Dienstag, 24. November 2020

Gell, Mami, über die dicke Frau reden wir erst, wenn wir zu Hause sind

(c) vousvoyez

Nein, bei der dicken Frau handelt es sich nicht um mich - das Zitat stammt aus einer Zeit, in der ich mit Sicherheit nicht dick war und das mir zufällig im Gedächtnis geblieben ist, weil ich die Offenheit von Kindern mitunter recht amüsant finde, auch wenn Erwachsene dabei gerne die Hände über dem Kopf zusammenschlagen vor Entsetzen. Mit Sicherheit hat Mami ihrer wundervollen, bezaubernden Maus zuvor erklärt, dass man in Gesellschaft nicht alles hinausschreit, was einem so einfällt und über gewisse Dinge lieber unter Ausschluss der Öffentlichkeit spricht - ein wohlmeinender Versuch, der ganz offensichtlich leider nach hinten losging. Tja, Pech gehabt, Mutti!

Zumindest aber muss man dieser Mutter zugute halten, dass sie verstanden hat, was gutes Benehmen ist, und dass sie versucht hat, dies ihrer Tochter auch beizubringen. Dass dabei mitunter auch ein paar Pannen passieren, ist normal. Wir wissen ja, dass auch Rom nicht an einem Tag erbaut wurde, nicht wahr? Leider hören und sehen wir aktuell viel zu häufig Leute, denen das offensichtlich nicht beigebracht wurde. Ja, ich muss leider aus aktuellem Anlass noch einmal auf das leidige Querdenker-Thema zurückkommen. Und zwar deshalb, weil Sonntagmorgen eine junge Deutsche das Internet wieder einmal in Aufruhr versetzt hat (Video).

Ich denke, die Geschichte ist den meisten von euch bekannt, da sie seit Sonntag oft genug wiederholt wird (und ich das Video verlinkt habe); der Vollständigkeit halber gebe ich sie aber dennoch kurz noch einmal wieder: Am Sonntagmorgen tauchte auf Twitter das Video einer jungen blonden Frau auf der Bühne einer "Querdenker"-Demo in Hannover auf, die sich als "Jana aus Kassel" vorstellte. Rhetorisch mehr schlecht als recht, begann sie, ihre Rede von einem Schummelzettel abzulesen - sie erklärte, dass sie sich wie Sophie Scholl fühle, weil sie auf Demos geht, Reden hält, Flyer verteilt und seit kurzem sogar Versammlungen anmeldet. Und weil sie 22 Jahre alt ist, so wie einst Sophie Scholl, als sie der verqueren Ideologie des Nationalsozialismus zum Opfer fiel (Sophie Scholl wurde knapp drei Monate vor ihrem 22. Geburtstag hingerichtet, aber so genau braucht man es als mutige Rebellin ja nicht zu nehmen). Außerdem betont sie, dass sie niemals damit aufhören wird, sich für Freiheit, Liebe und Gerechtigkeit einzusetzen. Dann jedoch wurde es einem der Ordner ganz offensichtlich zu viel - er streckte ihr seine orangefarbene Warnweste hin und verkündete, dass er seinen Job niederlegen werde, weil er so einen Schwachsinn nicht unterstützen wolle. Daraufhin wird er von mehreren Seiten bedrängt, aber er lässt sich nicht beirren, und trotz der schlechten Tonqualität sind Worte wie "hängengeblieben" und "mehr als peinlich" zu hören. Während er von der Polizei zur Seite geschoben wird, dreht Jana sich um und bricht in Tränen aus. Als ein älterer Mann ihr tröstend die Arme um die Schultern legen will, wirft sie den Zettel mit ihrer Rede sowie das Mikrofon dramatisch zu Boden und stürmt von der kleinen Bühne. Buchstäblich über Nacht wird sie zur Berühmtheit - nur mit Sicherheit nicht so, wie sie es gerne gehabt hätte.

Denn es hat ja einen Grund, dass Jana diesen Vergleich zieht: Sie will eine Heldin sein, eine, die bewundert und verehrt wird - nicht eine, die Spott und Hohn erntet. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das auf den anderen Demos, die sie besucht hat, auch der Fall war - also, dass sie bejubelt und beklatscht wurde. Deshalb hat sie wohl auch nicht mit Gegenwind geredet - ihr Verhalten war nicht das eines reifen, verantwortungsbewussten Menschen, der mit Kritik umgehen kann, sondern das eines trotzigen Kinders, dem noch nie jemand widersprochen hat. Und gelernt hat sie daraus anscheinend auch nichts - ein paar Minuten später kehrte sie auf dieselbe Bühne zurück, blubberte, dass sie "schockiert" gewesen sei, dass sie von einem "Passanten" "beleidigt" wurde und verzapfte denselben Unsinn noch einmal. Ganz offensichtlich hat sie keinen Bock gehabt, darüber nachzudenken, was da gerade passiert ist. Sonst wäre sie nämlich von selbst drauf gekommen, dass sie es lieber ganz gelassen hätte. (Video)

Halten wir nochmal fest: Jana fühlt sich wie Sophie Scholl - und zwar deswegen, weil sie auf einer behördlich genehmigten Demonstration, geschützt von Polizisten und Sicherheitskräften, alles hinausposaunt, was ihr gerade so einfällt. Wer denkt da nicht an Sophie Scholl? Für alle, die mit dem Vergleich immer noch nichts anfangen können, hier eine kleine Geschichts-Nachhilfestunde (es sind ja etliche von euch doch schon eine Weile aus der Schule draußen):
Die 1921 in Forchtenberg geborene Sophie Scholl war eines von fünf Kindern einer Familie, die eher liberal eingestellt war. Dennoch glaubte sie bei Hitlers Machtübernahme wie viele andere junge Leute noch an das Gemeinschaftsideal des Nationalsozialismus und trat mit dreizehn Jahren dem Bund deutscher Mädel (BDM) ein, wo sie sich auch positiv hervortat. Nach zwei Jahren wandten sie und ihr Bruder Hans sich jedoch von den nationalsozialistischen Jugendorganisationen ab. Sie schloss das Abitur ab, absolvierte ein vierwöchiges Praktikum in einem Kindersanatorium, leistete in einem Kinderhort in Blumberg ihren Kriegshilfsdienst ab, der für alle Studierwilligen obligatorisch war, und studierte ab Mai Philosophie und Biologie in München. Über ihren Bruder Hans, der in München Medizin studierte, lernte sie die studentische Widerstandsbewegung Weiße Rose kennen, die sie in ihrer Ablehnung des herrschenden NS-Regimes bestätigte und zu klaren Entscheidungen gegen Hitlers Diktatur aufrief. Sophie verteilte Flugblätter und war später auch an deren Herstellung beteiligt. Bei einer dieser Flugblatt-Aktionen wurden sie und ihr Bruder zusammen mit einem Freund erwischt und dem Rektorat übergeben, das sie an die Gestapo auslieferte. Sie wurden inhaftiert, verhört, verurteilt und am 22. Februar 1943 unter der Guillotine hingerichtet. Während des Verhörs standen sie vor der Wahl, mit den Nazis zu kooperieren, um ihr Leben zu retten, aber sie weigerten sich und gingen lieber in den Tod. Dass die Geschwister Scholl also als Nationalhelden verehrt werden, ist verständlich.

Wenn wir uns das vor Augen halten, ist Janas Selbstinszenierung natürlich in erster Linie einfach nur lächerlich - ihr Problem ist nicht, dass vor ihrer Nase Leute deportiert und ermordet werden, sondern dass sie längere Zeit nicht shoppen, auf Reisen gehen oder Partys feiern kann und dass sie öffentliche Orte nicht ohne Mund-Nasen-Schutz betreten kann. Natürlich ist es gerade sehr bitter, dass junge Menschen, die neue Leute treffen und die Welt kennenlernen wollen, seit Monaten dazu verdammt sind, die Füße stillzuhalten. Partys sind nicht das Wichtigste auf der Welt, aber ich hätte das auch nicht lustig gefunden. Aber das ist eben nicht dasselbe, wie Todesängste ausstehen zu müssen, weil die eigene Meinung nicht dem herrschenden Konsens entspricht. Jana wird im Gegenteil noch von Gesetzeshütern geschützt, damit sie weiterhin ihren Müll verzapfen kann, ohne dafür belangt zu werden. Und es kommt noch verrückter: Aktuell ruft die Anti-Corona-Demo-Szene zu einem "Schweigemarsch" für Jana auf, um ihre Solidarität mit der jungen Frau auszudrücken, die gerade einen Shitstorm kassiert. Eigentlich dachte ich immer, Schweigemärsche wären Verstorbenen vorbehalten, aber manche sind sich offensichtlich für nichts zu blöd.

Nun wissen wir ja, dass Nazi-Vergleiche unter Maskengegnern und Konsorten aktuell sehr beliebt sind. Viele ziehen den Vergleich mit Sophie Scholl heran, andere vergleichen das aktuell angepasste deutsche Infektionsschutzgesetz mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933, und auf Demos werden gerne gelbe Davidssterne getragen, häufig mit der Aufschrift "ungeimpft", die jene Aufnäher nachahmen, welche zu tragen die Juden im Dritten Reich gezwungen waren, weil sich das Religionsbekenntnis bekanntlich nicht äußerlich bemerkbar macht. Und zur Erinnerung: Es ist noch nicht allzu lange her, dass ein elfjähriges Mädchen in Karlsruhe auf der Bühne stand und sich mit Anne Frank verglich, weil es seine Geburtstagsparty nicht wie gewohnt feiern konnte. Nazi-Vergleiche sind nun mal beliebte Totschlagargumente, weil es zu diesen eigentlich gar keine Steigerung mehr gibt - weil die Zeit zwischen 1933 und 1945 eine Zeit des industriellen Massenmordes ist, zu  dem es weder vorher noch nachher etwas Vergleichbares gab.

Dass man darüber diskutieren muss, ob diese Vergleiche zulässig sind, finde ich eigentlich schon unglaublich - so, als wären Lockdown und Maskenpflicht mit dem Mord an Millionen von Menschen vergleichbar, nur weil sie dem Regime nicht gepasst haben. So, als könnte man den Verzicht auf Partys, Friseurbesuche und Urlaube mit der Angst, verhaftet, verschleppt und ermordet zu werden, vergleichen. Und sie sind nicht nur unzulässig - sie sind schlicht und einfach ekelhaft, denn sie verspotten all jene, die unter dem NS-Regime zu leiden hatten oder durch dieses ihr Leben verloren. Darüber hinaus finden gerade diejenigen, die sich so gerne mit Nazi-Opfern vergleichen, die Ideologie der Täter eigentlich voll super - so wie unsere Jana, die bei einer früheren Rede ein Sweatshirt trug, auf dem das Zeichen des Rechts-Esoterikers Heiko Schrang abgebildet war, und die laut ihres (inzwischen gelöschten) Telegram-Kanals Teil der Bewegung "Studenten stehen auf" ist, die mit der Identitären Bewegung verbandelt ist - eine rechtsradikale Gruppierung, die zumindest bei uns in Österreich vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Laut älterer Reden, die natürlich auch im Netz zu finden sind, macht sie gerade eine Ausbildung zur Heilpraktikerin und will im nächsten Jahr Psychologie studieren. Wobei ich mich frage, wie das funktionieren soll bei einer Person, die nicht einmal ein einigermaßen solides Grundwissen in Geschichte aufweisen kann und die ganz offensichtlich ein so eingeschränktes Empathiegefühl hat, dass ihr das eigene Vergnügen wichtiger ist als das Wohl anderer. Vor allem aber frage ich mich, ob sie in der Lage ist, sich die Option offenzuhalten, dass sie möglicherweise nicht recht haben könnte - eine Eigenschaft, die man zum Studieren unbedingt mitbringen sollte. Ich glaube es, ehrlich gesagt, nicht - nicht, wenn sie mit Leuten mitläuft, die vollkommen davon überzeug sind, im Besitz der einzig richtigen Wahrheit zu sein.

Es liegt auf der Hand, dass Janas unrühmlicher Auftritt inzwischen eine Steilvorlage für allerlei Witze und Memes ist. Das finde ich, offen gestanden, auch okay, solange es nicht unter die Gürtellinie geht - Drohungen und Beschimpfungen, das habe ich schon oft genug klar gemacht, gehen gar nicht und davon möchte ich auch nichts hören. Bei der jungen Frau aus Kassel handelt es sich nicht um ein kleines Mädchen, dessen Eltern ihm irgendeinen Blödsinn eingetrichtert haben, den es selbst noch gar nicht einschätzen kann. Sie ist in einem Alter, in dem manche schon für eine Familie verantwortlich sind - sprich, sie ist mit Sicherheit kein Kind mehr. Sie sollte wissen, dass alles, was man tut, Konsequenzen hat - vor allem aber, dass man nicht alles öffentlich rausposaunt, ohne vorher nachzudenken, wenn man sich keiner Kritik aussetzen will. Mein Mitleid hat sich spätestens in dem Moment verflüchtigt, als ich mitbekam, dass sie ein paar Minuten nach dieser Szene wieder die Bühne betrat und denselben Blödsinn von sich gab.

Vor allem aber ist ihr Fall nur einer von vielen - sie hat lediglich versinnbildlicht, auf welche Weise Corona-Verharmloser sich selbstgerecht zu mutigen Helden stilisieren, die sie gar nicht sind. Sophie Scholl ließ die Verhandlung, die über ihren Tod entschied, erhobenen Hauptes über sich ergehen - Jana aus Kassel fängt an zu heulen, wenn ihr jemand mal nicht recht gibt. Ich denke, stärker kann man diese Diskrepanz gar nicht darstellen. Diese Szene ist eine von vielen, die zeigen, dass diejenigen, die sich für "Querdenker" halten, immer mehr den Bezug zur Realität verlieren. Sie glauben, dass sie in einer Diktatur leben, während sie mehr Sonderrechte eingeräumt bekommen als die meisten anderen - denn während man in Deutschland, genauso wie bei uns, mit einer Geldstrafe rechnen kann, wenn man draußen zu viele Leute trifft, während Läden geschlossen bleiben und Veranstaltungen abgesagt werden mussten, tanzen solche Leute unbehelligt und maskenlos Polonaise in der Leipziger Innenstadt. Da kann ich schon ein bisschen nachvollziehen, dass sich andere verarscht fühlen - und die Motivation, sich an die Maßnahmen zu halten, in der Folge möglicherweise sinkt. Was mich persönlich betrifft, ich finde, bei Leuten, die öffentlich zur Hinrichtung von Ärzten und Politikern aufrufen, ist die Zeit der Samthandschuhe vorbei. Man muss ihnen deutlich machen, dass sie nicht alles tun können, was ihnen gerade einfällt, ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen. Die laute Kritik, die aktuell überall zu hören und zu lesen ist, könnte möglicherweise anderen Janas die Lust nehmen, ebenfalls solch geschmacklose Vergleiche anzustellen. Vor allem aber darf man nicht vergessen - ein solcher Ruhm ist kurzlebig. Irgendwann ist die Blondine mit der Bildungslücke ohnehin wieder vergessen, weil eine neue Sau durchs Dorf getrieben wird. Welche das ist? Wir werden sehen. Bon voyage!

vousvoyez

Freitag, 20. November 2020

Manche Menschen sind wie Lavalampen - es macht Spaß, sie zu beobachten, aber besonders hell sind sie nicht

(c) vousvoyez
Das Lustige ist, dass gerade vor kurzem ein FB-Freund genau denselben Satz gepostet hat - wo immer der Spruch also herkommt, er scheint ziemlich geläufig zu sein. Und das auch zu Recht, wie ich finde - denn es gibt tatsächlich Exemplare der Gattung homo sapiens sapiens, auf die genau das zutrifft. Und ich hätte als Teenager wirklich gerne eine Lavalampe gehabt - aber die Geschichte hab ich ja schon erzählt. Die menschlichen Lavalampen findet man ja überall - besonders aber im Internet und besonders in Zeiten wie diesen.
Ja, es ist mal wieder soweit, der zweite Lockdown hat begonnen, und ich melde mich nach einer kurzen Schreibpause wieder in alter Frische zurück. Wobei ich in diesem Jahr ja schon überaus produktiv war - mehr als in all der Zeit zuvor. Deswegen denke ich auch, dass ihr mir verzeiht, wenn ich gleich als erstes mal eine Art Auskotz-Post raushaue - es kommen in Kürze auch wieder andere Inhalte.

Aktuell muss man, wenn man so wie ich häufig online unterwegs ist, ja einiges an Ignoranz und auch Dummheit aushalten. Was ja an und für sich nichts Neues ist - es gibt halt nur momentan einige Themen, die dazu einladen, seinen unqualifizierten Senf dazuzugeben. Ob es sich nun um die aktuelle Gesundheitskrise handelt, um die Diskriminierung von Minderheiten oder auch um die kürzlich entschiedene Präsidentschaftswahl in den USA. Ich will jetzt auch nicht behaupten, dass meine Meinung immer die absolut richtige ist und dass ich ja ach so viel Ahnung von allem habe - aber ich tu wenigstens auch nicht so. Und ich plappere mit Sicherheit nicht alles nach, nur weil es nicht dem "Mainstream" widerspricht - auch wenn ich durchaus einsehe, dass etwas nicht automatisch richtig ist, nur weil es mit dem allgemeinen Konsens übereinstimmt. Was mich jedoch am meisten fasziniert, ist, auf welche Weise sich manche Leute Fakten einfach mal so zurechtbiegen, weil ihnen die Realität nicht passt. Das ist kein ausschließlich rechtes Phänomen - in letzter Zeit sind es aber hauptsächlich Leute vom rechten Rand, bei denen ich das beobachte. So war ich nicht die einzige, die nach den US-Wahlen ein Déjà-vu-Erlebnis hatte - vor vier Jahren musste die Bundespräsidentenwahl in Österreich wiederholt werden, weil der FPÖ das Ergebnis nicht gepasst hat. Mit dem Resultat, dass die zweite Wahl mehr oder weniger gleich ausgegangen ist wie die erste. Trotzdem waren viele FPÖ-Wähler auch nach dieser davon überzeugt, dass es dieses Ergebnis gar nicht hätte geben dürfen. Ähnlich verhält es sich jetzt auch bei der US-Wahl - nicht nur das, es gibt sogar Leute hier in Europa, die niemanden in den USA kennen, noch nie dort waren und trotzdem fest davon überzeugt sind, sie wüssten besser über dieses Land und seine Politik Bescheid als seine über 300 Millionen Einwohner - und natürlich auch darüber, wen die Amerikaner nun tatsächlich gewählt haben. Denn wenn mir persönlich das Ergebnis nicht passt, ja dann - dann muss es natürlich zwingend manipuliert sein!!!!!111 Und wenn einem jemand nicht passt, dann kann es ja gar nicht anders sein, als dass derjenige pädophil ist!

Bereits vor der Wahl sind im Netz zahlreiche Videos und Fotos aufgetaucht, auf denen der demokratische Kandidat Joe Biden sich Frauen und Kindern auf unsittliche Art und Weise genähert haben soll. Die meisten dieser "Beweise" für Bidens angebliche pädophile Neigung wurden inzwischen vom Netz genommen - was natürlich für diejenigen, die daran glauben wollen, gleichzeitig auch ein Beweis ist, dass da irgendwas vertuscht werden soll. Nun, ich denke, ihr seid alle aufgeweckt genug, um zu wissen, wie leicht es in Zeiten von Photoshop & Co. ist, Videos zu schneiden und Fotos dergestalt zu manipulieren, dass es am Ende ungünstig für die Person ausfällt, die hier dargestellt wird oder werden soll. Ein paar dieser Fotos bzw. Videos zeigen nämlich nicht mal Biden, sondern lediglich jemanden, der ihm ein bisschen ähnlich sieht. Ganz abgesehen davon, dass Trumps Schoten ja bekanntlich auch nicht von schlechten Eltern waren. Ich kann jetzt nicht behaupten, dass ich einen doch verhältnismäßig konservativen Kandidaten wie Joe Biden für perfekt halte, um eine Weltmacht zu führen. Selbstverständlich bin ich mir darüber im Klaren, dass Biden diesen doch ziemlich eindeutigen Sieg nicht errungen hat, weil er Biden ist, sondern weil er nicht Trump ist - das ist in etwa so, als würde man bei uns den Bundeskanzler nur deshalb wählen, weil er nicht Hitler ist. Aber wenn man den alten Herrn schon kritisieren will, dann sollte man nicht auf Vorwürfe zurückgreifen, für die es keine haltbaren Beweise gibt. Ich bin bisweilen ohnehin ziemlich fassungslos, wie oft aktuell auf Rufmord zurückgegriffen wird, wenn des darum geht, dass man mit gewissen Personen nicht einverstanden ist. Vor allem aber finde ich diese inflationäre Instrumentalisierung von Kindern, wenn es darum geht, die eigene Meinung zu untermauern, doch recht bedenklich.

Nun ist es natürlich am einfachsten, jemanden in Misskredit zu bringen, indem man ihm unterstellt, er würde auf möglichst eklige Art und Weise die besondere Schutzbedürftigkeit von Kindern missachten. Denn das dies ein schreckliches Verbrechen ist, darüber sind wir uns natürlich alle einig. Wobei ich euch davon abraten möchte, Pädophile mit Pädokriminellen in einen Topf zu werfen - denn dies ist nicht dasselbe. Nicht alle Pädophile leben ihre Neigung aus, und nicht alle, die Kinder missbrauchen, sind deshalb pädophil. Das ist deswegen so wichtig, weil die Gleichsetzung der sexuellen Neigung zu Kindern mit Pädokriminalität Pädophile häufig davon abhält, sich Hilfe zu suchen. Diese Strategie ist ja keineswegs was Neues - ich habe ja bereits im Frühjahr von der QAnon-Bewegung berichtet, die behauptet, Prominente hielten Kinder im Untergrund gefangen, um sie zu foltern und so Adrenochrom zu gewinnen, das sie als Verjüngungsmittel einsetzten, und Donald Trump würde diese befreien. Warum das Schwachsinn ist, habe ich ja bereits erklärt - ganz abgesehen davon, dass es komischerweise immer Trumps politische Gegner sind, denen so etwas unterstellt wird.

Leider ist der US-Wahlkampf bekanntlich nur einer von vielen Anlässen, um Kinder zu instrumentalisieren. Die vermeintliche Gefährdung von Kindern ist nun mal die beste Methode, um Themen zu emotionalisieren - ich habe dabei immer Helen Lovejoy aus der Serie Die Simpsons vor Augen, die bei jeder Gelegenheit ausruft: "Denkt an die Kinder!" So hetzt man gerne gegen die LGBTQ+-Community, indem man speziell homosexuelle Männer gerne mit Pädophilen gleichsetzt, obgleich Homosexualität lediglich die Neigung zum eigenen Geschlecht bezeichnet, welche zwischen mündigen Personen im gegenseitigen Einverständnis ausgelebt werden kann. Oder man erklärt, dass es "nicht natürlich" sei, wenn ein Kind von zwei Müttern oder zwei Vätern großgezogen würde, weil ein Kind das Recht auf Mama und Papa habe. Ich denke, ich muss den meisten nicht sagen, dass man nach dieser Logik auch Alleinerziehenden die Kinder wegnehmen müsste - oder sie zumindest dazu zwingen, sich einen gegengeschlechtlichen Partner zu suchen. Im übrigen ist die von Leuten, die so etwas behaupten, so sehr favorisierte Mama-Papa-Kind-Spießerfamilie keine Vorgabe der Natur, sondern ein verhältnismäßig neues Phänomen - unsere Vorfahren lebten in großen Clans und mit Sicherheit nicht streng monogam, so wie auch im Tierreich viele Jungtiere von großen Familienverbänden betreut werden, manchmal sogar (Gott behüte!) von homosexuellen Paaren. Gerne stellt man auch Einwanderer als Bedrohung für Kinder dar - sei es, dass man fürchtet, dass es bald keine blonden, blauäugigen "Arier"-Kinder mehr geben wird, sei es, dass die vielen Ausländerkinder das Niveau von öffentlichen Schulen angeblich herabsetzen, weil "die" ja alle kein Deutsch können, sei es, dass "unsere" Frauen und Mädchen alle von bösen Ausländern belästigt oder gar vergewaltigt werden (denn "unsere" Frauen dürfen ja selbstverständlich nur von reinrassigen Teutonen belästigt werden).

Ein weiteres Déjà-vu-Erlebnis bescherte mir ein Video des HNO-Arztes Bodo Schiffmann, der in die Kamera heulte, weil angeblich reihenweise Kinder an ihren Masken ersticken - dieselben Masken, die die Viren, die weitaus größer sind als Sauerstoffmoleküle, ungehindert durchlassen. Das erinnert natürlich an Xavier Naidoo, der ebenfalls ein Heul-Video raushaute über die nicht vorhandenen Kinder, die angeblich befreit werden. Die Sache ist nur - in zwei Fällen wurde der tragische Tod eines Kindes dazu benutzt, zu behaupten, dieses sei an der Maske gestorben (wobei eines zum Zeitpunkt des Todes nicht einmal eine Maske trug). Das ist natürlich besonders angenehm für die Eltern, die dann von irgendwelchen Querdenkern belästigt werden, während sie versuchen, eines der schlimmsten Dinge zu verarbeiten, die einem Menschen zustoßen können. Zusätzlich wurden dann auch noch ein paar andere Kinder dazuerfunden, um zu betonen, wie schrecklich es doch ist, dass die armen Kinder ein paar Stunden täglich ein Stück Stoff vor dem Mund tragen müssen. Dieselben Kinder, deren Gesundheit und sogar Leben durch dieses Stück Stoff ja ach so gefährdet ist, werden dann auf Demonstrationen als Schutzschilder benutzt, um die Polizei daran zu hindern, eine Versammlung aufzulösen, die gegen sämtliche Hygieneauflagen verstößt - ein Kampf, den man nur verlieren kann, wenn man auf der "falschen" Seite steht. Und sind nebenbei auch noch ohne jeglichen Schutz den Aerosolen der umstehenden Schreihälse ausgeliefert. Ich bin mir ziemlich sicher, dass deren Eltern dieselben sind, die vor noch nicht allzu langer Zeit gegen die Schülerdemonstrationen zum Klimaschutz gewettert haben. Und dass viele von ihnen auch zu jenen gehören, die in jüngster Vergangenheit vor Schulen aufgetaucht sind und dort Kinder und Jugendliche belästigt haben. Ich muss ehrlich sagen, auch für mich als Nicht-Mutter hat die Vorstellung von Erwachsenen, die fremden Kindern vor Schulen auflauern, keinen sehr positiven Beigeschmack.

Dass Kinder auf Demonstrationen mitgeschleppt werden, häufig auch, um die Dringlichkeit des eigenen Anliegens zu betonen, ist ja nun keine Neuigkeit - das ist schon seit Jahrzehnten Usus und auch nicht ausschließlich auf dem Mist der Rechten gewachsen. Man erinnere sich nur an die Impfgegner-Demos vor dem ersten Lockdown - auch dorthin wurden häufig Kinder geschleppt, manchmal wurden ihnen auch Schilder oder Transparente in die Hand gedrückt, angeblich, um für ihren Schutz gegen die böse Impfung zu kämpfen. Auch heute will man die Kinder nicht durch, sondern vor Impfungen schützen, speziell vor dem Impfstoff gegen Covid-19, der noch gar nicht auf dem Markt ist und der, wenn es soweit ist, mit Sicherheit auch nicht sofort allen zur Verfügung stehen wird, aber was weiß ich schon. Für Aufsehen sorgte kürzlich der Auftritt eines elfjährigen Mädchens in Karlsruhe, das sich darüber beklagte, dass es seinen Geburtstag nicht wie gewohnt feiern durfte und sich dabei mit Anne Frank verglich, die damals auch immer leise sein musste, um von den Nachbarn nicht gehört zu werden. Es gibt halt nur einen klitzekleinen Unterschied - nachdem Anne Frank doch noch entdeckt wurde, ging sie bekanntlich elendiglich im Konzentrationslager Bergen-Belsen an Typhus zugrunde. Einzig und allein für das "Verbrechen", Jüdin zu sein. Dieses Kind hingegen riskiert im schlimmsten Fall eine Geldstrafe für die Eltern, aber mit Sicherheit nicht ihr Leben. Im Gegensatz zu anderen bin ich ziemlich sicher, dass man mit elf Jahren die Geschichte von Anne Frank schon kennen kann - ich war nicht so viel älter, als ich ihr Buch zum ersten Mal gelesen habe. Ich bin mir allerdings genauso sicher, dass die Idee, sich mit ihr zu vergleichen, nicht auf dem Mist dieses Mädchens gewachsen ist - es waren ihre Eltern, die sie auf die Bühne gestellt haben, und es waren mit Sicherheit auch ihre Eltern, die dachten, es käme sicher gut, wenn sie ihrer Tochter einredeten, sie sei wie Anne Frank. Ich finde in diesem Zusammenhang auch die Idee gar nicht so abwegig, dass sie ihre Tochter sozusagen zu einer zweiten Greta Thunberg machen wollten - vor allem Leute aus der rechten Ecke sind ja häufig der Ansicht, Greta sei von ihren Eltern instrumentalisiert worden, und ich kann mir durchaus vorstellen, dass den Eltern dieses Mädchens etwas Ähnliches im Sinn hatten.

Bei aller Wut und allem Groll muss man sich jedoch auch eines vor Augen halten: Das sind Leute, die genauso instrumentalisiert werden, wie sie ihre Kinder instrumentalisieren - und zwar von jenen, denen die Unzufriedenheit der Massen nur allzu gut in den Kram passt. Wir alle sind in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der es immer mehr nur darum geht, uns permanent unzufrieden zu halten - damit man uns in der Folge irgendwelchen Müll andrehen kann, der uns verspricht, uns wieder glücklich zu machen. Daraus resultiert, dass viele von uns glauben, ihr Selbstvertrauen nur aus der Bestätigung anderer ziehen zu können - weil sie nicht verstehen, dass sie sich auch dann selbst lieben dürfen, wenn ihnen nicht permanent jemand auf die Schulter klopft. Und wenn man Anerkennung nicht durch Leistung erlangen kann, rennt man eben jeder Opferlegende nach, die sich einem bietet, egal wie bescheuert sie ist. Menschen, die permanent auf Social Media posten müssen, dass alle böse sind, die nicht ihre Meinung teilen, und dass sie in ihrer Freiheit eingeschränkt werden, weil nicht alles nach ihrem Willen geht, erkennen nicht, dass sie in Wirklichkeit schon längst gefangen sind. Sie sind gefangen in ihrer eigenen kleinen, bornierten Wutbürger-Welt, die alles scheiße findet - solche Leute brauchen diese Wut, um überhaupt noch irgendwas fühlen zu können, und um Bestätigung von ihren Schwurbelfreunden zu kriegen, wenn sie das, was sie für die einzig richtige Wahrheit halten, per Social Media in den Äther blasen. Ja, ich muss zugeben, bei all dem Groll, den ich empfinde, finde ich diese Gestalten auf der anderen Seite auch wieder bedauernswert: Denn wie leer, wie traurig muss das Leben eines Menschen sein, der Begriffe wie "bunt" als Schimpfwort verwendet? Der sich weigert, zu erkennen, dass es sich lohnt, die alten, eingefahrenen Bahnen zu verlassen und neue Wege einzuschlagen? Der Angst davor hat, seine eingeschränkte Spießbürgerwelt zu verlassen und nachzusehen, ob es daneben nicht noch was anderes gibt? Der sich weigert, sich mit Leuten abzugeben, weil nicht so sind wie er selbst? Ich finde das trotz allem doch recht traurig. Deswegen bitte ich euch: Erweitert euren Horizont - und lasst für die eine oder andere Person ebenfalls auch noch ein wenig Mitgefühl über. Bis bald und bon voyage!

vousvoyez