Donnerstag, 19. Dezember 2019

Nur weil etwas Fakt ist, muss es noch lange nicht stimmen

Wie ihr euch sicher denken könnt, stammt dieser Satz von einer Vertreterin der Intelligenzallergiker intellektuellen Elite des World Wide Web. In welchem Zusammenhang, kann ich allerdings, ehrlich gesagt, nicht mehr eruieren. Allerdings ist gerade diese extrem bescheuerte intelligente Weisheit viel zu gut, als dass ich mich angesichts dessen nicht einem Thema widmen könnte, das ich schon längere Zeit eher vernachlässigt habe, das aber höchstes Unterhaltungspotenzial hat, nämlich unseren geliebten Schwurbels.

Wer mich schon ein bisschen länger kennt - online oder auch privat -, weiß, dass ich an einer bestimmten Kategorie von Schwurbelfritzen Kritikern einen besonderen Narren gefressen habe. Warum, das ist schwer zu sagen. Ich glaube, das liegt einfach daran, dass ich immer wieder über den gewaltigen Einfallsreichtum der Menschheit erstaunt bin, weshalb ich auch von Kindheit an ein leidenschaftliches Interesse an Mythen, Legenden und Religionen hege. Diese sind ja bisweilen den Schwurbelgeschichten  nicht so unähnlich. Die natürlich überhaupt gar nichts mit alternativen Fakten zu tun haben, die auch ganz wirklich vollkommen wahr sind!!!!!!11

Beginnen möchte ich meine neuerlichen Ausführungen so, wie ich viele beginnen, nämlich mit mir selbst. Seit meiner frühesten Kindheit habe ich Bücher über alles geliebt - ich wollte sie lesen, ich wollte sie aber auch einfach nur besitzen. Auch wenn mir bewusst ist, dass es sehr viele gibt, die diesen Wesenszug überhaupt nicht verstehen, und ich muss zugeben, dass das zeitweise auch ein bisschen anstrengend ist, besonders in Phasen, in denen man zu sehr vielen Wohnungswechseln gezwungen ist. Jedenfalls bin ich in Buchläden, Bibliotheken, auf Bücherflohmärkten und in Antiquariaten von jung an schon aufgeblüht. Als junge Frau war ich einmal in Frankfurt - und man musste mich fast mit Gewalt aus den vielen großen Buchhandlungen wieder rauszerren. Aber auch vor Wühltischen machte ich nicht halt - auch wenn man da zeitweise Gefahr läuft, unwissentlich den haarsträubendsten Schrott zu kaufen. Da Wühltisch-Bücher allerdings selten mehr als einen oder zwei Euro kosten - irgendwie muss man seinen Müll ja loswerden -, ist das nicht allzu schmerzhaft. Damals pendelte der Preis so zwischen zehn oder fünfzehn Schilling. Michael Mittermeier hat in seinem Buch Die Welt für Anfänger den österreichischen Schilling mit der italienischen Lira verglichen. Was nicht gerade für eine Italien-Erfahrung spricht - offenbar hat ihm seine Mutter nie tausend Lire in die Hand gedrückt mit dem Hinweis: "Geh dir ein Eis kaufen!" Im Gegensatz dazu waren tausend Schilling für mich der Inbegriff des wahren Reichtums.

Langer Rede kurzer Sinn, jedenfalls kaufte ich im zarten Alter von fünfzehn oder sechzehn Jahren von so einem Wühltisch mal ein Buch, an dessen Titel ich mich beim besten Willen nicht mehr erinnern kann. In diesem Buch wurde die angeblich wahre Geschichte einer Frau erzählt, die in einer satanistischen Sekte aufgewachsen sein soll. Satanisten sind ja immer gut, wenn man Schwurbels Wahrheitssuchende gerne triggern will. Angeblich durchlebte sie ihre ganze Kindheit und Jugend hindurch grausame Folter, sexuellen Missbrauch und Demütigungen, ehe sie sich als junge Erwachsene vermeintlich aus diesem psychischen Gefängnis befreien konnte - doch in Wirklichkeit war sie immer noch darin gefangen, denn sie soll an einer Dissoziativen Identitätsstörung, auch bekannt als Multiple Persönlichkeitsstörung, leiden, und Angehörigen der Sekte, die sie glaubte, hinter sich gelassen zu haben, waren angeblich immer noch in der Lage, sie von außen zu steuern.

Ich las das Buch und war milde beeindruckt, obwohl mir ein paar Behauptungen darin damals schon etwas merkwürdig vorkamen. Aber ich dachte nicht weiter nach; es verschwand irgendwo in meinem Bücherregal, und Jahre später, als ich mein Elternhaus verließ, gehörte es zu den wenigen, die ausgemustert wurden, wahrscheinlich, um auf dem nächsten Wühltisch zu landen. Vor etwa einem Jahr dann stieß ich auf ein YouTube-Video über die "Verschwörungstheorie", das viele der Fragen, die ich mir damals selbst schon gestellt habe, ebenfalls aufwarf. Die Frau in dem Buch müsste heute etwa zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt sein; bis heute gibt es noch keine konkreten Ergebnisse bezüglich ritueller Gewalt. Auch die vermeintlichen Täter bleiben äußerst diffus, obwohl es unfassbar viele sein sollen, darunter auch Ordnungsorgane und sogar Regierungsmitglieder. Wer nur ein bisschen was über den Mechanismus von Verschwörungsideologien weiß, dem sollten hierbei bereits die Ohren klingeln. Darüber hinaus wurde in dem Buch behauptet, dass junge Mädchen willkürlich geschwängert und deren Kinder hinterher dem Satan geopfert werden sollten; ich weiß, dass es Fälle gibt, in denen Frauen ihre Schwangerschaft nicht bemerken und irgendwann ein Kind auf die Welt bringen, aber so extrem viele sind es ja doch nicht, und es ist doch äußerst merkwürdig, dass kein Außenstehender bei so vielen Mädchen, denen das passiert sein soll, je deren Schwangerschaft bemerkt haben soll. Es braucht doch nur außerhalb des rituellen Kreises zu Komplikationen kommen - und so selten kommt das wiederum nicht vor -, und schon wäre alles klar. Abgesehen davon, dass Personen mit Dissoziativer Identitätsstörung doch immer noch nur einen einzigen Körper haben - ist es dann nicht äußerst merkwürdig, dass, wenn diese Person unter Drogen gesetzt wird, nicht alle inneren Persönlichkeiten die Wirkung der Drogen zu spüren bekommen sollen? Darüber hinaus wäre, wenn man diesem Buch glauben würde, wie schon gesagt eine unglaublich hohe Anzahl an Personen an diesen rituellen Gewaltakten beteiligt und würde sich von der Außenwelt völlig unbemerkt in auffallend großen Gruppen an irgendwelchen geheimen Orten treffen - und das weltweit und ohne dass bis zum heutigen Tage auch nur irgendein Außenstehender davon Wind bekommen hätte. Offenbar gibt es weitaus mehr als nur ein Buch und auch Dokumentation zu diesen Themen, aber viel mehr als in dem Buch, das ich selbst gelesen habe, kommt da nicht heraus. Versteht mich nicht falsch: Mir ist klar, dass sexuelle und auch rituelle Gewalt real sind, und ich zweifle auch nicht daran, dass die angeblichen Satanismus-Opfer tatsächlich missbraucht wurden und ihre Geschichte sicherlich auch glauben. Allerdings frage ich mich, ob das Problem da nicht eher bei den Therapeuten liegt, die diese behandeln, als bei den Opfern selbst. Es klingt für mich halt nur äußerst unglaubwürdig, dass wir von all diesen Satanisten weltweit unterwandert sein sollen und es, wie schon gesagt, seit gut einem halben Jahrhundert immer noch keine konkreten Anhaltspunkte gibt.Ja, ich weiß, dass dies nur meine Meinung ist - aber für mich hat das Ganze halt eher die Glaubwürdigkeit einer Bravo-Foto-Love-Story. Tut mir leid.

Rituelle Gewaltakte sind ja bekanntlich Bestandteil vieler Verschwörungstheorien  höchst vernünftiger Wahrheiten. Ich habe in einem anderen Artikel ja bereits über Alex Jones berichtet, den Typen mit den schwulen Fröschen. Dieser beteiligte sich während des letztens US-Wahlkampfs 2016 an der Verbreitung der Pizzagate-Geschichte, die irgendwann auf 4chan und Reddit auftauchte und in der behauptet wurde, Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton betreibe im Keller einer Pizzeria in Washington, D. C. einen Kinderpornoring. Daraufhin stürmte am 4. Dezember desselben Jahres ein bewaffneter Mann die Pizzeria, um die Kinder zu befreien - und musste feststellen, dass das Gebäude, in dem sie unterbracht war, gar keinen Keller hatte und es auch keine Kinder gab, die dort festgehalten wurden. Die Verbreitung einer kruden Theorie als unterdrückte Wahrheit brachte Menschen in Gefahr und einen weiteren für vier Jahre ins Gefängnis.

Besonders die Vorstellung, jemand könnte Kindern Gewalt antun, fügt bestimmten Schwurbelgeschichten alternativen Fakten natürlich noch einmal eine ordentliche Dimension an Dramatik hinzu. So wird in diesem Zusammenhang gerne mal über pädophile Handlungen oder Mord an kleinen Kindern geschwurbelt berichtet. So sind viele Verschwörungstheoretiker Wahrheitssuchende in diesem Jahr vor Entrüstung Sturm gelaufen anlässlich eines Interviews mit Jim Carrey, der behauptete, Hollywoodstars würden zu Weihnachten ganze Babys verspeisen. Der Witz dabei: Dieses Interview hat nie stattgefunden. Es handelt sich hierbei um "Fauxtire", eine Zusammensetzung aus dem französischen faux wie falsch und Satire - das sind Falschnachrichten, die absichtlich besonders unglaubwürdig und dramatisch gehalten werden. Ich habe unten noch einen Artikel dazu verlinkt. Ja, unglaubwürdig. Einige scheinen sie trotzdem für glaubwürdig zu halten. Und auch die Flacherd-YouTuber haben sich inzwischen offenbar auf die Promis eingeschossen - klar, irgendwann wird es ja langweilig, nichts anderes zu tun, als seiner Community ständig zu versichern, dass die Erde flach ist. Ihre neueste Masche ist jetzt, zu behaupten, dass alle Prominenten in Wirklichkeit "Transsexuelle" seien - und aufgrund anatomischer Merkmale zu entscheiden, ob diese Personen eine Geschlechtsumwandlung getätigt hätten. Manche lehnen sich sogar so weit aus dem Fenster, zu behaupten, dass sie auch ihre Kinder als das gegenteilige Geschlecht erziehen als das, mit dem sie geboren werden. Nun - dass man Trans-Personen mit exakt demselben Anstand und Respekt zu behandeln hat wie alle anderen auch, sollte inzwischen selbstverständlich sein, auch wenn manche das ganz offensichtlich immer noch nicht kapieren. Aber dass alle Prominenten ein anderes Geschlecht vortäuschen sollen als ihr biologisches, klingt irgendwie seltsam, ganz abgesehen davon, dass man nicht jedes körperliche Merkmal auf jeden Angehörigen eines bestimmten Geschlechts zuteilen kann, da die Menschen bekanntermaßen verschieden sind.

Ja, Prominente sind dankbare Projektionsflächen für alle möglichen lustigen Schwurbelgeschichten. Und deswegen will ich euch zum Abschluss noch eine aus dem popkulturellen Bereich erzählen. Wie ihr vielleicht mitgekriegt habt, hatte ich eine Phase, in der ich mich sehr viel mit der Musik der sechziger Jahre, speziell der Beatles, auseinandergesetzt habe. Das liegt unter anderem daran, dass mich das erste Soloalbum von John Lennon durch eine sehr dunkle Zeit gebracht hat. Und, dass ich, wenn mich ein Künstler begeistert, gerne so viel wie möglich über ihn (oder sie) in Erfahrung bringen möchte. Anscheinend sind die Beatles aber auch eine sehr dankbare Vorlage, wenn es um Verschwörungstheorien alternative Fakten geht. Ich habe ja bereits von den Gerüchten erzählt, die behaupten, dass Paul McCartney bereits im Jahr 1966 bei einem Autounfall ums Leben gekommen sein soll - obwohl er sich trotz seiner mittlerweile 77 Jahre immer noch bester Gesundheit zu erfreuen scheint. Aber das ist nicht alles - die Beatlemania, wie das Phänomen rund um den Hype um diese britische Popgruppe genannt wird, soll laut eines Schwurbel-Artikels ein perfider Plan der Illuminaten gewesen sein, um die Gesellschaft nach ihrem Gutdünken zu verändern. Als "Beweis" dafür wird eine unbelegte Bemerkung John Lennons gegenüber seinem Musikerkollegen Tony Sheridan in Hamburg angeführt, in der er erklärt haben soll, er habe seine Seele für den Erfolg seiner Band an den Satan verkauft. Nun - es ist nicht allen bekannt, dass John Lennon nicht nur Musiker war, sondern darüber hinaus auch noch Graphik an der Liverpooler Kunstakademie studierte und insgesamt drei Bücher veröffentlichte, in denen von ihm verfasste Kurzgeschichten, Gedichte und Illustrationen gesammelt sind. Kurz gesagt - ich kenne genug von dem, was John Lennon gesagt, geschrieben und gezeichnet hat, um zu wissen, dass der Mann über einen ziemlich provokanten Sinn für Humor verfügte. Was die Idee nahelegt, dass auch diese Bemerkung, sollte er sie tatsächlich getätigt haben, wohl eher ein Witz sein sollte. Aber man kann von einem Truther ja nicht erwarten, dass er auch noch Humor versteht - vor allem nicht von einem Mann, der bei der Royal Variety Performance 1963 das gut betuchte Publikum aufforderte, mit den Juwelen zu rasseln. Weitere "Belege" für die Beatles als Teil einer Illuminaten-Verschwörung bzw. eines "Massenexperiments" mehrerer vollkommen diametral zueinander stehenden Gruppierungen sind unter anderem auch, dass sie am Beginn ihrer Karriere in einem Liverpooler Striplokal sowie in mehreren Nachtclubs im Hamburger Rotlichtviertel St. Pauli auftraten, dass ihr Manager homosexuell war und dass sie während ihrer gemeinsamen Karriere auch Drogen konsumierten. Nun - eine ganze Menge Künstler nahm damals Drogen, viele auch schon vor den Beatles. Sind die etwa auch Teil der Verschwörung? Lustig finde ich auch die Behauptung, dass "Theo Adorno" die gesamte Musik der Beatles komponiert haben soll. Abgesehen davon, dass die Urheberschaft und Entstehungsgeschichte der Beatles-Songs ziemlich gut belegt ist, waren die wenigen musikalischen Werke des deutschen Philosophen und Soziologen Theodor Adorno, der im übrigen seit 1945 nicht mehr komponiert hat, wohl kaum dem Pop-Genre zuzurechnen. Abgesehen davon, dass die "versteckten Codewörter", die die Beatles unter die amerikanische Jugend gebracht haben sollen, wie "cool", "Teenager" und "Popmusik", schon vor ihrer Gründung bekannt waren und dass Begriffe wie "Beatniks" und "Beat-Generation" mitnichten eine Bezeichnung für Beatles-Fans waren. Die Beat-Generation war eine Gruppierung junger amerikanischer Literaten wie Jack Kerouac, Alan Ginsbergh und William Burroughs, die ihre ersten Werke bereits veröffentlichten, als die späteren Beatles noch Kinder waren. Als ich etwa sechzehn Jahre alt war, habe ich vor allem die Bücher von Kerouac sehr geliebt - so sehr, dass ich bisweilen träumte, selbst per Anhalter durch Amerika zu trampen. Aus dieser Generation von Literaten gingen dann die Beatniks hervor - sozusagen die Vorfahren der späteren Hippies. Und was den Umstand betrifft, dass ein paar Songs der Beatles den berühmt-berüchtigten Charles Manson inspirierten - für die Fehlinterpretationen eines gescheiterten Musikers und manipulativen Sektenführers können die Songwriter doch nichts. Und natürlich dürfen die angeblichen Rückwärtsbotschaften nicht fehlen, über die ich bereits in einem anderen Artikel erzählt habe. Wer mehr über die Illumiaten-Beatles erfahren will, dem empfehle ich ein Video über den Originalartikel, sehr amüsant vorgetragen von einem meiner persönlichen Lieblings-YouTuber, dem Bücheronkel. Das Video verlinke ich ebenfalls.

Gerade bemerke ich, dass mein Artikel wieder mal weitaus länger ist als beabsichtigt. Und das, obwohl ich vieles davon bereits wieder rigoros gekürzt habe - aus Gründen der Leserfreundlichkeit. Wer meine weiteren Ausführungen zu einigen ganz tollen Schwurbelmärchen vollkommen der Wahrheit entsprechenden, ausgesprochen vernünftigen Fakten noch nicht kennt, darf sie übrigens gerne in der Kategorie "Unterwelt" nachlesen. Ansonsten - ich komme wieder, keine Frage!

vousvoyez


Satanismus: https://www.youtube.com/watch?v=bTH7rtyVUOo

Transsexuelle Prominente: https://www.youtube.com/watch?v=rl62Wo027Wg

Fauxtire: https://www.mimikama.at/allgemein/hollywood-eliten/

Dr. Andrew Wakefield: https://www.psiram.com/de/index.php/Andrew_Wakefield

Impfungen: https://www.youtube.com/watch?v=RLbuqWlNFoU

Die Pharma-Verschwörung: https://www.youtube.com/watch?v=vDgnsMKWbZs

Die Illuminaten-Beatles: https://www.youtube.com/watch?v=Hi2ZxR9gdOs&t=2s

Dienstag, 17. Dezember 2019

Bruder, warum trinkst du so viele Zigaretten?

(c) vousvoyez
Gut gemeinte Ratschläge können auch fruchtbar sein, wenn man mit der deutschen Sprache noch nicht so vertraut ist. Und natürlich kommt es auch auf den Kontext an. Diese Art von Ratschlägen kann man sicher auch eher annehmen als Besserwisserei, besonders aus den sozialen Netzwerken. Und deswegen will ich heute über ein Thema reden, das ich schon eine Weile vor mir herschiebe, nämlich Nähe und Distanz.

Dass ich dieses Thema schon seit längerer Zeit mal behandeln will, liegt daran, dass mir aufgefallen ist - und da bin ich nicht die einzige -, dass sich unser Verhältnis zu Nähe und Distanz nicht zuletzt auch durch die digitale Revolution sowie Kommunikationsmitteln wie Facebook, Instagram & Co. immer mehr verändert. Vor noch nicht allzu langer Zeit hatte man noch gar nicht die Möglichkeit, sein Leben dermaßen zur Schau zu stellen, wie es heute oft der Fall ist. Was allerdings nicht heißt, dass es nicht auch schon früher Leute mit übermäßigem Geltungsbedürfnis gegeben hätte. Wer kannte sie nicht, die "Adabeis", wie man in Österreich sagt, die, die sich für wichtiger halten, als sie eigentlich sind; die zum Wiener Opernball gehen, in der Hoffnung, ins Fernsehen zu kommen; die auf Urlaub nach Venedig fahren, damit sie überall herumerzählen können, dass sie in Venedig waren, die aber ohnehin nur Schlechtes über Venedig zu berichten haben, nachdem sie ihren Plastikmüll in den Canale Grande geschmissen haben; die, die die Lebensgeschichte eines jeden Prominenten auswendig kennen und jedem nachlaufen, der mal im Fernsehen war; die, die, wenn der Nachbar einen Springbrunnen baut, einen noch größeren in ihrem Garten haben müssen. Das Ding ist halt - früher hatte man als nicht-prominente Persönlichkeit kaum Möglichkeiten, sein Leben öffentlich zur Schau zu stellen. Umgekehrt hat vor einem halben Jahrhundert ein prominentes Paar, nämlich John Lennon und Yoko Ono, die Sensationslust der Medien ad absurdum geführt, indem sie ihre Flitterwochen als Friedenskampagne öffentlich machten. Etwa dreißig Jahre später wurde ihr experimenteller Film Rape als Vorbild für die TV-Show Big Brother genannt, in der Leute zum ersten Mal ganz freiwillig ihr Privatleben aufgaben - wenn auch nur für ein paar Wochen.

George Orwell hat vor 70 Jahren seinen berühmten Roman 1984 veröffentlicht, der von einem totalitären Überwachungsstaat handelt. Auch die oben genannte Show Big Brother nimmt auf diesen Roman Bezug, denn sie ist nach dem nicht greifbaren und deswegen unterschwellig bedrohlichen Herrscher dieses fiktiven Staates benannt, der seine Augen praktisch überall zu haben scheint. Das Buch wird bis heute - ähnlich wie Aldous Huxleys nicht ganz so bekannter Zukunftsroman Brave New World - als visionäres Stück Literaturgeschichte gesehen, und das auch nicht zu Unrecht. Eines jedoch hat Orwell, wie ich, glaube ich, schon einmal erwähnt habe, nicht vorausgesehen: Kein Mensch zwingt uns, unsere Privatsphäre aufzugeben. Wir tun das ganz freiwillig und ohne darüber nachzudenken.

Seit dem 11. September 2001, jenem Tag, an dem vor allem die damals junge Generation, nämlich meine, die Illusion verlor, dass der Westen nahezu unantastbar ist, hat sich allmählich ein Gefühl der Unsicherheit eingeschlichen. Inzwischen glauben wir, die Welt war noch nie so unsicher wie heute - obwohl das ja so nicht wahr ist. In den Achtzigern hatten wir halt noch kein Internet, in dem die neuesten Schreckensmeldungen rund um die Uhr abrufbar waren. Ich war überrascht, als ich mit etwa zwanzig Jahren erfuhr, dass die "goldenen siebziger Jahre" gar nicht so golden waren - dass etwa Deutschland von etlichen Terroranschlägen heimgesucht wurde. Aber diese Flut an Information, der wir heute ausgesetzt sind, erzeugt ein Gefühl der permanenten Gefahr, das uns dazu bringt, unser Recht auf Privatsphäre Stück für Stück aufzugeben, da uns das trügerische Gefühl der Sicherheit als notwendiger erscheint. Anderen Leuten erklären wir, dass wir schließlich nichts zu verbergen hätten - aber bis wohin wird diese Toleranz gegenüber Eindringlingen in unser Privatestes reichen? Ich bin gewiss keine, die sich permanent beobachtet und überwacht fühlt - es beunruhigt mich nur, mit welcher Bereitwilligkeit manche Leute ihr Recht aufgeben, nicht permanent unter Beobachtung zu stehen, und auch anderen dieses Recht nicht mehr zugestehen. So wird jemand, der sich nicht vom Partner bespitzeln lässt, gern mal als nicht vertrauenswürdig eingestuft, während mancherorts Eltern, die nicht jeden Schritt ihres Kindes überwachen, als nachlässig angesehen werden. Und nicht zuletzt tragen auch das Internet und da besonders die sozialen Netzwerke dazu bei, dass wir unser Verhältnis zur Distanz immer mehr verlieren.

Heutzutage erfährt alle Welt, wie wir leben, wie wir fühlen, was wir anziehen, was wir essen, wohin wir auf Urlaub fahren. Ich warte eigentlich nur noch darauf, dass die Leute irgendwann einmal anfangen, Fotos von ihrem Stuhlgang auf Instagram zu posten - es würde mich, ehrlich gesagt, nicht mehr überraschen. Und die Distanzlosigkeit, die wir entwickeln, übertragen wir auch auf die nächste Generation - junge Mädchen schicken ihrem ersten Freund Nacktfotos per Handy, die diese nach einer Trennung aus Rache an der allzu Vertrauensseligen veröffentlichen. Ein Verhalten, dessen Grundstein mittlerweile schon in den ersten Lebensjahren gelegt werden kann - unter #deinkindauchnicht haben Prominente wie Wilson Gonzales Ochsenknecht eine Kampagne gestartet, die Eltern auf die Gedankenlosigkeit, ja sogar Fahrlässigkeit aufmerksam machen sollen, mit der Fotos von Kleinkindern zeitweise im Netz geteilt werden. Obgleich "Sharenting", wie man dieses Vorgehen nennt, nicht immer in böser Absicht geschieht; um ehrlich zu sein freue ich mich auch, zu sehen, wie sich die Kinder von Leuten, die ich nicht oft zu Gesicht bekomme, so entwickeln, und Mütter posten ihre Fotos ja auch oft in der Hoffnung, Gleichgesinnte zu finden. Es ist halt so, dass viele dabei mit sensiblen Daten sowie Grenzüberschreitungen, beispielsweise Fotos, die dem Kind später unangenehm werden könnten, unvorsichtig umgehen. Man denke an Woody Allens Kurzfilm Oedipus Wrecks oder den Spielfilm Stop! Or My Mom Will Shoot mit Sylvester Stallone; in beiden Filmen zeigt Mama die Babyfotos ihres inzwischen erwachsenen Sohnes in den unpassendsten Momenten herum. Und um ehrlich zu sein, finde ich Fotos von mit Essen bekleckerten oder vollgesabberten Babys und Kleinkindern nicht witzig und süß, sondern ziemlich abstoßend. Eine ganze Stufe gedankenloser sind allerdings diejenigen, die ihre Kinder schon zu Influencern machen, bevor diese auch nur ansatzweise kapieren, was das überhaupt sein soll.

Häufig wird beklagt, dass die Freizügigkeit zur Zeit der sexuellen Revolution aktuell einen Rückgang erlebt. Ich denke mir allerdings - es ist momentan gar nicht anders möglich. Obgleich auch ich den Einzug der Prüderie, wie er aus den USA zu uns herüberschwappt, zeitweise extrem übertrieben finde. Irgendwie herrscht zurzeit, auch in Bezug auf amerikanische Filme, eine merkwürdige Ambivalenz: Einerseits sind Liebesszenen in den neueren Erzeugnissen Hollywoods erstaunlich züchtig - bisweilen frage ich mich, wann es soweit ist, dass Eheleute wie in den Filmen der dreißiger Jahre wieder in getrennten Betten schlafen -, andererseits ist die Sprache in Komödien, und nicht nur in amerikanischen, oft auffallend vulgär. Ich habe dazu unten ein äußerst interessantes Video verlinkt, in dem erklärt wird, warum diese Art von Humor weitaus weniger mutig ist, als es den Anschein hat. Vorab nur soviel: Wo bleibt die vor allem für den Humor charakteristische Grenzüberschreitung, wenn es eigentlich gar keine Grenzen mehr gibt? Andererseits sind gerade die Filmanalyse-Videos von Wolfgang M. Schmitt ein schönes Beispiel dafür, dass Äußerlichkeiten oft über Inhalte hinwegtäuschen, denn Schmitt ist bei seinem oberflächlich gesehen doch eher konservativen Auftreten häufig erstaunlich provokant in seinen Ansichten. Deswegen sind seine Kritiken von Kinderfilmen für nostalgische Gemüter auch eher mit Vorsicht zu genießen.

Wie gesagt, sind wir heute wieder weit weniger freizügig als noch vor etwa 20 Jahren. In meiner Jugend war es praktisch normal, dass an Stränden oder in Schwimmbädern vor allem jüngere Frauen gern mal die Brüste entblößt hatten (hihihi, ein Busen!). Auch in meinem Freundes- und Bekanntenkreis gehörte es zum guten Ton, dass man es mindestens einmal im Leben ausprobiert hat. Heute findet man das fast gar nicht mehr. Andererseits ist Sex medial so präsent wie noch nie, ohne dass man sich in die mit einem Vorhang abgetrennte Abteilung der Videotheken stehlen muss - neben dem Vulgär-Humor ist auch Pornographie überall und jederzeit für jeden abrufbar, eventuelle Altersbegrenzungen sind leicht umgehbar, und obgleich die Jugend sich schamhafter zeigt als noch vor zehn Jahren, kommt sie doch schon weitaus früher mit Sex in Berührung, als es bei uns der Fall war. Aber vielleicht ist gerade das der Grund für diese Schamhaftigkeit - als ich ein Schulkind war, war Sexualität etwas Geheimnisvolles, das ich als unheimlich und faszinierend zugleich empfand. Damals begann der Sexualkundeunterricht erst mit der weiterführenden Schule - also 1. Klasse Hauptschule oder Gymnasium. Heute wird bereits in den Volksschulen aufgeklärt - was ich an sich auch für richtig halte, besonders in einer Welt, in der praktisch niemand diesem Thema ausweichen kann. Und gerade dieses Überangebot nimmt dem Sex das Geheimnis - weshalb junge Leute wohl weitaus weniger das Bedürfnis nach der direkten Konfrontation haben. Wenn man Fernsehsendern wie RTL glauben darf, knattert die Jugend sich vom 12. Lebensjahr aufwärts ununterbrochen durch alle Betten. Sowohl aus meinem Umfeld als auch im Austausch mit Lehrern oder Eltern von Teenagern kann ich allerdings versichern, dass Jugendliche heutzutage im Schnitt gar nicht so viel früher Sex hat als unsere Generation, auch wenn die Pubertät durchaus früher beginnt. Natürlich gibt es sie, die frühreifen Mädels, die mit zwölf aussehen wie achtzehn und schon mit dreizehn mehr Verflossene haben als andere mit dreißig. Aber die gab's doch auch schon in früherer Zeit - das sollten wir spätestens seit Peter Cornelius' Du entschuldige, i kenn di kapiert haben.

Insgesamt kann man sagen, dass die Verschmelzung des öffentlichen und privaten Lebens aktuell bisweilen eine eher bedenkliche Richtung einschlägt, wie ich finde. Und dies bekommen wir Supernormalos genauso zu spüren wie auch Personen des öffentlichen Lebens. Früher musste man InTouch und Die Bunte lesen, um über das aufregende Privatleben Prominenter Bescheid zu wissen. Heute weiß man es auch, wenn man es nicht will. Während ich das schreibe, diskutiert das halbe Internet über ein Foto, das Greta Thunberg ins Netz gestellt hat und auf dem sie im Zug auf dem Boden sitzt. Eine Momentaufnahme, die weit mehr Staub aufwirbelt, als sie es eigentlich müsste. Und ich habe auch nicht darum gebeten, über das Privatleben von Heidi Klum und Pietro Lombardi (den ich vor seiner Scheidung gar nicht kannte) informiert zu werden - trotzdem weiß ich über diese Gestalten weit mehr, als mir lieb ist. Auch mir fällt es, offen gestanden, nicht immer leicht, mich abzugrenzen - trotzdem tue ich mein Bestes und achte darauf, dass ich zumindest so sensible Themen wie gesundheitliche Probleme nicht wahllos in den Äther blase, und es würde mir beispielsweise nie einfallen, mein Liebesleben im Internet breitzutreten. Und ich stelle keine Fotos meines Essens ins Internet - aus Prinzip! Und weil ich der Ansicht bin, dass es weitaus spannendere Themen gibt als einen heutigen Speiseplan. In diesem Moment höre ich beispielsweise gerade ein Klavierkonzert von George Gershwin - das ist doch schon mal ein Anfang, oder nicht?

vousvoyez

"Sharenting": https://www.youtube.com/watch?v=pkbm102QX6k
Vulgär-Humor in Filmen: https://www.youtube.com/watch?v=St7FB9pR4z