
Wie ich schon öfter bemerkt habe, sind es die neuen Medien, die im wesentlichen dazu beitragen, eine Zeit wie diese erträglich zu machen. Dennoch ist diese Krise für sehr viele eine Katastrophe - beispielsweise für Kunst- und Kulturschaffende, die etwa zwei Monate lang nahezu ignoriert wurden. Die Kritik an dieser Herangehensweise führte unter anderem zum Rücktritt der Kulturstaatssekretärin, von der sich alle einig sind, dass sie die Verantwortung übernommen hat für ein Berufsfeld, von dem sie nichts bzw. zu wenig versteht. Lukas Resitarits ging sogar so weit, zu erklären, dass eine Staatssekretärin überflüssig sei in einer Regierung, die diesen Posten nicht zu besetzen wisse. Dazu möchte ich mich allerdings nicht weiter äußern - ich möchte diesen Artikel lieber dazu nutzen, um über die Bedeutung von Kunst und Kultur im Allgemeinen zu sprechen.
Nun, die Kunst ist einer der Bereiche, bei denen ich es schon einige Male mit dem Dunning-Kruger-Effekt zu tun hatte - je weniger Ahnung jemand hat, desto eher glaubt er, sich ein Urteil darüber erlauben zu können, was Kunst ist und was nicht. Nun, ich kann verstehen, dass nicht jeder was mit scheinbar willkürlichen Klecksen auf einem Stück Leinwand anfangen kann, sofern er sich nicht mit den Hintergründen auseinandergesetzt hat. Aber gerade jenen, die glauben, als "Kunst" könne man ausschließlich Dinge betrachten, die wahnsinnig aufwändig sind, sei gesagt, dass "Kunst" nicht gleich "Handwerk" ist. Dieser Irrglaube ist beispielsweise auch dafür verantwortlich, dass viele Leute häufig der Ansicht sind, Fotografie könne niemals Kunst sein. Nun, Fotografie ist ein Handwerk, genauso wie Malerei und Bildhauerei zuallererst mal ein Handwerk ist - ob es zu Kunst wird, hängt immer ganz davon ab, was man daraus macht. Viele Leute hängen der Vorstellung an, Kunst hieße, etwas zu schaffen, von dem man denkt: "Das könnte ich nie." Und da seit Erfindung der handlichen Kamera jedes Kind fotografieren kann, kann das ja auch keine Kunst sein. Ebenso, wie ein paar einfache Formen niemals ein Kunstwerk sein können, weil die Tochter des Nachbarn sowas in ihrem Wochenend-Malkurs ja auch zustande bringt.
Nun ja - aber kann jedes Kind Fotografien schaffen, die einer Inge Morath, Astrid Kirchherr oder eines Man Ray würdig sind? Kann jeder Tölpel das Farb- und Formempfinden eines Wassily Kandinsky nachvollziehen? Wäre auch der Dümmste noch imstande, revolutionäre Ideen wie das Shreddern des eigenen Bildes als Protest gegen die überteuerten Kunstpreise oder ein Konzept wie den Dadaismus als Gegenbewegung zum Ideal der Kunst zu entwickeln? Ist die Tochter des Nachbarn auch dazu in der Lage, revolutionäre Ideen zu entwickeln, die Zeichen der Zeit auf noch nie dagewesene Art und Weise zum Ausdruck zu bringen, nicht nur von, sondern auch für ihre Kunst zu leben? Und wenn das alles keine Rolle spielt - was spricht dann dagegen, jeden Dahergelaufenen unterrichten zu lassen, da immerhin jeder schon mal in der Schule war? Wozu braucht ein Jugendsozialarbeiter eine Ausbildung, wenn er ohnehin nichts anderes tut, als mit Teenagern Fußball zu spielen? Warum lassen wir nicht jeden X-Beliebigen als Tierpfleger arbeiten, da er ohnehin nichts anderes zu tun hat, als Hunde und Katzen zu streicheln? Warum bitten wir nicht unseren Nachbarn, uns den Blinddarm herauszunehmen - immerhin hat er schon einmal in einer Fleischerei gearbeitet?
Die überwältigende Mehrheit der Cleveren unter euch *Schleim vom Bildschirm abwisch* hat bestimmt schon begriffen, was ich damit sagen will: Nicht alles, was einfach aussieht, ist auch einfach. Und auch der Kunstbegriff ist nicht einfach zu definieren - nicht umsonst wird in jedem Studium darüber diskutiert, das auch nur im entferntesten Sinne damit zu tun hat, egal ob auf praktischer oder auch nur auf wissenschaftlicher Ebene. Und ein Stück weit hängt es natürlich auch vom subjektiven Empfinden ab. Ich persönlich begreife eine kreative Tätigkeit beispielsweise als eine neue Art und Weise, an ein Problem heranzugehen - deswegen kann ich auch in Bereichen, die auf den ersten Blick überhaupt nichts mit Kreativität zu tun haben, wie beispielsweise der Mathematik, auch kreative Prozesse entdecken. Und auch wenn es vor allem kulturaffinen Menschen wie mir widerstrebt, das zuzugeben - am Ende des Tages sind auch Personen wie Helene Fischer "Künstler", wenn auch keine Angehörigen der "Hochkultur". Wobei ich das jetzt gar nicht böse meine - ich habe nichts gegen die Person Helene Fischer, ich finde sie nicht einmal unsympathisch, ich kann nur mit ihrer Musik einfach nichts anfangen. Und ehe irgendjemand mich als elitäre Kulturziege abstempelt: Auch ich höre nicht tagtäglich ausschließlich hoch anspruchsvolle Musik. Es gibt sogar noch ab und an Erzeugnisse aus den aktuellen Charts, die mir gefallen. Im übrigen kann ich aus eigener Erfahrung sagen, dass auch diejenigen, die sich ein möglichst intellektuelles Image aufbauen, ab und zu auch Momente haben, in denen sie sich mit dumpfer Berieselung zufriedengeben - auch der größte Geist muss sich ja mal entspannen können.
Dieses Unverständnis ist wohl auch der Grund, warum Kultur von vielen als reiner Luxus begriffen wird - da man Kunst weder essen noch anziehen noch sich damit waschen kann, ist sie wohl auch nicht "systemrelevant". Solche Argumentationen habe ich bereits vor der Corona-Krise schon häufig gehört - und aktuell scheinen viele die Ansicht zu vertreten, dass sich Kunst- und Kulturschaffende gefälligst hinten anzustellen haben. Nun, ich möchte an dieser Stelle daran erinnern, dass die Erträglichkeit des Lockdown auch durch Unterhaltung gewährleistet wurde, egal, auf welchem Niveau sie auch stattgefunden haben mag. Und viele scheinen ja auch kein Problem damit zu haben, dass Künstler für eine gewisse Zeit mal gratis arbeiten - die leben ja ohnehin nur von Luft und Liebe, oder nicht?
Nun, dieselben Leute, die da jetzt so große Töne spucken, jammern auch gerne darüber, dass ihr soziales Leben zurzeit auf Eis gelegt wird - ich möchte daran erinnern, dass auch Ausstellungen, Kinovorführungen, Konzerte und Theatervorstellungen durchaus ein soziales Ereignis darstellen und dass auch Restaurant- und Discobesuche Bestandteil des kulturellen Lebens sind. Und da vielerorts gerade das Autokino ein Revival erlebt, lehne ich mich mal so weit aus dem Fenster, um anzumerken, dass den meisten das Heimkino über kurz oder lang wohl doch nicht zu genügen scheint. Und dass die inflationäre Nutzung von Smartphones auch ein Hinweis darauf ist, dass wir eben doch nicht über längere Zeit ohne Input auskommen können. Und auch denjenigen, die ohne Theater, Kunstausstellungen oder Erzeugnisse des "Film noir" auskommen, sei gesagt, dass jeder in irgendeiner Form nach Unterhaltung verlangt - wenn man anerkennen soll, dass manchen Leuten Schlagerpartys, Fußballmatches oder Seifenopern wichtig sind, die genauso wenig als "systemrelevant" gelten können, sollte man auch akzeptieren, dass es Leute gibt, denen klassische Konzerte, Dichterlesungen und Theateraufführungen ebenso wichtig sind.
Die Teilnahme am kulturellen Leben wird im übrigen auch als Menschenrecht angeführt, ebenso, wie die eigene Kultur ausleben zu können - ganz abgesehen davon, dass eine vielfältige kulturelle Szene für eine gesunde Demokratie unabdingbar ist. Nicht zuletzt gehören Künstler zu den ersten, die unter Beschuss geraten, sobald sich eine Gesellschaft zu einer Diktatur hin entwickelt. Ich erinnere da nur an die Zeit des Nationalsozialismus, als jede Form von Kunst, die mit dem Regime nicht vereinbar war, als "entartet" klassifiziert wurde und als Bücher, die mit der vorherrschenden Ideologie nicht im Einklang standen, einem infamen Scheiterhaufen zum Opfer fielen. Ich möchte daran erinnern, dass Menschen sich schon in sehr frühen Jahren kreativ betätigten und dass künstlerische Tätigkeit auch Teil von Bildung und Erziehung ist. Kunst verändert nicht die Welt, sie ist aber immer der Spiegel der jeweiligen Gesellschaft, in der sie entsteht. Und wenn man sich Systeme ansieht, die den Menschen ausschließlich auf seine Grundbedürfnisse reduzieren (siehe Industrialisierung und Kommunismus), so muss man feststellen, dass wir eben keine Maschinen sind, die lediglich Energie benötigen, um zu funktionieren. Schon Kinder bringen ihre Eindrücke mit Hilfe von Stift und Papier zum Ausdruck, und Jugendliche nutzen meist Musik und Mode, um ihre eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Wer hat nie in seinem Leben unter der Dusche gesungen, in langweiligen Schulstunden Strichmännchen an den Rand des Heftes gekritzelt, ein Instrument gespielt, ein Outfit zusammengestellt, eine Wohnung eingerichtet, Gedichte geschrieben oder auf Familienfeiern ein Theaterstück aufgeführt? Wer hat nie in seinem Leben die Leere eines Augenblicks mit dem Lesen eines Buches, dem Schauen eines Films oder einer Serie, dem Hören von Musik ausgefüllt? Wer kann von sich behaupten, sich nie in seinem Leben kreativ betätigt zu haben, selbst wenn er sich selbst als eher unkreativer Mensch begreift?
Reden wir also Klartext: Die Persönlichkeit eines Menschen entwickelt sich sehr stark auch durch den kulturellen Einfluss. Aus Kultur erwächst ein gesellschaftliches Leben, durch sie entwickeln wir Rituale, sie stiftet Identität und sorgt dafür, dass wir uns immer weiter entwickeln. Sie schlägt Brücken zwischen verschiedenen Menschen und Gesellschaften, sie inspiriert, indem sie uns einen anderen Blickwinkel schafft, sie ist das Gedächtnis der Zeit und schafft gleichzeitig Werte. Und nicht zuletzt schulen wir dadurch unseren Geist, werden zum Nachdenken angeregt und entwickeln Gedanken, die auch außerhalb des künstlerischen Bereichs noch gültig sein können. Und nicht zuletzt ist Kunst und Kultur auch eine Grundlage für Bildung. Viele sind der Ansicht, dass die musischen Fächer in einer nicht auf kreative Berufe fokussierten Schule ruhig gestrichen werden könnten. Ich muss zugeben, dass ich den Musikunterricht im Gymnasium tatsächlich als eher überflüssig empfand, weil er dort ein reines Lernfach war - was bedeutete, man musste noch mehr pauken als ohnehin schon, um sich all die Geburtsdaten verschiedener Komponisten und die Bezeichnungen der unterschiedlichen Epochen merken zu können. Interessanterweise sind es weitaus weniger Leute, die dies für den Sportunterricht fordern, obwohl gerade dieser Leuten, die sportlich nicht ganz so begabt sind, die Lust auf Bewegung eher verdirbt, als dass er sie anregt. Aber Sport ist ja gesund, deswegen muss er auch unterrichtet werden, während künstlerische Tätigkeiten ja vollkommen sinnlos sind. Nun, jeden, der jetzt noch so denkt, möchte ich dazu anregen, diesen Artikel noch einmal von vorn anzufangen. Für alle anderen bringe ich es auf einen Nenner: Egal ob Kultur als systemrelevant empfunden wird oder nicht, auf jeden Fall ist sie systemimmanent - eine Gesellschaft ohne Kultur gibt es nicht, weil wir eben noch ein Leben jenseits von Essen, Trinken, Sex und Schlafen haben. Selbst in Gesellschaften, in denen Kunst und Kultur eher negativ betrachtet wird, entwickeln sich Subkulturen - sollte uns das nicht zu denken geben?
vousvoyez
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