Mittwoch, 27. Mai 2020

Tausende Fliegen können sich nicht irren, wenn es sich um Scheiße handelt!

Und Scheiße haben wir ja in letzter Zeit genug gehört - inzwischen werden die Maßnahmen ja immer mehr gelockert, was das "Diktatur"-Geschrei der Rechtsgestrickten und Aluhüte noch lächerlicher erscheinen lässt, und auch meine unfreiwilligen "Corona-Ferien" sind mittlerweile zu Ende. Da ich mich jedoch in letzter Zeit ausreichend mit den "Aufgewachten" beschäftigt habe, will ich heute mal wieder was anderes erzählen. Und deshalb möchte ich diesen Artikel einem Medium widmen, das heute ein Symbol für Vintage ist, dessen Bedeutung aber, wie ich glaube, in der Vergangenheit stets unterschätzt wurde.

Wie die meisten von euch wissen, bin ich in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts geboren - damals, als Madonna und Michael Jackson die Charts stürmten, Rap noch der neue heiße Scheiß war und noch nicht jeder Haushalt mit einem Computer ausgestattet war. Und es natürlich auch noch kein Internet gab. Was bedeutete, man musste seine Musik noch vorwiegend analog konsumieren - über Radio, Fernsehen oder Tonträger. Die Compact Disc wurde damals noch als neumodische Kuriosität betrachtet, weshalb die Schallplatte nach wie vor das vorherrschende Audio-Medium war. Erst in den Neunzigern wurde das gute alte Vinyl allmählich von den silbernen Polycarbonat-Scheiben abgelöst, und als ich Teenager war, hätte sich niemand mehr mit den viel zu großen, unhandlichen und furchtbar empfindlichen Platten abgegeben - bis auf Dicjockeys sowie ein paar ältere HiFi-Freaks, die stolz auf jeden Kratzer in der schwarzen PVC-Scheibe waren, da er der Beweis dafür war, dass man dieses oder jenes Album schon kurz nach seiner Entstehung besessen und nicht erst viel später gekauft hatte, und die die bessere Klangleistung der CD wegwerfend als "steril" und "unpersönlich" abtaten. Zu Beginn der 2000er Jahre waren CD-Brenner auch für Privathaushalte erschwinglich, so dass ein regelrechter Hype um selbst gebrannte Silberscheiben ausbrach. Nachdem jedoch bereits damals die ersten MP3-Player auf den Markt kamen und damit das Online-Streaming von Musik immer beliebter wurde, war bereits zu dieser Zeit abzusehen, dass auch die Compact Disc irgendwann einmal überholt sein würde.

Was mich betrifft, ich habe das Zeitalter der Schallplatte eher als Zuschauerin erlebt, denn ich war viel zu klein, um den Plattenspieler im Wohnzimmer bedienen zu können, der Bestandteil des damals üblichen HiFi-Turms war - eine Stereoanlage, bestehend aus den Einzelelementen Radio, CD-Player, Kassettenrecorder und Plattenspieler, die übereinander gestapelt waren, oft in einem HiFi-Rack, einem speziellen Regal, das in unserem Fall aus durchsichtigem Plexiglas bestand. Und ich konnte als kleines Kind gerade mal den Kassettenrecorder bedienen, nicht aber den höher stehenden Plattenspieler. Zudem waren die Erwachsenen natürlich auch nicht so begeistert, wenn so ein Zwerg mit seinen schmierigen Patschhändchen die teuren Scheiben begrapschte. Und so war das Audio-Medium meiner Kindheit weder CD noch Schallplatte, sondern die Kassette.

Die Tonbandkassette, in den frühen 1960er Jahren von Philips auf den Markt gebracht, begann in den Siebzigern ihren Siegeszug bei der Jugend und war spätestens in den Achtzigern aus keinem Kinderzimmer mehr wegzudenken. Kassetten waren handlich und robust, und Kassettenrecorder waren im wahrsten Sinne des Wortes kinderleicht zu bedienen - und so wurden die Eltern tagaus, tagein mit den Titelmelodien von Pumuckl, Benjamin Blümchen, TKKG, Bronti Supersaurier oder Bibi Blocksberg genervt. Noch als Teenager saßen meine älteren Geschwister in meinem Zimmer, um Lego zu spielen und ihre alten Pumuckl-Kassetten, die sie mir vererbt hatten, zu hören. Natürlich hatte die Kassette auch den ein oder anderen Nachteil - beispielsweise nutzte sich das Magnetband mit der Zeit ab, und manchmal verließ es auch sein Gehäuse, was zum sogenannten "Bandsalat" führte. Diesem konnte man aber zumindest durch Drehen der Zuführspule mittels eines Bleistifts oder auch des kleinen Fingers manchmal noch Herr werden. Beliebt ist ja das Meme mit dem Bleistift und der Kassette nebst der Erklärung, dass Jugendliche von heute den Zusammenhang nicht kapieren würden - allerdings dürften sie es inzwischen alle schon wissen, da dieses Bildchen schon oft genug geteilt wurde. Und es war auch, zugegeben, etwas mühsam, immer wieder vor- oder zurückspulen zu müssen, wenn man einen bestimmten Song hören wollte.

Auch wenn es vielen nicht bewusst war, so hat die Kompaktkassette doch eine nicht unerhebliche Bedeutung in der Geschichte der Audio-Medien. Während für CDs ein portables Abspielgerät, genannt "Discman", entwickelt werden konnte - der sich großer Beliebtheit erfreute, auch wenn er in keine Hosentasche von normaler Größe passte (hatten die Dickies-Jeans deshalb so übergroße Taschen?) -, konnte man schlecht mit einem laufenden Schallplattenspieler auf der Straße herumlaufen. Es war die Kassette, die der erste mobile Tonträger war - durch Autoradios mit Kassettendeck, durch portable Kassettenrecorder (in Österreich "Kassettinger" genannt) und nicht zu vergessen durch den Walkman, 1979 von Sony auf den Markt gebracht und binnen kürzester Zeit der letzte Schrei unter Jugendlichen.  Darüber hinaus eröffnete die Kassette die Möglichkeit, Töne nicht nur wiederzugeben, sondern auch aufzunehmen. Als Kinder liebten wir es eine Zeit lang, unsere Stimmen auf Kassette aufzunehmen und abzuspielen. Im Volksschulalter fanden wir es cool, alle Schimpfwörter zu krähen, die uns einfielen. Außerdem konnte man Schallplatten, CDs oder auch andere Kassetten auf diese Weise ganz einfach kopieren. Das Kassettendeck gehörte praktisch zu jeder Stereoanlage, es gab Radios mit Kassettendeck, es gab Kassettenrecorder mit zwei Decks und es gab Kassettenrecorder für Kinder mit Handmikrophon. Technische Neuerungen erlaubten es, Kassetten zu kopieren oder Radiosendungen aufzunehmen, die nicht von Nebengeräuschen beeinflusst waren. Meine Großmutter mütterlicherseits nahm Sendungen anfangs noch auf, indem sie Radio und Kassettenrecorder aneinanderstellte, so dass man im Hintergrund immer ihre Schritte hören konnte oder wie sie die Sendung kommentierte.

Beliebt bei Kindern und Jugendlichen war vor allem auch das Aufnehmen von Songs aus dem Radio. Das war natürlich ein riskantes Unterfangen - oftmals lassen Radiosender ja die letzten Takte eines Songs weg, oder der Moderator spricht noch, während das Lied schon anfängt, oder er beginnt schon zu sprechen, wenn es noch nicht zu Ende ist, oder - Katastrophe! - der Song wird vom Verkehrsfunk unterbrochen. Da hat man es heute natürlich wesentlich leichter; früher musste man, sobald einem ein aktueller Hit gefiel, entweder vor dem Radiorecorder lauern oder eine ganze Sample-CD kaufen, meist in Form einer Doppel-CD wie den Bravo-Hits, die jeweils etwa 60 Songs enthielt, von denen einen gerade mal drei interessierten. (Trotzdem kaufte man natürlich jedes Mal die neue.) Ein guter Grund, warum ich dieser Zeit nicht unbedingt nachweine. Dennoch möchte ich euch noch eine kleine Geschichte erzählen, die ihren Ursprung genau in jener Zeit hat: Die Geschichte eines Songs, der in den Achtzigern aus dem Radio auf Kassette aufgenommen wurde und der heute ein Internet-Phänomen ist.

Wenn man sich den Song so anhört, kann man sich kaum vorstellen, dass um ihn ein solcher Hype entstanden ist - er klingt wie zahlreiche andere New-Wave-Songs, die in den Achtzigern zu hören waren. Und durch die alte Aufnahme ist der Text trotz digitaler Optimierung auch noch kaum verständlich. Vielleicht ist aber gerade das auch der Grund, warum die Faszination dafür so groß ist - er klingt vertraut, wie ein Lied, das man kennt, dessen Namen einem jedoch nicht einfällt. Und die Missverständlichkeit des Textes erinnert daran, dass man auch die eigenen Lieblingssongs oft jahrelang falsch verstanden hat. Trotzdem war dieser Song eines der heißesten Online-Themen im letzten Sommer - hauptsächlich deshalb, weil bis heute keiner weiß, von wem er stammt. Der beliebteste öffentlich-rechtliche Radiosender in Österreich bei der Jugend war früher Hitradio Ö3. In Deutschland war es in den Achtzigern der Sender Musik für junge Leute auf NDR 1 mit dem aus Großbritannien stammenden DJ und Musikexperten Paul Baskerville, der vor allem von der Jugend im Nordwesten des Landes sehr oft gehört wurde. In dieser Sendung wurde, vermutlich im Jahr 1984, jenes Lied gespielt, das heute als Most Mysterious Song in the Internet bekannt ist, und von einem ihrer Hörer neben zahlreichen anderen Liedern auf Kassette aufgenommen. Etwa zwanzig Jahre später packte dessen Schwester die Neugier, und nachdem sie jahrelang erfolglos im Internet nach der Identität des Songs gesucht hatte, veröffentlichte sie 2007 einen digitalisierten Ausschnitt auf einer deutschen Website, die auf den Synthie-Pop der Achtziger spezialisiert war, sowie auf einer kanadischen Musikseite, auf der obskure Songs zu Identifikationszwecken hochgeladen werden können. Aber niemand konnte sagen, was das für ein Song war, und als der Ausschnitt 2011 auf YouTube hochgeladen wurde, schien es niemanden zu interessieren.

Erst im letzten Jahr erlangte der Most Mysterious Song die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit - nämlich durch einen sechzehnjährigen Schüler aus São Paulo, der trotz seines jungen Alters Gefallen an dem Sound der Post-Punk-Ära gefunden hatte. Über YouTube stieß er auf das unbekannte Song-Segment, und auch er war neugierig, was die Hintergründe dieses Liedes wohl sein könnten. Er lud den Ausschnitt auf seinem eigenen YouTube-Kanal sowie in mehreren Reddit-Communities hoch, in der Hoffnung, das Geheimnis endlich zu lüften. So entspann sich eine angeregte Diskussion auf Reddit und Discord, einer beliebten Chatroom-Seite für Gamer, und mehrere tausend User begannen, sich auf die Suche nach Anhaltspunkten zu machen. Aber selbst Rückfragen an Baskerville kamen zu keinem Ergebnis - er erklärte, dass der Song sich möglicherweise in seiner Sammlung aus mehr als 10.000 Platten befinden könnte, aber diese alle durchzuhören, würde natürlich Jahre dauern, und zudem ist Baskerville auch noch immer berufstätig. Neben diesen Platten spielte er allerdings auch Kassetten von Underground-Bands aus Osteuropa, die über die Berliner Mauer an ihn geschickt worden waren - es könnte also durchaus möglich sein, dass auch dieser Song von einer Ostband stammt. Das wenige, was von dem Text noch zu erahnen ist, klingt nach dem schlechten Englisch, das von Deutschen gesungen werden könnte, es kann aber ebenso sein, dass die Band aus Österreich oder auch aus Polen oder Russland stammt. Manche halten es auch für möglich, dass der Sänger ein Amerikaner ist, der versucht, britisch zu klingen.

Im Laufe des letzten Sommers sind auf verschiedenen Social-Media-Plattformen zahlreiche Hinweise und Spuren aufgetaucht, die jedoch alle ins Leere führten - und das, obwohl sehr viele oft noch sehr junge Leute akribisch Recherche betrieben haben. Und es spinnen sich natürlich auch zahlreiche Legenden um den Song, den keiner kennt - etwa, dass die Mitglieder der Band, die ihn gespielt hat, bei der Flucht über den Eisernen Vorhang alle erschossen wurden. Oder auch, dass der Song aus einem Paralleluniversum oder gar von Außerirdischen stammen soll - das funktioniert aber nur, wenn man an eine dieser beiden Möglichkeiten glaubt, und natürlich stellt sich auch die Frage, warum die Musik von Außerirdischen ausgerechnet wie mittelmäßiger Synthie-Pop klingen soll. Das erinnert mich an die Geschichte des amerikanischen Sängers Sixto Rodriguez, dessen beide Alben ohne sein Wissen in Südafrika bekannt wurden (im Gegensatz zu seiner Heimat), wo das Gerücht kursierte, der mysteriöse Musiker, der auf den Platten zu hören ist, habe sich auf offener Bühne umgebracht. Der Unterschied zu dem Most Mysterious Song ist allerdings, dass Rodriguez selbst schon eine interessante Persönlichkeit ist und musikalisch sicherlich weitaus mehr Talent hat als die unbekannten Interpreten des mysteriösen Liedes.

Ob die Identität des Most Mysterious Song jemals gelüftet werden wird, vermag heute noch keiner zu sagen. Fest steht, dass die Faszination, wie schon gesagt, nicht in dem Inhalt besteht, sondern darin, dass es in Zeiten wie diesen, in denen praktisch alles via Internet erfahrbar ist, noch etwas gibt, das man offenbar nicht herausfinden kann. Und sicher macht auch das Spiel des Rätselratens selbst noch einen zusätzlichen Reiz aus. Ich fürchte allerdings, sollte dieses Rätsel jemals gelöst werden, wird es für viele wohl eine bittere Enttäuschung sein - denn wahrscheinlich ist die Geschichte dahinter weitaus weniger spektakulär als die Legenden, die von den Suchenden gesponnen wurden. Möglicherweise hat die Band nur ein paar wenige einigermaßen hörenswerte Demos zustande gebracht und ist dann in der Versenkung verschwunden. Und auch, wenn das für viele kaum verständlich ist - es gibt Leute, die gar nicht reich und berühmt sein wollen. Es könnte genauso gut sein, dass die Musiker aus irgendeinem Grund gar nicht erkannt werden wollen. Und obwohl ich auf der anderen Seite ebenfalls neugierig bin, wer hinter diesem Rätsel eigentlich steckt, hegt ein Teil von mir tatsächlich den Wunsch, dieses Rätsel möge eines der wenigen ewig ungelösten bleiben, die es noch gibt - denn auch wenn das Leben mitunter spannende Geschichten schreibt, ist nichts so fesselnd wie die eigene Phantasie, meint ihr nicht auch? Bon voyage!

vousvoyez

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