Wie ich in einem älteren Artikel bereits erklärt habe, ist das kollektive Gedächtnis ja nicht immer so zuverlässig, wie man vielleicht denkt. Trotzdem gibt es Erinnerungen, die uns alle verbinden - auch, weil es genügend Aufzeichnungen davon gibt. Und das gilt nicht nur für Kriminalfälle oder ganz allgemein Nachrichten-Ereignisse - die Findigeren unter euch werden wahrscheinlich schon gewittert haben, dass ich wieder mal über Filme sprechen will. Speziell über Filme von Disney - und das hat einen ganz bestimmten Grund.
Ich hatte nämlich gestern ganz spontan endlich die Gelegenheit, den "verbotenen" Disney-Film zu sehen. Wobei "verboten" jetzt natürlich maßlos übertrieben ist - selbstverständlich ist es niemandem verboten, diesen Film zu sehen, er wird nur praktisch nirgends mehr gezeigt. Und zwar deshalb, weil Disney lieber so tut, als hätte es ihn nie gegeben. Ich erinnere mich, in meiner Stammvideothek viele Male das Cover der VHS-Kassette gesehen zu haben, aber ich kam nie auf die Idee, sie mir mal auszuleihen und anzusehen. Nachdem ich erfuhr, dass Disney ihn praktisch totschweigen will und er weder auf der neuen Streaming-Plattform Disney + zu sehen noch auf DVD erhältlich ist, bereute ich das - denn nachdem so viel darüber diskutiert wurde, dass Disney ihn praktisch unterschlägt, hätte ich mir gerne ein eigenes Urteil gebildet. Erfreulicherweise ließ mir jedoch gestern jemand diesen Film zukommen, so dass mir das mittlerweile doch noch möglich ist. Also fange ich gleich damit an.
Die Rede ist von Song of the South, einer Kombination aus Real- und Zeichentrickfilm, die 1946 gedreht wurde und im deutschsprachigen Raum unter dem Namen Onkel Remus' Wunderland veröffentlicht wurde. Er basiert auf einer Sammlung von afro-amerikanischen Volkserzählungen unter dem Titel Uncle Remus, die von Joel Chandler Harris aufgeschrieben wurden und heute zu den Meisterwerken der amerikanischen Literatur gezählt werden. Der Film erhielt 1948 einen Oscar in der Kategorie "Bester Song" für das von Allie Wrubel und Ray Gilbert geschriebene Lied Zip-a-Dee-Doo-Dah, außerdem eine Nominierung für die Filmmusik, während James Baskett, der die Titelfigur verkörperte, einen Ehrenoscar bekam. Auf den ersten Blick ist das also keineswegs ein Werk, das man verstecken müsste. Technisch wie musikalisch ist Song of the South auch tatsächlich sehr gut gemacht, die Zeichentricksequenzen versprühen den unwiderstehlichen Charme, der den alten Disney-Filmen eigen ist, und insgesamt macht der Film einen sehr behäbigen, unaufgeregten Eindruck, wie der alte Großvater aus dem Bilderbuch. Wo ist also das Problem?
Nun, das sensibilisierte Auge des heutigen Zuschauers kann diese Frage schnell beantworten: Song of the South suggeriert ethnische Hierarchien als eine Art "natürliche Ordnung". Die Schwarzen tun nicht nur nichts anderes, als den Weißen zu dienen - dies wird auch an keiner Stelle des Films kritisch hinterfragt, ganz im Gegenteil: Man gewinnt den Eindruck, als gäbe es für Menschen mit dunkler Hautfarbe nichts Schöneres, als ihrer hellhäutigen Herrschaft zu Diensten zu sein. Dies wird noch dadurch unterstrichen, dass die Handlung zwar in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, also nach Abschaffung der Sklaverei, angesiedelt ist, dabei aber so wirkt, als sei sie vollkommen aus der Zeit gefallen - sprich, so, als vermittle der Film allgemein gültige Werte, einen Anspruch, den bekanntlich auch Märchen erheben. Anders gesagt: Die untergeordnete Stellung der Schwarzen und die übergeordnete der Weißen wird entpolitisiert und dadurch als "allgemein gültiger Wert" verkauft. Ich erinnere hier an Aldous Huxleys gesellschaftskritischen Zukunftsroman Brave New World, in welchem die Leute von klein auf Tag und Nacht darauf konditioniert werden, mit ihrem von Geburt an zugewiesenen Platz in der Gesellschaft glücklich und zufrieden zu sein und nichts verändern zu wollen. Ähnlich verhält es sich auch mit den schwarzen Plantagenarbeitern in Song of the South - sie akzeptieren ihre untergeordnete Stellung und sind zufrieden, ja sogar glücklich damit, und das, obwohl ihre Armut ebenso sichtbar ist wie der Reichtum der über sie Herrschenden.
Nun, diese Art von serviler Fröhlichkeit findet sich nicht nur in diesem Film - in den meisten Filmen der Zeit vor der Bürgerrechtsbewegung wird suggeriert, dass die Schwarzen gar nichts anderes wollen, als immerfort ihren weißen Herrschern zu dienen, und dass das deswegen vollkommen in Ordnung sei. Und Song of the South ist jetzt kein brutal rassistischer Film in Sinne von David Wark Griffiths The Birth of a Nation von 1915, wo der mordende Ku-Klux-Klan als Befreier der ganz armen Weißen vor den ganz bösen Schwarzen dargestellt wird. Zumindest vordergründig ist Song of the South von einer Harmlosigkeit, wie sie in den meisten damaligen Kinder- und Familienfilmen von Disney Programm ist - wobei seine Langsamkeit gemäß der Sehgewohnheiten der heutigen Zeit wahrscheinlich eher Langeweile hervorruft: Der siebenjährige Johnny, Enkel einer Plantagenbesitzerin, freundet sich mit einem alten schwarzen Mann an, der in einer ärmlichen Hütte auf der Plantage wohnt und den Kindern Geschichten über den listigen Hasen Br'er Rabbit (Meister Lampe) erzählt - diese Geschichten werden denn auch in zauberhaft gestalteten Zeichentricksequenzen dargestellt. Das historisch geschulte Auge kommt angesichts der Bilder in Technicolor und all der singenden Schwarzen nicht umhin, an die Minstrel Shows aus dem 19. Jahrhundert zu denken, die damals bei den Industriearbeitern in den amerikanischen Nordstaaten sehr beliebt waren und in denen Weiße, die oftmals nie einen Schwarzen kennengelernt hatten, diese auf sehr stereotype Weise darstellten - bis in die heutige Zeit leitet sich der Ausdruck "Blackfacing" für das Schminken des Gesichts mit schwarzer Farbe von diesen Shows ab. Dasselbe Bild von Menschen mit dunkler Hautfarbe, das in den Minstrel Shows vorherrschte, wird auch in diesem Film gezeigt: Sie werden zwar nicht als böse, dafür aber als kindlich-naiv, fröhlich und unbekümmert, devot und den Weißen intellektuell unterlegen dargestellt. Keiner der schwarzen Figuren werden nennenswerte eigene Bedürfnisse zugeschrieben, alles ist ausschließlich darauf ausgerichtet, die Bedürfnisse der Weißen zu erfüllen.
Selbstverständlich kann man hier einwenden, dass auch andere Disney-Filme, denken wir nur an Dumbo, Susi und Strolch, Aladdin oder Pocahontas, Stereotype bedienen oder die Geschichte zumindest "entschärfen". Wobei wir natürlich nicht vergessen dürfen, dass diese Filme sich in der Regel sehr alter Vorlagen bedienen, die teilweise noch vollkommen andere Werte vertreten als die, die unseren heutigen Moralvorstellungen entsprechen. Es ist ja allgemein bekannt, dass diese Filme sehr häufig für das antiquierte Frauenbild und das völlig unrealistische Schönheitsideal, das sie vermitteln, kritisiert werden. Wobei die weiblichen Figuren sich ja mittlerweile zumindest von der passiven Rolle der frühen Filme entfernen und in neueren Werken wie Frozen nicht mehr die Ehe als das einzig Erstrebenswerte für eine Frau gilt. Vor allem aber ist Song of the South nicht der einzige Disney-Film, der gewisse Hierarchien als "natürlich" darstellt - denken wir nur an Bambi und Der König der Löwen. Das Ding ist halt - die meisten Stereotype und gesellschaftlichen Ungleichheiten werden in den Disney-Filmen dadurch entschärft, dass sie von Tieren oder zumindest gezeichneten Figuren dargestellt werden, während es sich bei Song of the South zum größten Teil um einen Realfilm mit menschlichen Schauspielern handelt. Aus diesem Grund kann man die rassistischen Klischees hier auch nicht mehr so einfach relativieren oder wegerklären.
Natürlich hätte man mit diesem Dilemma auch anders umgehen können - und ich bin auch nicht die einzige, die findet, dass das besser gewesen wäre. Man hätte den Film aus der zeitlichen und ideologischen Distanz heraus betrachten und so daraus lernen können - immerhin ist es ja nichts Neues, dass die Filme von Disney den Geschmack eines sehr breiten Publikums repräsentieren. Genauso wenig ist es neu, dass Walt Disney selbst schon seit längerer Zeit heftig in die Kritik geraten ist - so werden ihm von Zeitgenossen rassistische, antisemitische und frauenfeindliche Neigungen zugeschrieben, und Kritiker des Kapitalismus werfen ihm und seinem Imperium nicht erst in jüngster Zeit Kulturimperialismus vor. Allerdings darf man auch nicht vergessen, dass es nicht für alle Vorwürfe gegen ihn auch tatsächlich Beweise gibt - beispielsweise, dass er mit dem Nationalsozialismus sympathisiert haben soll. Ein ehrlicher Umgang mit Song of the South wäre für den Disney-Konzern allerdings eine Chance gewesen, aus den eigenen Fehlern eine wertvolle Lektion abzuleiten. So zu tun, als existiere dieser Film nicht, ist im Lichte dessen eher kindisch und feige. Irgendwie erinnert es mich auch an die aktuelle Debatte, man solle mit der Zeit des Nationalsozialismus endlich abschließen, womit eigentlich gemeint ist, man solle nicht mehr darüber reden - auch wenn es selbstverständlich ein großer Unterschied ist, ob man jetzt einen einzelnen Film totschweigt oder gleich eine ganze Epoche.
Nun, wie ich in einem früheren Post erklärt habe, ist all das kein Grund, die Filme nicht weiterhin zu genießen - immerhin sind wir zum Glück größtenteils selbstständig denkende Menschen, die nicht gleich die Demokratie abschaffen wollen, nur weil sie mal Der König der Löwen gesehen haben. Und gewisse Kritikpunkte beschreiben das Gesamtwerk des Disney-Filmimperiums ja auch nur unzureichend. Unbestritten ist, dass diese Filme sehr wohl einen äußerst wertvollen künstlerischen Beitrag innerhalb der Geschichte der Animationsfilme bzw. überhaupt der Filmgeschichte leisten. Und dass sie für die meisten von uns zur Kindheit einfach dazugehören - und das müssen und sollten wir uns auch durch einen etwas kritischeren Blick auf die Materie nicht nehmen lassen.
vousvoyez
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