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Im letzten Artikel habe ich euch ja darauf hingewiesen, dass ich aus der Steinzeit komme - genauer gesagt aus der digitalen Steinzeit. Wobei der erste Vorläufer des Computers - die Analytical Engine - bereits aus dem 19. Jahrhundert stammt, während der des Internets, das Arpanet, bereits im Jahre 1969 erstmals angewendet wurde. Die kommerzielle Nutzung des Internets begann in den 1990er Jahren, ich persönlich kam jedoch erst im Gymnasium wirklich damit in Berührung. Und ich staune noch bis heute, wie schnell und nachhaltig sich unser Alltag dadurch verändert hat - so sehr, dass ich den Unterschied deutlich erkenne, wenn ich mich beispielsweise mit einer Person unterhalte, die nur etwa zehn Jahre jünger ist als ich. Ich vergleiche das gerne mit jener Generation, die zum ersten Mal mit dem Fernseher in Berührung kam: Wie man bei uns größtenteils das erste Mal in Bildungseinrichtungen anfing, das Internet zu nutzen, gingen in den 1950er Jahren die meisten Leute zum Nachbarn oder ins nächste Gasthaus, um sich eine ganz bestimmte Sendung im Fernsehen anzusehen. Entsprechend kann man das Gefühl, zum ersten Mal vernetzt zu sein, ebenso wenig erklären, wie uns die Jugend der 1950er Jahre begreiflich machen kann, wie es ist, wenn man zum ersten Mal vor einem Fernsehbildschirm sitzt. Und irgendwie war sie auch recht spannend, die Zeit, als sich das alles entwickelt und verändert hat. Diese Jahre waren geprägt von einer Mischung aus Nostalgie und Zukunftsoptimismus, bis der 11. September 2001 diese Naivität erstmals bröckeln ließ. Und nachdem wir ein paar Jahre lang unsere Jugend in vollen Zügen genossen hatten, mussten wir allmählich feststellen, dass die Zeiten nicht unbedingt besser werden - und dass die ältere Generation das immer noch nicht kapiert zu haben schien.
Eines der ersten digitalen Phänomene war ja dieses Baby, das zu dem Intro des 1970er-Songs Hooked on A Feeling von Blue Swede (diesen Song muss man als Tarantino-Fan einfach kennen) getanzt hat - ich sah es, wie viele andere auch, das erste Mal in der Serie Ally McBeal, wo es als Halluzination die gnadenlos tickende biologische Uhr einer Frau symbolisiert. Eigentlich handelt es sich dabei um ein Testbeispiel für eine Animationssoftware, das für Werbe- und Demonstrationsvideos ausgewählt wurde und sich Ende der 1990er Jahre auf allen möglichen Websites verbreitete. Durch die Verwendung in Ally McBeal wurde es schließlich allen ein Begriff. Das war nicht lange, bevor ein simples Spiel, das eigentlich als Werbegag für die Whisky-Marke Johnny Walker gedacht war, die Bürocomputer eroberte. Ich spreche natürlich von der virtuellen Moorhuhnjagd, die damals mehr oder weniger in aller Munde war. Ursprünglich wurde es in ausgewählten Kneipen auf jeweils zwei Laptops zur Verfügung gestellt; von dort aus muss es irgendjemand es kopiert und ins Internet gestellt haben, jedenfalls verbreitete es sich im Jahr 2000 via E-Mail wie ein Lauffeuer und ist somit eines der ersten Beispiele für virales Marketing, immerhin war es ja immer noch ein Werbetool. Es hieß sogar, dass das Hühnchen mit den doofen Augen ganze Großraumbüros lahmgelegt hätte und so für Umsatzeinbußen verantwortlich sei. Grund für den Erfolg war aber wohl vor allem die simple Handhabung: Es ging in dem Spiel mehr oder weniger nur darum, so viele Moorhühner wie möglich abzuschießen. Da die Viecher eher langsam flogen, war das auch nicht allzu schwer, und im Nachhinein gesehen muss ich auch sagen, es sah wirklich lustig aus, wie sie mit ihren großen, runden Augen treudoof glotzend durch die schottischen Highlands flogen und nur darauf warteten, abgeknallt zu werden. Damals ging mir die Debatte eher auf die Nerven, und mit sechzehn Jahren waren Büros für mich noch so etwas wie ein fremder Planet. Außerdem habe ich dieses englisch-deutsch gemischte Eurodance-Trashlied Gimme Moorhuhn von Wigald Boning gehasst! Die weiteren Spiele sind gänzlich an mir vorbeigegangen, obwohl danach noch einige Sequels auf den Markt gehauen wurden. Ich erinnere mich nur an ein paar kurze, schlecht gezeichnete und kolossal unlustige Moorhuhn-Clips, die eine Zeitlang während der Werbepausen im deutschen Fernsehen gezeigt wurden.
Zur Moorhuhn-Zeit waren Handys noch weit davon entfernt, internetfähig zu sein. Eines kristallisierte sich jedoch bereits sehr schnell heraus: Sobald das Mobiltelefon zum Massenprodukt wurde, war auch der Wunsch da, sich von der Masse abzuheben. Denn wer will schon wie alle anderen sein (*zwinker*)? Mein erstes Handy, das Nokia 3210, war beispielsweise das erste mit austauschbaren Abdeckschalen, die das äußere Erscheinungsbild des Geräts individualisierten. Und natürlich mussten auch die Klingeltöne und Hintergrundbilder so unverkennbar wie möglich sein - wobei sich dadurch, dass Handys bald über Farbdisplays, Videofunktion sowie polyphone Klangdateien verfügten, ungeahnte Möglichkeiten auftaten. Und auf einmal witterte man mit den Klingeltönen das große Geschäft - was die Ära des Jamba-Sparabos einläutete (ich frage mich bis heute, was das mit Sparen zu tun haben soll). Und jener Werbespots, die bestimmt direkt aus der Hölle kamen und die über kurz oder lang auch zur Zerstörung von Musiksendern wie MTV und Viva beitrugen. Auf einmal wurde man dort ständig mit tanzenden lila Nilpferden, ekelhaft niedlichen gelben Küken, singenden Dinosauriern, Fröschen mit Penis (Penis, hihihihihi!) und diversen anderen 3D-animierten Tieren belästigt, dazu nervige Melodien sowie eine kreischige Männerstimme, die dir ins Ohr brüllt: "SCHICKE JETZT FROSCH 1 AN FÜNFMAL DIE DREI!!!" Und natürlich durften zu Weihnachten auch die beiden Tassen nicht fehlen, die sich gegenseitig beschimpften. Waren die nicht niedlich? NEIN, WAREN SIE NICHT! *heul* Ganz im Gegenteil: Diese in Dauerschleife laufenden Videos von niedlichen Kuschelhäschen, fetten Teufeln, die im Eis einbrechen und Maulwürfen, die dich lieben, obwohl du scheiße bist, machten auf Dauer aggressiv - ebenso wie sich ständig wiederholenden Ansagen: "JAMBA SUCHT DEN KLINGELTONSTAR! HEUTE AM START: SWEETY, DAS KÜKEN!" Raaaaaaaaah!
Was sich heutzutage wohl kaum noch jemand vorstellen kann: Hinter all diesen harmlosen Videos und lustigen Klingeltönen verbarg sich eine Abofalle, die am Ende des Monats die Telefonrechnung schon mal empfindlich in die Höhe treiben konnte. Noch dazu bestand die Zielgruppe durch die Präsenz der Dauerschleife-Werbespots auf den Musiksendern größtenteils aus jenen Menschen, die am leichtesten zu beeinflussen sind: Teenagern. Erschwerend kam noch hinzu, dass unter den voreingestellten Klingeltönen der Handys kaum etwas Vernünftiges zu finden war - ich habe sogar Lieder mit der Diktierfunktion aufgenommen und dann als Klingelton installiert, weil mir das, was auf den Handys zu finden war, häufig den letzten Nerv raubte. Und weil ich eben kein Teenager mehr war, der automatisch das tut, was ihm im Fernsehen gesagt wird. Aber so schnell, wie der Klingelton-Hype gekommen war, verschwand er auch wieder in der Versenkung - das Aufkommen der Handys mit USB-Kabel und schließlich der Smartphones mit direktem Internetzugang machte die teuren Abos endgültig obsolet. Aber natürlich war Jamba nicht bereit, so schnell aufzugeben - in den 2010ern stieg man auf so etwas wie Liebestest-Apps um, die allerdings kaum noch jemanden interessierten. Lustigerweise existiert die Jamba-Website immer noch - sie sieht aus, als wäre das Jahr 2005 nie zu Ende gegangen, und bietet immer noch diese Abos an! Für die anscheinend auch immer noch Leute bezahlen! Und als ob das nicht schlimm genug wäre, hat dieses unsägliche Crazy-Frog-Video mit der Beverly-Hills-Cop-Titelmelodie im Hintergrund mehr als eine Milliarde Aufrufe!
Tatsächlich war dieses komische Viech, das eigentlich gar kein Frosch ist - was man mit ein bisschen Kenntnis von Zoologie eigentlich auch selbst herausfinden könnte, denn Frösche haben keinen Penis - seinerzeit der Star der Jamba-Hölle, und das, obwohl anscheinend alle ihn leidenschaftlich gehasst haben. Und ja, auch ich kann nicht begreifen, was an diesem breitmäuligen Vieh mit seinem nervigen "Ding-ding" eigentlich so ansprechend sein soll. Jedenfalls geht die ganze Geschichte des Crazy Frog auf die Aufnahme eines sechzehnjährigen Schweden zurück, der die Geräusche seines Mopeds imitierte. Über einen seiner Freunde fand sie ihren Weg ins damals noch junge Internet, von wo aus sie für eine schwedische Fernsehsendung entdeckt und auf diversen Spaß-Websites hochgeladen wurde. Irgendwann geriet sie in Vergessenheit - bis sie 2003 von dem schwedischen Animator Erik Wernquist wiederentdeckt wurde. Dieser konstruierte für ein Bewerbungsvideo rund um das Geräusch eine Animation, welche er als "The Annoying Thing" bezeichnete - entsprechend der stimmlichen Wiedergabe des Zweitaktmotors eines Mopeds war auch das Gefährt der Figur, die er da kreierte, unsichtbar, während sie selbst Motorradhelm, Windschutzbrille und Lederjacke trägt (ihr Geschlechtsteil sollte später zensiert werden). Er bekam den Job, und nachdem er etwa ein Jahr lang bei Kaktus Film gearbeitet hatte, wurden externe Firmen auf die Animation aufmerksam - eine davon war Jamba. Diese machte die Figur, die den Namen "Crazy Frog" erhielt, zu einem ihrer populärsten Charaktere und bewarb mit ihr den Klingelton Axel F, jenes Instrumentalstück, das durch die Filmreihe Beverly Hills Cop bekannt geworden war. Ich hoffe nur, dass der arme Eddie Murphy nie davon erfahren hat. Jamba scheffelte Millionen mit diesem fürchterlichen Clip - die eigentlichen Schöpfer hinter dem nervigen Nicht-Frosch erhielten nur einen Bruchteil der Einnahmen. Und als ob das nicht schlimm genug wäre, hat das Vieh auch noch Coldplay von der Spitze der Charts verdrängt! Insgesamt konnte man diesen einen Soundclip von 1997 zu sage und schreibe drei (!!!) CDs verwursten!
Die ständige Präsenz dieser fürchterlichen Animation sorgte jedoch dafür, dass die Leute sie bald zu hassen begannen - natürlich, denn kein normaler Mensch könnte über längere Zeit diese nervige Stimme hören, ohne psychische Schäden davonzutragen. Und du wirst sie auch nicht mehr los - ich werde nach Beendigung dieses Artikels einen halben Tag Barbie Girl hören müssen, um diesen fürchterlichen Eigentlich-nicht-Frosch aus dem Kopf zu bekommen. Entsprechend verkauften sich die Singles auch von Mal zu Mal schlechter, und zum Glück wurde weder aus der geplanten Serie noch aus dem Film etwas - dafür bekam der Crazy Frog ein eigenes Videospiel für PlayStation. Tragisch endete die Geschichte auch für Erik Wernquist, der bis heute sichtlich bestürzt darüber ist, dass es der Crazy Frog sein soll, den er einst der Welt als geistiges Vermächtnis hinterlassen wird. Umso seltsamer, dass dieser fürchterliche Nicht-Frosch mit seinem Axel-F-Clip im Jahre 2018 ein unverhofftes Revival erlebte - das Video klickte sich auf YouTube so gut wie sonst kaum eines, was dazu führte, dass in jüngster Zeit wieder neue Crazy-Frog-Clips produziert wurden. Wobei man sagen muss, dass viele absurd hohe View-Zahlen bestimmter YouTube-Videos wohl dadurch zustande kommen, dass manche Eltern ihre Sprösslinge gerne mal vor YouTube Kids parken - und diese nicht wissen, wie man einzelne Clips überspringt, weshalb sie oft einfach durchlaufen. Nicht die beste Idee, wenn ihr mich fragt, aber als Nicht-Mutter habe ich da nicht mitzureden. Ebenso seltsam finde ich die Wahl des Songs für den neuen Crazy-Frog-Clip, der sich stilistisch genauso nach 2000er-Clubsound anhört wie seine Vorgänger: It's Tricky von Run DMC, einer der wegweisenden Rap-Combos aus den 1980er Jahren. Mit anderen Worten - der Song passt nicht. Null. Und Run DMC haben das auch nicht verdient - deren Musik mag ich nämlich eigentlich ganz gerne.
Zur gleichen Zeit wie die Jamba-Klingeltöne eroberte auch ein weiteres Phänomen, verbunden mit einem weiteren schrecklichen Ohrwurm, das Internet: Schnappi, das kleine Krokodil. Ja, auch dieses Grauen wird von mir heute wieder gnadenlos ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt! Obwohl es sich ja eigentlich, im Gegensatz zu den fürchterlichen Abzocker-Melodien, lediglich um ein harmloses Kinderlied, gesungen von einer Neunjährigen, handelt. Genauer gesagt heißt die Sängerin Joy Gruttmann und ist die Nichte von Iris Gruttmann, Autorin, Komponistin und Musikproduzentin, die unter anderem Lieder für die beliebte Sendung mit der Maus schrieb. Joy sang in ihrem Kinderchor, und im Alter von fünf Jahren wünschte sie sich von ihrer Tante ein Lied ganz für sich alleine. Also schrieb Iris Gruttmann den von Rosita Blissenbach stammenden Text um und komponierte dazu eine Melodie. Das Lied erschien zunächst 2001 auf einer Musikkassette mit Kinderliedern, zwei Jahre später wurde es auf dem Sampler Großes und Kleines mit der Maus veröffentlicht. Von dort aus hat es 2004 wohl irgendeine Person auf eine MP3-Datei konvertiert und im Internet verbreitet - und erreichte innerhalb kürzester Zeit, ähnlich wie Crazy Frog und Moorhuhn, über diverse Foren und Tauschbörsen eine riesige Reichweite, bis es sogar im Radiosender SWR3 gespielt wurde. Es folgte eine CD, die sich massenhaft verkaufte - im Januar 2005 erreichte sie Platz 1 der deutschen Single-Charts und hielt sich da zehn Wochen. Für die Musiksender wurde es außerdem mit einem Zeichentrickvideo kombiniert - und war nicht nur im deutschsprachigen Raum erfolgreich: Unter anderem wurde das Lied ins Englische, Französische, Tschechische, Litauische und Japanische übersetzt. Bereits damals wurde befürchtet, dass der illegale Download urheberrechtlich geschützter musikalischer Werke zu Umsatzeinbußen im Tonträger-Geschäft führen könnten - bei Schnappi schien es jedoch umgekehrt zu sein. Joys zweite Single, Ein Lama aus Yokohama, lief übrigens auch einmal bei Libro in Dauerschleife, als ich gerade irgendwas gesucht habe, während ich irgendein anderes Lied von ihr frisch operiert im Krankenbett hören musste - wie ihr euch also vorstellen könnt, habe ich kein Interesse an weiteren Kostproben ihres musikalischen Talents. Aber zumindest versichert sie, dass sie keines dieser Kinder war, die von ihren Eltern gegen ihren Willen auf die Bühne gezerrt werden. Natürlich gab es von dem Lied auch zahlreiche Parodien, von denen nicht alle besonders schmeichelhaft waren - am bekanntesten ist mit Sicherheit Schri-Schra-Schrödi aus der Gerd-Show. Die Hauptschuld daran, dass das Lied irgendwann in Ungnade fiel, liegt aber sicherlich bei Jamba, die es ebenfalls für ihre Klingeltöne okkupiert haben. Und trotz allen Grolls tut es mir unheimlich leid, dass das Mädchen nach ihrem Erfolg in der Schule gemobbt wurde - anscheinend hatte sie aber genügend Rückhalt in der Familie, jedenfalls wirkt sie heute wie eine relativ gefestigte junge Frau. Von einer weiteren Karriere im Showbusiness träumt sie allerdings nicht - was wahrscheinlich ebenfalls ihr Glück ist, denn einen solchen Erfolg zu wiederholen, ist fast unmöglich.
Und jetzt will ich euch mal was verraten: Eigentlich wollte ich heute etwas Lustiges machen, weil die Themen in letzter Zeit so ernst gewesen sind. Stattdessen habe ich uns jetzt alle re-traumatisiert - es tut mir schrecklich leid! Ich fürchte, wir werden eine Selbsthilfegruppe gründen müssen, um all diese furchtbaren Erfahrungen adäquat verarbeiten zu können. Um den Schaden in Grenzen zu halten, werde ich euch aber zumindest die nervigen Lieder nicht verlinken - sondern im schlimmsten Fall nur die nicht so nervigen Originale. Und ich hoffe, dass ihr mir trotzdem treu bleibt und auch das nächste Mal wieder mit dabei seid! Bon voyage!
vousvoyez