ...? noch ein Ereignis für die ganze Familie, über das man sich noch montags in der Schule angeregt unterhalten hat. Aber dann ist eine neue Jugend gekommen, die ganz andere Interessen hatte - so weit, so normal. Und aktuell kämpft das Fernsehen damit, dass es für junge Leute, die ihren Medienkonsum fast nur noch über das Internet beziehen, zunehmend an Bedeutung verliert. Und so verlieren sie anscheinend auch immer mehr das Interesse an jenem Format, das vor zwanzig Jahren noch neu und aufregend war - den Casting-Shows. Als ich Teenager war, veränderten sich die Vorstellungen davon, wie man es schaffen könnte, ein Star zu werden, ganz massiv. Zuvor haben sich ein paar pickelige, besoffene und eingerauchte Kids mit Instrumenten vom Flohmarkt in Garagen zusammengefunden und versucht, gemeinsam irgendetwas zu produzieren, das annähernd wie Musik klang, um sich dann in düsteren, verrauchten Kellerspelunken zu genialen Bands zu entwickeln und irgendwann einmal gefeierte Stars zu werden, deren Namen man noch kennt, wenn sie selbst schon längst in die ewigen Jagdgründe eingegangen sind. Tatsächlich haben die meisten namhaften Bands, seien es nun die Beatles, die Rolling Stones, die Toten Hosen, Nirvana oder wer auch immer, genau so angefangen: als ein Haufen unbekümmerter Jugendlicher, die scheiße gespielt haben, aber fest davon überzeugt waren, die Welt aus den Angeln heben zu können. Entsprechend haben es die Teilnehmer von DSDS & Co. auch selten geschafft, ihren Zuschauern im Gedächtnis zu bleiben, von Ausnahmen wie Christina Stürmer (die bei Starmania nur zweite wurde) oder den No Angels mal abgesehen. Trotzdem suggerieren Casting-Shows immer noch, dass es möglich sei, mit einem eher geringen Maß an Individualität und minimal harter Arbeit zu gefeierten Superstars zu werden. Nun gut, manche von ihnen landen hinterher in der Z-Promi-Ecke und bevölkern das Dschungelcamp - aber das ist ja nicht wirklich etwas, womit man so gern angibt. Im übrigen scheinen viele auch nicht zu verstehen, dass es bei Kunst in erster Linie nicht darum geht, berühmt zu werden, sondern darum, eine eigene Ausdrucksform zu finden. Vor allem aber ist eines noch immer nicht ganz klar: Nicht jeder kann ein Superstar werden. Selbstverständlich steckt in jedem von uns irgendein Talent und eine Besonderheit, aber nur die wenigsten werden zu Stars - so ist unsere Welt nun mal. Und ja - auch ich war mal jung und habe geglaubt, es gehe wirklich darum, den neuen Superstar, das neue Supertalent oder das neue Topmodel zu finden und dass tatsächlich immer der bzw. die Beste oder zumindest Beliebteste gewinnt. In Wirklichkeit ist der eigentliche Verlierer jedoch die Person, die die Staffel gewinnt - und sich am Ende in einem Knebelvertrag wiederfindet, der sie als neue Hochleistungskuh des Unterhaltungsfernsehens ausweist, die irgendwann einmal auf dem Schlachthof des Vergessens landet, sobald sie nicht mehr gemolken werden kann. Aber nicht nur die vermeintlichen Gewinner, sondern gerade auch diejenigen, die am Anfang schon ausgemustert werden, sind Opfer dieser Unterhaltungsmaschinerie - inzwischen haben sich schon einige von ihnen trotz Schweigegebots an die Öffentlichkeit gewandt und ausgepackt, etwa jener junge Mann, der 2019 aufgrund seiner Homosexualität gezwungen wurde, in High Heels zum DSDS-Casting zu erscheinen, oder die junge Frau, die von der britischen Casting-Show X-Factor fast in den Selbstmord getrieben wurde. Natürlich kann man die Kandidaten da nicht ganz aus der Verantwortung nehmen - bevor du einen Vertrag unterschreibst, solltest du ihn besser auch lesen, und du solltest dir auch ganz genau überlegen, ob du das, was darin steht, auch wirklich tun willst. Generell möchte ich aber sagen: Wer wirklich Talent hat und damit auch etwas erreichen will, sollte sich besser nicht auf Casting-Shows verlassen. Generell scheint es aber so zu sein, dass immer weniger Leute wirklich Interesse an diesen Sendungen haben - warum sonst steckt man Kandidaten in Plüschtierkostüme oder setzt auf das altbewährte Mittel der Nacktheit, um Quoten einzufahren? Liebe Top-Eierer Numero 35: Es scheint, als seid ihr bald Geschichte, also findet euch lieber damit ab.

Top-Eierer Numero 36: Leute, von denen man nicht so richtig weiß, warum sie berühmt sind

Kommen wir also zu jenen, von denen wir meistens nicht so genau wissen, warum die jetzt berühmt sind, die aber jeder zu kennen scheint - selbst wenn er weder Klatschpresse liest noch Trash-TV schaut. So wie eben die titelgebende Person dieses Artikels - denn sind wir uns ehrlich, die meisten kennen Herrn Wendler doch eher wegen seiner Schwurbel-Eskapaden, möglicherweise kannten sie ihn zuvor noch als irgendeinen Typen, der eine gerade mal volljährige Frau geheiratet hat und öfter mal von Oliver Kalkofe parodiert wurde, oder als Running Gag in Jan Böhmermanns Sendung (so wie ich). Aber ich möchte mich da nicht ausnehmen - wir alle vergessen mitunter, wie wertvoll unsere Aufmerksamkeit ist, und schenken sie gerne jenen, bei denen es besser gewesen wäre, man hätte sie ignoriert. Manche haben sich dieses Phänomen zunutze gemacht - und sind jetzt Trash-TV-Stars oder Influencer. Die einen scheinen nie der frühkindlichen Trotzphase entwachsen zu sein und denken: "Negative Aufmerksamkeit ist besser als gar keine Aufmerksamkeit." Die anderen haben für sich ein super Konzept gefunden, um sich teure, sinnlose Produkte leisten zu können, ohne dafür einen konventionellen Job annehmen zu müssen - und auf einmal schauen Leute ganz freiwillig endlose Werbevideos. Und wollen am liebsten alles haben, was darin gezeigt wird - denn wer noch sehr jung ist, durchschaut natürlich nicht, dass sein Idol damit Geld verdient. Vor allem dann nicht, wenn suggeriert wird, der Influencer habe eine persönliche Beziehung zu seinem Publikum. Eine eigene Meinung darf man dann halt nicht mehr haben - sonst läuft man nämlich Gefahr, seine Follower vor den Kopf zu stoßen. Manchen ist offenbar alles so egal, dass sie Werbedeals mit den dubiosesten Firmen eingehen, um Reichweite zu generieren, und in ein Land ziehen, das permanent Menschenrechte mit Füßen tritt, um Steuern zu sparen. Die Menge an Information, die wir heute zur Verfügung haben, macht, dass rund um die Uhr um unsere Aufmerksamkeit gebuhlt wird - und wir von allen Seiten mit Anfragen bombardiert werden. Und irgendwann verlernen wir, pure Berieselung von echter Information zu unterscheiden - und am Ende bekommt ein veganer Koch, der seine antisemitischen Gewaltphantasien in Caps Lock auf Telegram herausplärrt, mehr Aufmerksamkeit als ein seriöser Wissenschaftler, der erklärt, warum es für Covid-Impfungen keine "Notfallzulassung" gab. Und eine junge Dame mit Schlauchbootlippen, die ein überteuertes Haarshampoo bewirbt, generiert tausendmal mehr Follower als ein haariger Typ, der mit gut recherchierten YouTube-Videos versucht, die Köpfe junger Leute mit ein wenig Inhalt zu füllen. Und am Ende weiß ich, dass Sarah und Pietro Lombardi sich getrennt haben, weil Social Media mich monatelang mit dieser Information vergewaltigt hat, aber um zu wissen, wie es um den Klimawandel steht, muss ich immer noch selber aktiv werden. Deshalb kommentiere ich auch so viel - weil ich mitbekomme, dass der eine oder andere doch irgendwann einmal anfängt, nachzudenken. Liebe Top-Eierer Numero 36: Könnt ihr nicht zur Abwechslung mal etwas Vernünftiges tun?

Top-Eierer Numero 37: Leute, die langweiligen Dingen einen fancy Namen verpassen

Bevor ich Fahrrad fahren lernte, fuhr ich ab und zu mit einem ausrangierten Tretroller, der in unserer Garage stand - wem er ursprünglich gehört hatte, weiß ich nicht mehr. Er war rot, mit einem Rahmen aus Eisen, einem Trittbrett aus Holz und kleinen Gummireifen. Außer mir fuhr aber kaum noch jemand mit diesem Gefährt - denn Tretroller waren uncool, und wer was auf sich hielt, fuhr BMX oder später Mountainbike, ansonsten nutzte man Go-Carts oder Inline-Skates. Tretroller waren ein Relikt aus der Nachkriegszeit, als man nichts hatte und Roller zu den wenigen Spielgeräten gehörten, die Kindern zur Verfügung standen - jedenfalls erzählte man uns das so. Dann kam die Jahrtausendwende, und auf einmal sah man überall in der Stadt die obligatorischen Klapproller aus Leichtmetall, die nicht nur von Kindern, sondern auch von Erwachsenen genutzt wurden. Und damit sie das dröge Image verloren, bekamen sie auch einen neuen Namen: Scooter. Das klingt natürlich ganz anders als "Tretroller"! Und auf diese Weise wurde aus jenen altmodischen Gefährten, die in den Achtzigern und Neunzigern in den hintersten Winkeln von Garagen verstaubten, ein hippes Tool, das jeder haben musste. Jaja! Und nicht nur der Tretroller bekam durch einen fancy Namen ein neues Image - die Methode, etwas Langweiliges zum neuen heißen Scheiß zu machen, indem man ihm einen cool klingenden fremdsprachigen, meistens englischen Namen verpasst, hat inzwischen schon längst Schule gemacht. Generationen von Kindern durften bei Magenschmerzen nur ekligen Haferschleim essen - bis es im letzten Jahrzehnt plötzlich Mode wurde, zum Frühstück Porridge bzw. Oatmeal zu essen. Nun muss ich zugeben - ich esse morgens selbst gern eine Schüssel Haferbrei, schön mit Hafermilch angerührt und mit frischen Früchten und einer Handvoll Nüssen garniert. Und natürlich klingen "Haferschleim" und "Hafergrütze" auch nicht sonderlich appetitlich - ersteres klingt doch sehr nach Körpersekreten, letzteres nach Entenscheiße. Aber auch das weitaus angenehmere Wort "Haferbrei" stinkt neben einem fancy englischen Namen doch ganz schön ab. Ähnlich uncool klingt "altrosa" - ein Wort, das man mit Oma-Strickjacken, Kittelschürzen und Kreuzstich-Deckerln in alten Bauernhäusern verbindet. "Millennial Pink" ist zwar dasselbe, aber nachdem die coolen Influencer es für sich entdeckt hatten, war es Ende des letzten Jahrzehnts auf einmal total cool, sein Outfit mit freshem Millennial Pink aufzupeppen. Ändert zwar nichts daran, dass ich es immer noch hässlich finde, aber wenigstens hat es einen Namen, der so richtig nach In-Crowd klingt. Und es muss auch nicht immer Englisch sein: Als man auf die Idee kam, die in Vergessenheit geratene Rauke bei ihrem italienischen Namen Rucola zu nennen, erlebte der wegen seines scharfen Geschmacks vormals nicht besonders beliebte Salat im Zuge des Trends zu mediterraner Küche Anfang der 2000er eine fulminante Renaissance, und auf einmal durfte Rucola in keinem Salat, Risotto oder Pesto und auf keiner Pizza mehr fehlen. Und denken wir nur an die Modetrends: Es vergeht kaum noch ein Jahr, in dem man nicht ständig über bisher unbekannte englische Bezeichnungen stolpert, bei denen sich hinterher herausstellt, dass sie Kleidungsstücke benennen, wie man sie selbst schon im eigenen Schrank hängen hatte oder zumindest auf der Straße sah: Die Röhrenhose wurde zur Skinny Jeans, das langärmlige T-Shirt zum Longsleeve und der Einteiler hießt heute Onesie. Aber da wir ja alle mit Werbung aufgewachsen sind, haben wir uns daran gewöhnt - und wenn irgendetwas, das wir im letzten Jahr noch total langweilig fanden, auf einmal einen aufregenden, internäschonäll klingenden Namen hat, finden wir es auf einmal total fresh und fancy! Eigentlich traurig, dass wir so leicht zu durchschauen sind. Liebe Top-Eierer Numero 37: Ihr habt das Spiel verstanden!

Und nachdem ich mir wieder mal ordentlich Luft gemacht habe, kann ich euch ohne schlechtes Gewissen bis zum nächsten Mal verabschieden. Und hoffen, dass ihr euch bis dahin ordentlich aufführt und keinen Müll kauft. Bon voyage!

vousvoyez

Mittwoch, 13. Oktober 2021

Die Corona-Infektion eines Tigers dürfte das geringste Problem sein, wenn der Abstand von 1,5 m unterschritten wird

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Tatsächlich kann man sich über manche Nachrichtenmeldungen nur wundern. Und in den letzten Tagen hatte ich als Österreicherin bekanntlich sehr viel, worüber ich mich wundern konnte. Nicht nur in meinem eigenen Land - auch meine werten Nachbarn hatten viel zu berichten. Etwa zu dem, was sich am Dienstag in Leipzig abspielte: Der deutsche Rockmusiker Gil Ofarim soll nach eigener Aussage an der Rezeption eines Hotels der Kette Westin aufgefordert worden sein, seine Davidstern-Kette abzunehmen, um einchecken zu dürfen. (Kleiner Fun Fact: Ich habe erst nach zwei Tagen gecheckt, dass es sich bei Ofarim tatsächlich um jenen Typen handelt, der in meiner Jugend durch eine legendäre Bravo-Foto-Love-Story bekannt wurde.) Er schilderte diesen Vorfall in einem Instagram-Video, lautstarke Empörung und Solidaritätsbekundungen waren die Folge. Der beschuldigte Mitarbeiter streitet ein solches Verhalten ab und erstattete Anzeige gegen Herrn Ofarim wegen Verleumdung - dieser hat mittlerweile eine Gegenklage eingereicht. Was mich betrifft, ich möchte Herrn Ofarim keine Unredlichkeit unterstellen - es wird sich hoffentlich bald herausstellen, wer hier im Recht ist und wer im Unrecht -, da ich jedoch nicht dabei war, möchte ich auch keine Spekulationen anstellen. Ich finde es allerdings durchaus bemerkenswert, wie die Westin-Kette selbst mit den Vorwürfen umgeht.

Schon kurz nachdem Ofarims Video viral ging, veröffentlichte diese nämlich ein Statement auf ihrem Instragram-Account. Schon dieses war äußerst seltsam, da Antisemitismus hier nicht einmal thematisiert wurde; stattdessen fiel das Wort "integrieren", wobei man sich fragt, was es bei einem gebürtigen Deutschen zu integrieren gibt. Noch peinlicher wurde es allerdings später am Tag, als sich Mitarbeiter hinter einem Banner vor das Hotel stellten - das Banner zeigte die Israel-Flagge sowie den muslimischen Halbmond. Wie um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, fand anschließend eine Kundgebung statt, für die Sicherheitsleute der Pro GSL beauftragt wurden, von der bekannt ist, dass ihre Geschäftsführung nicht nur in der rechtsextremen Szene involviert ist, sondern auch Verbindungen zu militanten Neonazi-Gruppierungen hat.

Ähnlich wie der Anschlag in Halle an der Saale im Jahr 2019, so hat auch dieser Vorfall eines deutlich gemacht - nämlich, dass Antisemitismus kein Problem der Vergangenheit ist, sondern immer noch fortdauert. Bevor aber hier wieder Leute Schnappatmung bekommen, möchte ich eines klarstellen: Es geht mir weder darum, mich in Schuldgefühlen zu suhlen, noch möchte ich, dass ihr euch schlecht fühlt. Mir ist bewusst, dass der Zweite Weltkrieg seit mehr als einem dreiviertel Jahrhundert vorbei ist, und ich weiß, dass niemand von uns, die wir viel später geboren wurden, am damaligen Völkermord an den Juden schuld ist. Es geht mir darum, antisemitische Strukturen aufzuzeigen und zu erklären - wir sind nicht verantwortlich für die Vergangenheit, aber wir sind verantwortlich für die Zukunft. Und ich hoffe, dass ich den einen oder anderen ein wenig für dieses Thema sensibilisieren kann.

Nun, ich denke, es ist für niemanden mehr neu, dass Judenfeindlichkeit keine Erfindung von Hitler und den Nazis ist. Und auch heute betrifft sie nicht ausschließlich Nazis und Rechte, sondern durchaus auch Leute, die sich selbst eher im linken Spektrum verorten. Antisemitismus ist schon so alt und auch so globalisiert, dass früher oder später auch jeder Verschwörungsmythos damit in Berührung kommt. So kennt man antisemitische Vorurteile bereits aus der Spätantike und dem Urchristentum. Die Gründe für den Hass gegen Juden sind vielfältig, sie können religiöser, sozialer, politischer, kultureller genauso wie verschwörungsideologischer Natur sein - generell ist Antisemitismus aber so ungewöhnlich anpassungsfähig, dass die Tendenz, den Juden die Schuld für alles Schlechte in der Welt zu geben, bis heute nicht ausgestorben ist. Auch antijüdische Stereotype ähneln sich über die Jahrhunderte hinweg immer stark, selbst wenn sie mit der Realität nichts zu tun haben. Schon der Begriff "Antisemitismus" zeigt die pseudowissenschaftlichen Tendenzen dieser Ideologie: Der Begriff "Semiten" bezeichnet seit dem 18. Jahrhundert eine Sprach- und Völkergruppe, um sie von jener der "Arier" zu unterscheiden. Christian Lassen und Ernest Renan etablierten den ideologischen Begriff des Semitismus, um der vermeintlichen Minderwertigkeit jener Bevölkerungsgruppe wissenschaftliche Legitimation zu verliehen. Wie wir es ja auch vom Kolonialismus schon kennen.

Bereits die Lektüre der Thora und des Alten Testaments lässt erkennen, dass die Israeliten sich stets als Fremdkörper in einer feindlichen Umgebung begriffen. Bis 1945 gingen viele Historiker und Theologen davon aus, dass Judenfeindlichkeit einzig daraus resultierte, dass das Volk Israel sich als von Gott auserwählt verstand - was angesichts dessen, dass sich nahezu jede Religion als die einzig richtige sieht, allerdings mehr als merkwürdig liest. Festgestellt werden kann allerdings, dass der jüdische Monotheismus um 1000 v. Chr. inmitten all der anderen polytheistischen und synkretistischen Kulturen eine Sonderstellung einnahm - und ein wesentliches Element für Juden im Exil war, um die eigene Identität zu bewahren. Der christliche Antijudaismus wiederum entwickelte sich etwa um 100 n. Chr. durch die zunehmende Eigenständigkeit des Christentums und die darauffolgende Christianisierung Europas. Seit dem 4. Jahrhundert, jener Zeit, in der das Christentum im Römischen Reich zur Staatsreligion erhoben wurde, wurden Juden in Europa rechtlich, sozial und ökonomisch benachteiligt, ausgegrenzt und in der Folge auch vertrieben und ermordet. Gerechtfertigt wurde dies in erster Linie damit, dass die Juden Jesus Christus als Erlöser abgelehnt und seinen Tod herbeigeführt hätten. Entsprechend sah man die Geschichte der Judenverfolgung als "Strafe Gottes" an und kultivierte gleichzeitig das Bild des kriminellen, mordlustigen Juden.

Im Mittelalter genossen Juden in Frankreich als Händler besondere Privilegien, weshalb in anderen Regionen, in denen ihnen nach wie vor misstraut wurde, geglaubt wurde, allen Juden gehe es besser als dem Rest der Bevölkerung. Da für die meisten von ihnen nur das wenig angesehene Geldwesen übrig blieb, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, und deshalb viele Christen Schulden bei ihnen hatten, setzte sich allmählich das Stereotyp des habgierigen Juden fest. Während der Kreuzzüge im 11. Jahrhundert wurden zahlreiche jüdische Gemeinden niedergemetzelt, als vermeintliche Verbündete mit dem Feind standen Juden auch im Inland unter Generalverdacht. Juden mussten Schutzsteuern zahlen und wurden in den meisten Städten in Ghettos verbannt, die mit Mauern abgetrennt waren. Etwa ab Mitte des 12. Jahrhunderts wurden Juden immer wieder verschiedener religiöser Vergehen beschuldigt; so dichtete man ihnen beispielsweise an, christliche Kinder zu schlachten und deren Blut in ihrem Passahbrot zu verarbeiten. Eine Behauptung, die schon angesichts dessen, dass der Verzehr von Blut laut jüdischer Speisevorschriften nicht gestattet ist, und des Sinns des Passahfestes, welches unter anderem die Ablösung von Menschen- durch Tieropfer thematisiert, erschreckend unterkomplex ist, aber zu Folterungen und Hinrichtungen führte. Neben Hostienschändung und Gotteslästerung wurden sie außerdem im Jahr der großen Pestepidemie der Brunnenvergiftung beschuldigt, obwohl ihre Ghettos genauso von der Pest betroffen waren wie die übrigen Städte. Im 13. und 14. Jahrhundert kam es vermehrt zu Pogromen gegen und Vertreibungen der Juden, wodurch gegen Mitte des 14. Jahrhunderts nur noch wenige von ihnen in Mitteleuropa lebten. Der Antisemitismus der damaligen Zeit wurde übrigens häufig auch mit Antifeminismus verknüpft, wodurch die Vorstellung von Hexensabbaten aufkam, in denen Hexen zusammen mit Juden aus christlichen Kindern angeblich eine "Hexensalbe" herstellten. Eine beliebte Darstellung des Hochmittelalters war das Bildmotiv der "Judensau", welche das Verbot des Verzehrs von Schweinefleisch für Juden aufgriff und diese damit verhöhnte.

Humanismus und Reformation versprachen zunächst mehr Toleranz gegenüber Juden, Bestrebungen, die von Inquisitoren torpediert wurden. Martin Luther warb zunächst für die respektvolle Behandlung und gesellschaftliche Integration von Juden, doch nach jüdischen Missionserfolgen machte er eine Kehrtwendung; jetzt unterstellte er Juden heimliche Raub- und Mordabsichten gegen Christen und rief Fürsten dazu auf, Synagogen, jüdische Schulen und Wohnungen zu zerstören und ihre jüdischen Untertanen zu internieren, vertreiben oder zu Zwangsarbeit zu verpflichten - was diese jedoch mehrheitlich nicht befolgten, da ihnen sonst deren Steuereinnahmen entgangen wären. Auch die Aufklärung übernahm antisemitische Stereotype, im 19. Jahrhundert gingen christlicher und rassistischer Judenhass ineinander über - so wurde etwa die mittelalterliche Ritualmordlegende wiederbelebt. Die Einschränkung beruflicher Möglichkeiten für Juden, die diese in den Handel und ins Geldwesen drängten, bediente bereits im Mittelalter das Vorurteil, alle Juden seien machthungrig und geldgierig. Daraus entwickelte sich allmählich die Vorstellung, die Juden hätten sich zusammengeschlossen, um die Weltherrschaft anzustreben - oder sie zögen in Wirklichkeit bereits im Hintergrund die Fäden. Auch irritierende Neuerungen im kulturellen Bereich wurden gern den Juden angelastet - etwa die von den Nationalsozialisten so bezeichnete "entartete Kunst". Aufklärerische Philosophen wie Voltaire und Hegel wiederum warfen den Juden die Erfindung einer Gottesfigur und des monotheistischen Glauben vor - ich wiederhole es noch einmal, der Prozess der Aufklärung ist noch lange nicht abgeschlossen und sollte trotz aller Errungenschaften auch kritisch betrachtet werden.

All diese historischen Verwicklungen führen uns hin ins frühe 20. Jahrhundert; das Ende der Monarchien nach dem Ersten Weltkrieg stürzte sowohl Deutschland als auch Österreich in große Unsicherheit, mit dem Nationalismus erlebte auch der Antisemitismus neuen Auftrieb und richtete sich vor allem gegen jene Juden, die in Führungspositionen aufgestiegen waren. So wurden alle Krisenphänomene dem "Weltjudentum" angelastet; all diese Strömungen waren der perfekte Nährboden, auf denen die Ideologie des Nationalsozialismus prächtig gedeihen konnte. Entsprechend konnte die Kirche den judenfeindlichen Bestrebungen der NS-Propaganda nichts entgegensetzen, und es gab nur wenige Persönlichkeiten aus dem christlichen Lager, die sich aktiv gegen diese Vernichtungspolitik stellten, und diese konnten den Holocaust nicht aufhalten, der im Nachhinein wie die logische Konsequenz aus jahrhundertelang geschürtem Judenhass erscheint. Wie schon zuvor angemerkt, ist Antisemitismus allerdings kein rein abendländisches Phänomen; die Protokolle der Weisen von Zion, ein antisemitisches, auf fiktionalen Texten basierendes Pamphlet, das den antisemitischen Diskurs bereits vor der NS-Zeit bestimmt hatte, stammen aus dem Russischen Kaiserreich und sind heute auch in islamistischen Kreisen sehr angesehen. Allgemein war die Toleranz in muslimischen Gesellschaften gegenüber den Juden weitaus größer als in christlichen, die Expansion nach Europa etablierte jedoch teilweise auch unter Muslimen antisemitische Tendenzen, in größerem Ausmaß jedoch erst seit der Staatsgründung Israels. Dass Islam deswegen nicht gleichzusetzen ist mit Judenhass, braucht eigentlich nicht erwähnt zu werden, aber heutzutage kann man sich da bekanntlich nie sicher sein.

Nun halten wir uns ja alle für ausreichend aufgeklärt, um den Vorwurf des Antisemitismus weit von uns weisen zu können. Antisemiten, das sind immer die anderen. Und häufig glauben und verbreiten Leute antisemitische Verschwörungsmythen, während sie überzeugt sind, keine Antisemiten zu sein. Tatsächlich sind diese auch häufig nicht auf den ersten Blick als antisemitisch erkennbar - nicht selten werden sie durch Codes verschleiert, die bei näherem Hinsehen richtig erschreckend sein können. Ein beliebtes Kleidungsstück der Proud Boys, jener rechtsextremen Organisation, die an dem Sturm auf das Kapitol im Januar dieses Jahres beteiligt war, ist etwa ein gelb-schwarzes Poloshirt mit der Aufschrift 6MWE. Dies ist eine Chiffre für "Six millions were not enough" (sechs Millionen waren nicht genug), womit die Opfer des Holocaust gemeint sind. Auch Xavier Naidoo, die singende Beileidskarte, verbreitet in seinen Songs gerne mal antisemitische Codes; als er deswegen vor Gericht stand, kam er allerdings mit der Behauptung davon, dass er dies nicht gewusst habe und seine Texte falsch interpretiert worden seien. Irgendwie fängt man angesichts solcher Ausreden an, an der Wehrhaftigkeit des Rechtsstaates zu zweifeln.

Der heutige Antisemitismus ist, wie schon gesagt, in vieler Hinsicht eine Wiederholung dessen, was wir bereits seit dem Mittelalter kennen - nur geht es heutzutage nicht mehr um Brunnenvergiftung, sondern um Chemtrails, und die alte Ritualmordlegende findet sich in den QAnon-Geschichten wieder. Nach wie vor sind Leute geneigt, einen Schuldigen zu brauchen, um sich negative Entwicklungen zu erklären, und nach wie vor sind die Juden hier dankbare Opfer. Das haben wir vor allem jenen Verschwörungsmythen zu verdanken, die zwei wesentliche Urängste der Menschen ansprechen: Einerseits die Angst vor dem vermeintlich Fremden und Unbekannten, andererseits die vor Mächten, die uns manipulieren. Obwohl die meisten von uns kaum Kontakt zum jüdischen Leben haben, gehören antisemitische Ressentiments für Juden auch heutzutage zum Alltag. Aktuell ist Antisemitismus noch dazu schwer von Antizionismus zu unterscheiden, denn auch Juden, die keinen Bezug zum Nahen Osten haben, werden heutzutage gerne mit dem Staat Israel in Verbindung gebracht und für den Nahost-Konflikt verantwortlich gemacht. Auf diese Weise wird Antisemitismus gerne als Israel-Kritik getarnt. Dazu ist zu sagen - natürlich ist Kritik an der Politik Israels erlaubt, aber wer alle Juden pauschal dafür verantwortlich macht und ausschließlich Israel als Feindbild bemüht, ist gar nicht an einem offenen Diskurs interessiert, sondern nur daran, antisemitische Ressentiments zu steuern. Denn die Menschenrechte in anderen Ländern scheinen solchen Leuten nicht so wichtig zu sein. Um nicht in die Falle des Antisemitismus zu tappen, empfiehlt sich übrigens der sogenannte 3-D-Test.

Ich habe ja bereits ausgeführt, dass Linkssein oder sich der politischen Mitte zuzuordnen keineswegs vor Antisemitismus schützt, ebenso wenig wie Bildung - die Corona-Proteste haben beispielsweise ein äußerst heterogenes Publikum, aber hier finden sich viele Verknüpfungen zum Antisemitismus. Hinzu kommt, dass sich die Grenzen des Sagbaren vor allem seit 2015 immer weiter verschoben haben. Auch die Präsidentschaft Donald Trumps führte zu einer Enthemmung der Bevölkerung, und mittlerweile ist es so, dass man schnell in der linksgrünversifften Ecke landet, wenn man Anstand fordert, weil andere sich dadurch in ihrer so hochgehaltenen Meinungsfreiheit eingeschränkt fühlen. Fest steht jedoch, dass Antisemitismus immer noch da ist und in seiner Gesamtheit genauso grausam, wie er es auch früher schon war, auch wenn sich der Diskurs verschoben hat - und dass er selbst in Gesellschaften ohne jüdischen Anteil toxisch wirken kann. So wird Antisemitismus häufig auch zur Schuldabwehr genutzt - man wirft den Juden vor, durch die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Holocaust die eigene nationale Identität zu diffamieren. Geleugnet wird die Shoah mittlerweile nicht mehr so häufig, sieht man mal von alten Nazi-Tanten wie Ursula Haverbeck ab - heutzutage geht die Tendenz eher dahin, zu behaupten, die Juden bzw. die Rothschilds hätten den Holocaust ausgelöst, um den Staat Israel gründen zu können. Andere wiederum vergleichen sich selbst mit den Opfern, tragen Judensterne mit der Aufschrift "ungeimpft" - was man von den Dieselfahrern übernommen hat -, setzen die Impfung mit dem Holocaust gleich und halten sich für die neue Sophie Scholl. Bisher war die Justiz der Meinung, dass dies nicht strafbar ist - zumindest in Deutschland scheint sich das Bewusstsein jedoch inzwischen gewandelt zu haben. Und ja, auch ich werde immer wieder einmal mit antisemitischen Verschwörungsmythen konfrontiert - denn wenn man an eine Verschwörung glaubt, fängt man schnell einmal an, die Rothschilds dafür verantwortlich zu machen, auch wenn deren politische Macht längst nicht mehr so groß ist wie im 19. Jahrhundert, oder auch den amerikanischen Investor George Soros, der bereits seit Beginn der 1990er Jahre für weitaus mehr verantwortlich bemacht wird, als ein einzelner Mensch bewerkstelligen könnte.

Reflektieren wir also noch einmal: Antisemitismus ist seit Jahrtausenden in unserer Gesellschaft verankert, so dass er in jedem Zeitalter und jeder Generation wiederkehrt - weshalb er etwas ist, was uns nach wie vor alle angeht. Viele antisemitische Motive werden unwissentlich verbreitet, was einen allerdings nicht von Eigenverantwortung entbindet. Und noch einmal: Es geht nicht darum, dass wir bis zum Ende unserer Tage ein schlechtes Gewissen haben müssen - es geht darum, zu verhindern, dass sich Verbrechen wie die Shoah irgendwann wiederholen. Und dabei geht es nicht nur um die Juden, sondern um uns alle; es geht darum, Hass und Verschwörungsmythen weniger Platz in unserer Welt zu geben, damit wir endlich freier miteinander umgehen können. Es geht darum, dass Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit keine Selbstverständlichkeit sind, sondern immer wieder aufs Neue erkämpft werden müssen. Es kommen Zeiten auf uns zu, die für uns alle sehr herausfordernd sein werden - und sie werden nicht leichter, wenn wir uns andauernd gegenseitig beschuldigen. Ich weiß, dass die Auseinandersetzung mit diesem Thema keinen Spaß macht, aber wir sehen doch bereits, dass sie notwendig ist - im Sommer wurde auf dem Hauptplatz in meiner Stadt ein jüdischer Gebetstempel aufgestellt, der von der Polizei bewacht werden musste. Und ganz allgemein sind jüdische Gebetshäuser heutzutage wieder vermehrt auf Polizeischutz angewiesen. Das Problem ist, dass man Juden in unserer Gesellschaft bis heute viel zu selten wahrnimmt - wahrscheinlich, weil es seit Ende des Zweiten Weltkriegs in unseren Breiten nicht mehr allzu viele gibt. Aus der Schulzeit verbindet man Juden größtenteils mit Leichenbergen und schlechtem Gewissen - Greifbarkeit sowie einen Abbau von Fremdheit gab es hier kaum, moralische Fragen wurden häufig nicht beantwortet. Mitleid reicht nicht aus, um dieses Thema aufzuarbeiten, denn dieses trennt uns mehr, als es uns verbindet. Wir müssen uns bewusst sein, dass jede Weltanschauung in Fanatismus umschlagen kann, weil immer die Gefahr besteht, sich die Welt durch Feindbilder einfacher zu gestalten - und dass Verschwörungsmythen eine Gefahr für die Demokratie Europas bedeuten.

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