Mittwoch, 31. März 2021

Wer länger gart, ist kürzer roh

© vousvoyez
Ja, auch das ist eine Weisheit, deren Ursprung ich vollkommen vergessen habe. Aber wie ihr seht, ist ihre Botschaft unmissverständlich - denn wer bleibt schon gerne lange roh? So wie der heilige Laurentius, der im 3. Jahrhundert in Rom gelebt haben und dort als Archidiakon das Vermögen der Kirche verwaltet und sozialen Zwecken zugeführt haben soll. Nachdem der römische Kaiser Valerian im Zuge der Christenverfolgung Papst Sixtus II. enthaupten ließ, soll Laurentius ausgepeitscht und aufgefordert worden sein, den Schatz der Kirche auszuhändigen; daraufhin soll er das Vermögen an die Armen, Kranken, Witwen und Waisen verteilt und diese dem Kaiser als "den wahren Schatz der Kirche" präsentiert haben. So wurde er abermals gefoltert und auf einem glühenden Eisenrost hingerichtet, weshalb er in der Ikonographie auch stets mit so einem Rost dargestellt wird. Als Zeichen dafür, dass er zumindest nicht roh gestorben ist - weshalb er heute auch als Schutzpatron der Köche gilt. In Amaseno, einer kleinen Stadt südöstlich von Rom, wird übrigens sein Blut aufbewahrt, das sich am Jahrestag seines Martyriums verflüssigt.

Heutzutage ist es ja ein bisschen aus der Mode gekommen, zu Heiligen zu beten und Reliquien aufzubewahren, aber wie ich in meinem Artikel über die Pest schon ausgeführt habe, scheint es heute, zur Zeit der Corona-Pandemie, wieder häufiger vorzukommen, dass Leute zu der Pestsäule am Wiener Graben gehen, um zu beten. Nun, den Artikel habe ich vor zwei Monaten veröffentlicht, bin dabei aber nur am Rande auf den Seuchendoktor eingegangen, dessen Erscheinung bis heute eng mit dieser Zeit verknüpft wird. Und dieser Pestdoktor ist zur Zeit Gegenstand einer urbanen Legende, die aktuell Kinder, Jugendliche und auch deren Eltern in Angst und Schrecken versetzt. Aber mal zum Anfang.

Pestärzte wurden in Zeiten von Epidemien speziell in größeren Städten mit hohen Opferzahlen eingesetzt; sie waren für die Allgemeinheit besonders wertvoll, deshalb genossen sie spezielle Privilegien - auch wenn sie ihre Position mitunter ausnutzten. Die meisten von ihnen waren Ärzte oder Chirurgen, die sich zuvor noch nicht etabliert hatten; heilen konnten sie die Kranken nur selten, meist dokumentierten sie nur die Zahl der Fälle für die Demographie. Ihre "Heilmethoden" bestanden zumeist aus Aderlass und dem Aufsetzen von Blutegeln und Fröschen. Sie wurden in bestimmten Quarantänequartieren untergebracht, da die Ansteckungsgefahr aufgrund ihres Berufes natürlich sehr hoch war. Da man damals von einer Ansteckung über die Atemwege bzw. über Gerüche ("Pesthauch") ausging, hielten sie sich Duftschwämme, Kräuterbeutel oder Riechäpfel vor die Nase, wenn sie ihren Beruf ausübten. Die berühmte Maske mit dem krummen Schnabelfortsatz, in dem diese Kräuter untergebracht waren, wurde hauptsächlich in Frankreich und Italien getragen, war aber anscheinend eher eine Randerscheinung. Angeblich geht ihre Erfindung auf Charles de L'Orme zurück, der am Hofe Ludwigs XIII. als Arzt residierte; es waren aber wohl vor allem einige Kupferstiche im Bezug auf die Pest in Rom und Marseille, die etwa ab dem 19. Jahrhundert dazu führten, dass man Pestärzte mit dieser Schnabelmaske assoziierte. Manche dieser Masken, die heute in Museen ausgestellt werden, sind wohl nicht authentisch. Aber wenigstens sehen sie schön gruselig aus und passen in diese düstere Zeit, die wir uns trotz Corona heute kaum noch vorstellen können.

Vor kurzem jedoch tauchte auf Tik Tok ein Video auf, in dem eine Gestalt, die so ein Seuchendoktor-Kostüm samt Maske trägt, zu sehen ist - vermutlich stammt es aus Schottland. Seitdem wollen immer wieder mal Leute in Deutschland und Österreich ebendiesen Seuchendoktor gesehen haben, und nicht nur das - diese Person soll Menschen entführen oder gar ermorden. Mittlerweile heißt es sogar, dass es eine ganze Gruppe dieser als Seuchendoktoren verkleideten Personen geben soll, eine kriminelle Organisation oder Sekte, die Kindern und Jugendlichen auf Schulwegen auflauern, um junge Mädchen zu vergewaltigen und vielleicht sogar umzubringen. Nun - ich habe hier auf diesem Blog schon häufiger über die eine oder andere urbane Horrorgeschichte berichtet, denn diese tauchen immer wieder in regelmäßigen Abständen auf allen möglichen Social-Media-Plattformen auf. Das Problem hierbei sind aber meistens weniger die Geschichten selbst, sondern, dass es immer irgendwelche Trittbrettfahrer gibt, die sie für ihre Zwecke nutzen. So geschah es etwa im Jahr 2016 um Halloween, als vor den Horrorclowns gewarnt wurde, die angeblich mit Messern bewaffnet Menschen auf den Straßen auflauerten. Ähnlich war es auch mit der Blue-Whale-Challenge 2017, vor der sowohl Medien als auch die Polizei warnten, die es aber ebenfalls nie gegeben hat, und ich habe 2018 auch mal etwas über diese Momo-Geschichte geschrieben, die größtenteils aus Versatzstücken anderer Horrorgeschichten zusammengebastelt war - diese haben sich vor allem Trash-YouTuber zunutze gemacht, um mittels Angstgeschichten Klicks zu generieren. Diese Horrorgeschichte tauchte Anfang 2019 kurzzeitig wieder auf, und 2020 gab es mit der Jonathan-Galindo-Challenge, die auch nie jemand gesehen hat, eine Art Revival, das sich jedoch nicht durchsetzen konnte, da die Corona-Pandemie alles andere in den Schatten stellte. Was nun die Seuchendoktor-Geschichte betrifft, so verbinden sich hier die üblichen urbanen Horrorlegenden mit der Corona-Pandemie.

Der Ursprung der Seuchendoktor-Geschichte liegt anscheinend in Schottland selbst - in einem Artikel der Edingburgh Live wird von einer Person berichtet, die in so einer Verkleidung in Falkirk gesichtet wurde. Die Polizei hat diesen jungen Mann allerdings inzwischen ausfindig gemacht und auch aufgesucht - kriminelle Aktivitäten fanden jedoch augenscheinlich nicht statt. Aber durch das Video entstand natürlich wieder eine jener Horrorgeschichten, die ungeprüft geglaubt und geteilt werden. Deswegen sei euch gesagt: Es gibt keine nennenswerten Berichte über einen Anstieg von Entführungs-, Vergewaltigungs- oder Mordfällen, weder in Schottland noch in unserer Gegend, aber es gibt bekanntlich viele Möglichkeiten, mit den Emotionen von Menschen zu spielen, und zu den wirksamsten gehört es nun mal, jene glauben zu machen, dass Kinder in Gefahr seien. Allerdings ist im Sommer eine Gruppe von Leuten in diesen Kostümen durch London gelaufen, wahrscheinlich ebenfalls aus Protest gegen die Maßnahmen, und es gibt natürlich auch hierzulande Personen, die sich als Seuchendoktoren verkleiden, etwa auf den allseits bekannten Demos, weshalb die Geschichte natürlich genügend Aufhänger hat. Und anscheinend machen sich einige Leute auch in Deutschland und Österreich diese Geschichte zunutze, indem sie ebenfalls als Seuchendoktoren verkleidet herumgehen und gefilmt werden - beispielsweise ging vor kurzem das Video so einer Person aus Hamburg viral. An dieser Stelle möchte ich euch bitten, über Folgendes nachzudenken: Wie wahrscheinlich ist es, dass Mitglieder einer kriminellen Vereinigung, deren Erscheinungsbild inzwischen bekannt ist, weithin sichtbar herumspazieren, sich dabei filmen lassen und das Ganze dann auch noch auf TikTok hochladen? Na? Na? Eben.

Im letzten Jahr waren solche Horrorgeschichten ja, wie schon gesagt, nicht mehr so verbreitet - und auch die dummen, gefährlichen Challenges, die in der Zeit davor so beliebt waren, setzten eine Zeitlang aus. Was nicht verwunderlich ist - wir hatten schlicht und einfach andere Sorgen. Aber verschwunden sind diese Challenges deswegen nicht - leider. Im vorigen Jahrzehnt war es auf YouTube und später auf TikTok ja häufig so, dass Jugendliche irgendwelche dummen, häufig lebensgefährlichen Sachen gemacht haben, um anderen zu gefallen. Ich erinnere an die Tide-Pod-Challenge, wo man Waschmittelpods in den Mund nehmen musste, oder an die Deo-Challenge, wo man sich Deos oder Haarspray nahe an den Körper hielt und dann auf die Düse drückte, so dass die Haut durch Gefrierbrand verletzt wurde. Um die Mitte letzten Jahres kamen sie jedoch zurück, die dummen, gefährlichen Challenges - und zwar etwa in Gestalt der Choking-Challenge bzw. Blackout-Challenge. Dabei filmen sich vor allem Kinder und Jugendliche selbst, während sie sich bis zur Bewusstlosigkeit die Luft abschnüren - entweder, indem sie sich selbst mit der Hand die Luft abdrücken, schwere Gegenstände auf ihre Brust setzen oder sich mit Gürteln, Seilen und dergleichen strangulieren -, und laden das Video dann auf TikTok hoch. Sich selbst die Atemluft abzuschnüren, kann zu schweren körperlichen Schäden führen, sogar zu Hirnschäden, im blödesten Fall zum Tod - zumindest Letzteres sollte jetzt nicht überraschen. Und dies ist in diesem Jahr leider auch passiert: Im Januar 2021 starb ein zehnjähriges Mädchen aus Palermo, als sie sich mit dem Gürtel eines Bademantels strangulierte; im Februar verlor ein elfjähriger Junge aus Neunkirchen im Saarland bei dieser Challenge sein Leben; in Colorado, USA kämpft aktuell ein zwölfjähriger Junge, der ebenfalls mitgemacht hat, im Krankenhaus um sein Leben. Die Idee ist allerdings nicht neu: Schon 1948 beschrieb der südfranzösische Schriftsteller Jean Giono diese Methode in seiner Novelle Faust o village. Und auch um die Jahrtausendwende, als ich selbst noch Jugendliche war, gab es Teenager und junge Erwachsene, die sich selbst die Luft abschnürten - bei diesem "Choking Game" (Ohnmachtsspiel, Würgespiel) ging es allerdings nicht um eine Internet-Mutprobe, zumal es damals weder YouTube noch TikTok gab, sondern darum, sich durch das Ohnmachtsgefühl durch den akuten Sauerstoffmangel im Gehirn selbst in eine Art Rauschzustand zu versetzen. Auf dem Höhepunkt dieses Trends (1999 - 2007) starben dabei insgesamt 82 junge Menschen, weil sie dabei die Kontrolle verloren. Sich allen möglichen Blödsinn auszudenken, um sich irgendwie einen Kick zu verschaffen, war in meiner Jugend nichts Ungewöhnliches; wie schon erwähnt, wurden wir über die Gefahren von Drogen sehr gut aufgeklärt, aber wie es halt so ist, war man trotz allem doch irgendwie neugierig auf Rauschzustände. Und wenn man beispielsweise Hemmungen hatte, zu einem Dealer zu gehen, um sich Rauschmittel zu besorgen, griff man eben zu Ersatzhandlungen. Ich erinnere mich beispielsweise daran, dass es hieß, das Rauchen getrockneter Bananenschalen habe denselben Effekt wie Marihuana. Ja, schon früher haben Jugendliche jeden Scheiß geglaubt.

Ersatzmittel für Drogen scheinen allerdings auch heute noch zu trenden; Aus den USA gehen aktuell Videos auf TikTok viral, in denen Jugendliche sich mittels Benadryl in einen Rauschzustand versetzt haben. Benadryl ist ein Antihistaminikum, das hauptsächlich gegen Heuschnupfen verabreicht wird und in empfohlenen Mengen auch nicht gefährlich ist. Eine sehr hohe Dosis kann jedoch zu Halluzinationen führen - und viele Jugendliche versuchen aktuell, sich zu berauschen, indem sie extrem viel davon zu sich nehmen. Das Problem dabei ist jedoch: Die Menge, die notwendig ist, damit man halluziniert, ist sehr nahe an der, die nötig ist, um sich selbst in Lebensgefahr zu bringen. Und natürlich können diese Kinder nicht abschätzen, ab wann die Einnahme des Medikaments für sie tödlich sein könnte. Bereits im Mai letzten Jahres wurden in Texas mehrere Jugendliche mit einer Überdosis ins Krankenhaus eingeliefert - eine Vierzehnjährige hatte insgesamt vierzehn Tabletten eingeworfen. Natürlich hatte keiner von ihnen auch nur die geringste Ahnung über die Gefahren dieser Challenge - sie hatten einfach nur nachgemacht, was sie auf TikTok gesehen hatten, und natürlich hatte sie dort keiner darüber aufgeklärt, dass so eine Challenge im blödesten Fall tödlich ausgehen kann. Und auch dieser Trend forderte bereits ein Todesopfer: Ende August 2020 starb eine Fünfzehnjährige an einer Überdosis. Diese Challenge kommt seit dem letzten Jahr immer wieder in Wellen, und anscheinend geht sie diesen Monat wieder einmal viral.

Wir wissen, wie das ist - gerade in einem Alter, in dem man seinen Platz in der Welt sucht, ist es einem enorm wichtig, von anderen anerkannt zu werden. So stehen gerade Jugendliche häufig unter einem enormen Gruppenzwang - und tun Sachen, die ihnen eigentlich selbst nicht geheuer sind, damit andere sie cool finden. Hinzu kommt, dass man, wenn man noch sehr jung ist, gewisse Gefahren noch nicht abschätzen kann. Aber gerade deswegen ist es wichtig, und deswegen predige ich das auch immer wieder, Kindern und Jugendlichen Medienkompetenz zu vermitteln. Wir sehen aktuell, wie viele Erwachsene schon allen möglichen Scheiß glauben, weil man heutzutage alles ins Internet rotzen kann und viele das dann sehen und auch glauben - und das sind auch nicht zwangsläufig immer die Dummen. Medienplattformen haben inzwischen selbst festgestellt, dass es um die Medienkompetenz vieler Nutzer erbärmlich schlecht bestellt ist. Ich habe den Test, der dies ermittelt hat, übrigens auch mitgemacht - und werde euch jetzt bei jeder Gelegenheit unter die Nase reiben, das meine Ergebnisse deutlich über dem Durchschnitt lagen, ha! *angeb* Wie dem auch sei - wenn ich von diesen Challenges berichte, tue ich das auch in der Hoffnung, dass ich irgendwann einmal jemanden damit aufrütteln kann. Aber selbst wenn nicht - es hilft mit Sicherheit dabei, die schlimmsten Auswüchse des Informationszeitalters im Blick zu behalten. Im übrigen hoffe ich, dass ihr alle wohlauf seid und gut auf euch und eure Liebsten aufpasst. Wir sehen uns in Kürze wieder - denn ich arbeite auch noch an einem anderen Thema. Und ich muss ja die Zeit nutzen, die ich noch habe, nicht wahr? Bon voyage!

vousvoyez


https://www.mimikama.at/aktuelles/seuchenarzt-pestmaske/

Dienstag, 30. März 2021

Man stirbt entweder als Held, oder man lebt lange genug, um der Feind zu werden, den man einst bekämpft hat

©vousvoyez
Ja, ich weiß, dieses Zitat ist aus The Dark Knight. Und ja, normalerweise sind Comicverfilmungen nicht so mein Ding - aber Christopher Nolan ist halt ganz einfach ein Regisseur, der sein Handwerk beherrscht, und davon gibt es momentan nicht allzu viele. Und zudem ist Batman ein großer Held meiner Kindheit - schon als Fünfjährige wollten wir alle Batman sein. Und als Sechsjährige spielte ich Batman und Robin mit einem zwei Jahre jüngeren Freund, der damals etwa halb so groß war wie ich - er war Batman, ich war Robin, und ich musste immer hinter ihm herdackeln. Und jetzt lasst dieses Bild einmal langsam auf euch wirken, ehe ihr weiterlest. Gern geschehen!

Warum mir dieses Zitat so passend schien, kann ich euch natürlich auch verraten: Es erinnert mich an all diejenigen, die, so wie ich, die Dreißig schon lange überschritten haben und sich also nicht mehr zur Jugend zählen - und die jetzt genau das tun, was wir, als wir selbst noch Jugendliche waren, lächerlich oder gar ärgerlich fanden: sich über die heutige Jugend aufregen. Und ständig lamentieren, dass früher alles besser war. Und ich muss ganz ehrlich sagen: Ich möchte nicht so werden! Denn ich habe sie nicht vergessen, diese "alten Leute", die ständig lamentierten, dass die eigene Generation sich - im Gegensatz zur heutigen - noch zu benehmen gewusst hätte. Und wie ich in einem anderen Artikel schon erzählt habe, kommen mir da immer die alten Nachrichtensendungen aus den Siebzigern in den Sinn, in denen Personen mittleren Alters mit Trachtenhut und Hubertusmantel interviewt wurden und sich über die "heutige Jugend" mokierten, die sie nicht mehr verstünden. Ja, ich weiß - wir werden alle älter, und das macht mitunter Angst. Aber sowohl das Anbiedern an die jüngere Generation als auch, von diesen zu verlangen, genauso zu sein, wie man es selbst gewesen ist, ist keine Lösung - denn all das macht uns nicht jünger, ganz im Gegenteil. Wir werden dadurch nur verbittert - klar macht die heutige Jugend Dinge, die wir mitunter nicht verstehen, aber das ist auch nicht unsere Aufgabe. Alles, was wir tun können, ist gelassen zu bleiben.

Nun weiß ich natürlich, dass Gelassenheit in Zeiten wie diesen mitunter richtig schwierig ist - besonders, wenn wir sehen, was die Politik aufführt, was einzelne Individuen aufführen, wie unser Leben zurzeit aussieht ... da fällt es mitunter schon ganz schön schwer, gelassen zu bleiben, auch wenn das momentan am hilfreichsten wäre. Aber wir sind eben alle nur Menschen. Das Problem ist aktuell jedoch, dass Zeiten wie diese Verschwörungsmythen enorm begünstigen - wir haben eine Gefahr, die nicht greifbar ist, eine ungewisse Zukunft, viel zu viel Zeit und teilweise auch viel zu wenig Medienkompetenz - und ein Informationsmedium, in dem man sich aussuchen kann, was man für richtig halten will und was nicht. Weil eben jeder Tölpel heutzutage seinen Gedankenmüll in die Öffentlichkeit rotzen kann. Früher hatte jeder Ort einen Dorftrottel, von dem man wusste, dass man das, was er so von sich gab, nicht ernst nehmen soll - heutzutage jedoch haben die Dorftrottel die Möglichkeit, sich zu vernetzen, und halten sich jetzt für eine geheime Elite, die über ein besonderes Wissen verfügt.

Ja, mitunter habe ich tatsächlich den Eindruck, dass es besser wäre, der einen oder anderen Person das Internet wegzunehmen, damit sie wieder zur Besinnung kommt. Allerdings weiß ich, dass das leider nicht so einfach machbar ist. Andererseits entwickle ich mitunter das Bedürfnis, meinen Kopf ganz fest gegen die Wand zu donnern, wenn ich mir so ansehe, was für haarsträubende absolut glaubwürdige Dinge mitunter im Umlauf sind. So wie gestern der Post aus einer Gruppe von QAnon-Gläubigen - die Mutter eines eineinhalbjährigen Kindes stellte mit sehr vielen heulenden Emojis die Befürchtung in den Raum, ihr Baby sei bei der Geburt gegen einen Klon eingetauscht worden. Was einem bei dieser Behauptung natürlich als erstes in den Sinn kommt, ist das Capgras-Syndrom - ein sehr seltenes Krankheitsbild, das sich darin äußert, dass Betroffene glauben, ihnen nahestehende Personen seien durch identisch aussehende Doppelgänger ersetzt worden. Ich persönlich musste da sofort an die mittelalterliche Wechselbalg-Legende denken - jenen Aberglauben, laut dem Phantasiewesen wie Druden, Elfen oder Zwergen Müttern ihre neugeborenen Kinder unbemerkt wegnehmen und gegen dämonische Wesen eintauschen, in der Absicht, ihnen zu schaden. Dies war damals, wie ich schon in einem anderen Artikel angemerkt habe, eine wirksame Methode, um die Misshandlung von missgebildeten oder behinderten Kindern zu rechtfertigen. Ich kann hier natürlich keine Fern- bzw. Laiendiagnose aufstellen, aber meiner persönlichen Meinung leidet diese Frau an einer schweren psychischen Erkrankung und sollte sich im Interesse des Kindes schleunigst in Behandlung begeben.

Auf der anderen Seite verstärken solche Behauptungen in mir einen Gedanken - nämlich, dass wir uns mit Riesenschritten auf dem Weg in ein neues Mittelalter bewegen. Und ich bin bei weitem nicht die erste, die das sagt - schon Umberto Eco formulierte diese These in seinem Roman Das Fucaultsche Pendel von 1988, der als satirisches Werk gegen esoterische Strömungen gesehen werden kann, auch wenn ich zugeben muss, dass die Lektüre desselben ein hartes Stück Arbeit ist. Also nichts, um in schnellen, leicht verdaulichen Häppchen zu Information zu kommen. Das Internet ist eine wunderbare Sache - aber es neigt leider dazu, menschliche Schwächen auszunutzen, sehr ähnlich wie Glücksspielautomaten. Im Großen und Ganzen gilt nur eine Devise: Möglichst viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, um möglichst viele Klicks zu generieren. Und dies gelingt halt am besten mit möglichst reißerischen, emotionalisierenden und polarisierenden Inhalten. So kommt es, dass wir als Online-Community immer mehr zu Hassrede und Verschwörungserzählungen neigen. Denn nüchterne, harte Fakten sind selten so spannend wie verstiegene Behauptungen. Auf diese Weise wird das gegenseitige Vertrauen zerstört, und Menschen beginnen, an Fakten zu zweifeln und stattdessen einen neuen Aberglauben zu entwickeln - in dem es plötzlich ganz logisch und glaubwürdig ist, dass die Erde flach ist, dass im Inneren der Erde Echsenmenschen leben, dass eine nicht näher genannte Elite uns versklaven will oder es auch schon längst getan hat - die Liste ließe sich endlos fortsetzen.

Der heißteste Scheiß unter Schwurbelfritzen Wahrheitssuchenden ist aktuell die Angst vor Textilfasern - ja, ganz recht, dieselben Menschen, die unsereins erklären, dass wir eine Panikstörung hätten, weil wir gegenüber eines Krankheitserregers, von dem wir nicht wissen, wie unser Körper darauf reagieren wird, Vorsicht walten lassen, haben Angst vor stinknormalen Fusseln! Und teilen ganz aufgeregt Videos von Würmern, "Morgellons", "Nanobots" oder wie immer sie das auch nennen, die sie angeblich auf FFP2-Masken oder Teststäbchen gefunden haben. Ja, ganz recht, dieselben Leute, die unsereins immer "Panikmache" vorwerfen, machen Panik vor stinknormalen Textilfusseln! Am meisten amüsiert hat mich ein Instagram-Video von zwei Herren, die so ein Teststäbchen unter ein Spielzeug-Mikroskop auf einem leicht fleckigen Tischtuch hielten, das Fädchen, das sie da erblickten, noch lautstark anpusteten und sich dann vor Panik fast überschlugen, weil das Ding sich bewegte! Das gab es ja noch nie, dass ein Fusselchen sich bewegte, wenn man darauf blies! Oh mein Gott, die Welt steht nicht mehr lange! Wir werden alle sterben!!!!!!!!!111111111111

Man muss dazu allerdings sagen: Verschwörungsmärchen über "Morgellons" und so Zeug gibt es nicht erst seit gestern. Der Begriff stammt aus dem 17. Jahrhundert und tauchte erstmals in einem Werk des englischen Arztes Sir Thomas Browne auf. Im Jahr 2002 wurde der Begriff wiederentdeckt und fand vor allem durch das Internet große Verbreitung. Bei Morgellons bzw. der Morgellons-Krankheit handelt es sich um eine eingebildete Hautkrankheit, bei der angeblich bunte Fasern unter der Haut gebildet werden; in der Medizin wird dies als Variante des Dermatozoenwahns begriffen, eine psychische Störung, bei der Betroffene glauben, Lebewesen - meist Würmer oder Insekten - unter der Haut zu haben, die sich bewegen und Juckreiz auslösen. Das Ganze ist natürlich alles andere als witzig, lässt sich aber mit Neuroleptika ziemlich gut behandeln. Der Biologe und Forensiker Mark Benecke zeigt in einem Video, auf welche Weise sich der Morgellons-Wahn bilden kann; wenn man nämlich Hautschuppen vom Körper kratzt und diese sich zusammenwuzeln, gerät da meist auch der Abrieb von Textilfasern hinein, die dann unter dem Mikroskop sichtbar werden.

Nun wissen wir ja auch, dass es Leute gibt, die eigentlich schon seit Beginn der Pandemie Stimmung gegen die Maßnahmen machen. Zuerst hieß es, ein Mund-Nasen-Schutz helfe nicht gegen die Viren; dann wurden Geschichten erfunden von Kindern, die an den Masken erstickt sein sollen; dann gab es abenteuerliche Geschichten über den PCR- und den Antigen-Test - dass dieser genutzt werde, um einen Chip ins Hirn zu implantieren, mit dem man uns kontrollieren und überwachen kann; dass das Teststäbchen die Blut-Hirn-Schranke zerstöre -; und natürlich ist nicht das Virus die Gefahr, sondern die ganz böse Impfung, denn in Wirklichkeit sei es diese, die uns krank mache, und die Pandemie sei nur erfunden bzw. geplant worden, um uns krankimpfen zu können! Das steht im Internet, also ist es wahr! Und aktuell hat man halt wieder mal die Morgellons-Geschichte ausgegraben, um zu "beweisen", wie gefährlich die Maßnahmen doch seien! Und nicht wenige Leute fallen darauf rein und teilen panisch die entsprechenden Videos. Und nennen das dann "recherchieren". Während unsereins ratlos zurückbleibt und sich so richtig verarscht fühlt - und sich gleichzeitig fragt, warum es so viele zu geben scheint, die sich liebend gern verarschen lassen, obwohl sie sich sonst permanent von aller Welt verarscht fühlen. Besonders von "denen da oben".

Denn diese "Morgellons" oder "Nanobots" sitzen selbstverständlich nicht zufällig auf diesen Masken und Tupfern - die werden von der Regierung da draufgesetzt! Oder von Bill Gates! Oder von wem auch immer! Von wem genau, weiß ich bis jetzt noch nicht - und was das für einen Sinn haben soll, schon gar nicht. Genau erklären kann mir das auch keiner. Aber es ist wahr !!!!11 Natürlich - denn diese Behauptung wurde ja nicht vom bösen Mainstream in die Welt gesetzt, sondern von alternativen Quellen, die so absolut vertrauenswürdig sind, dass man gar nicht erst nach Beweisen fragen muss! Schon allein deshalb, weil sie nichts mit Wissenschaft am Hut haben. Denn Wissenschaft ist ja bekanntlich pöhse! Das einzige, was ich bisher herausfinden konnte, war, dass diese "Nanobots" sich angeblich ins Gehirn fressen, damit dieses dann durch 5G kontrolliert werden kann. Das pöhse, pöhse 5G! In meiner Jugend, als die ersten Handys auf den Markt kamen, war es die Handystrahlung, durch die wir eines Tages alle an Krebs erkranken werden - davon redet heutzutage niemand mehr. Dann war es das WLAN, das laut Aussagen gewisser Individuen total gefährlich sei - davon höre ich heute seltsamerweise ebenfalls nichts mehr. Und jetzt ist es auf einmal 5G, das daran schuld ist, dass die Vögel tot vom Himmel fliegen und das alles ganz, ganz schrecklich ist! Vielleicht sind es sogar diese, die die Corona-Pandemie verursachen, die es ja eigentlich gar nicht gibt! Und wieder frage ich mich, warum man eigentlich noch ein Smartphone besitzt, wenn man doch solche Angst davor hat, kontrolliert zu werden! Und wo man zu jener Zeit war, als man den Überwachungskapitalismus noch hätte verhindern können. Jetzt zu heulen, ist ein bisschen spät.

Warum Leute überhaupt auf sowas anspringen, ist eigentlich recht einfach erklärt: Es ist die allseits beliebte Methode der Emotionalisierung. Und diese funktioniert am besten über den Beschützerinstinkt (siehe "Masken töten Kinder") - oder eben über den Ekel. Und diesen zu erzeugen, ist einfach - denn Fusseln und Fasern findet man überall, sie fliegen in der Luft herum und setzen sich an jeder Oberfläche ab. Jeder Abstrich enthält diese Fusselchen - und wenn man in einer nicht sterilen Umgebung mit einem Mikroskop hantiert, dann bleiben die Dinger selbstverständlich überall hängen. Und natürlich bewegen sie sich auch, wenn sie von einem Luftzug gestreift werden oder wenn sie sich in elektrostatischer Bewegung befinden - jedes Kind weiß doch, was beispielsweise passiert, wenn man einen Luftballon an seine Haare reibt! Es ist sogar ein Video in Umlauf, in dem jemand eine Maske aufschneidet und darin Maden zu finden sind, und Leute glauben das - Kinder, lasst ihr euch wirklich so gern verarschen? Nehmt doch mal so eine FFP-2-Maske zur Hand und tastet sie ab - wenn da wirklich Maden drin wären, müsste es doch ordentlich wuseln! Habt ihr noch nie gesehen, wie eine Biotonne aussieht, die im Sommer längere Zeit nicht geleert wurde? Glaubt ihr wirklich, ihr würdet nicht merken, wenn diese Maden in der Maske drin wären, die ihr auf der Haut tragt? Wenn ihr mir nicht glaubt, untersucht es doch selbst und schneidet so eine Maske auf! Und ganz abgesehen davon: Wozu soll da jemand Maden reinstecken? Ach, was frage ich! Bei der ganzen Geschichte haben wir es wieder einmal mit einem Phänomen zu tun, worüber ich schon häufiger gesprochen habe: Wenn man etwas unbedingt sehen will, dann sieht man es auch. Ob es nun eine Notrufnummer in den Wimpern eines Popstars ist oder Würmer in Masken. Ich frage mich nur, warum so viele von uns nach einem Jahr Pandemie noch immer nicht genug davon haben, sich allerlei Wahnvorstellungen einreden zu lassen. Nicht nur das - sehr viele behaupten sogar, die Verschwörungstheorien, die vor einem Jahr noch als solche belächelt würden, wären inzwischen alle wahr geworden. Aber welche genau, kann mir niemand sagen.  Und komisch - mir ist nicht bekannt, dass jemandem durch den Covid-Test das Hirn ausgeflossen wäre, dass auch nur ein Kind nachweislich an einer Maske erstickt ist, dass es auch nur einen Beweis gäbe, das mit dem Impfstoff auch noch ein Kontrollchip injiziert worden wäre. Aber ja, das wird ja von den bösen Systemmedien alles verheimlicht!

Was ich an all diesen Geschichten so ärgerlich finde, ist, dass uns ständig Phantom-Diskussionen über Morgellons und Impftote aufgezwungen werden, während vernünftige Kritik an den Maßnahmen größtenteils untergeht. Dass Maßnahmenkritiker nur als solche gelten, wenn sie möglichst oft mit Worten wie "Mainstream", "Staatsfunk", "Impfzwang" und "Diktatur" um sich werfen, während sie jenen, die nicht an ihre Märchen glauben und nicht mit Rechtsradikalen mitlaufen, unkritische Regierungstreue vorwerfen, obwohl das oft gar nicht stimmt. Ich möchte euch nur an eines erinnern: Die NS-Zeit begann nicht, weil alle auf einmal Nazis geworden sind - sie entstand vor allem deshalb, weil der brave Durchschnittsbürger billigend in Kauf nahm, dass Nazis die Politik übernahmen - und viele diesen sogar jubelnd nachgelaufen sind, weil sie glaubten, Hitler würde die Welt retten. Ein kleiner Tipp: Wenn schon demonstrieren, dann bitte ohne rechtsgestrickte Parolen. Und statt sofortiger Aufhebung notwendiger Maßnahmen vielleicht einmal etwas Sinnvolles fordern - etwa endlich finanzielle Unterstützung für jene, die aufgrund der Pandemie keinen Job mehr haben, anstatt für große Firmen. Eine effektivere Impfstrategie, die nicht mehr erlaubt, dass irgendwelche Bürgermeister sich vordrängen. Dass man aufhört, uns mit Phrasen wie "die nächsten beiden Wochen werden entscheidend sein" abzuspeisen. Bessere Arbeitsbedingungen für das Gesundheitspersonal. Bessere Home-Schooling-Bedingungen für Familien in finanzieller Notlage. Es gäbe so vieles, wofür es sich lohnen würde, zu kämpfen - und ihr beschränkt euch darauf, wie Kleinkinder herumzuplärren! Und irgendwelche Märchen zu glauben, um alles schlecht zu reden, was nur irgendwie dazu beitragen könnte, die Situation bald wieder erträglicher zu machen! Meine lieben Freunde und Zwetschkenröster: Hört endlich auf, euch verarschen zu lassen!

vousvoyez

https://m.tagesspiegel.de/wirtschaft/ehemaliger-google-entwickler-warnt-wir-sind-auf-dem-direkten-weg-ins-digitale-mittelalter

https://www.youtube.com/watch?v=a_NpJU12_LA

Donnerstag, 25. März 2021

Was kommt wohl zuerst - mein neues Handy oder der Brexit?

©vousvoyez
Das Rätsel ist inzwischen gelöst: Es war das neue Handy. Obwohl wir mit dem Brexit ja bekanntlich auch schon durch sind. Lange genug hat das Theater ja gedauert - für mich persönlich ist der ganze Zirkus aber vor allem das beste Beispiel dafür, dass das eigene Stimmrecht doch nicht so egal ist, wie manche immer glauben. Ich bin schon einigen begegnet, die deswegen nicht wählen gehen, weil sie sagen, das bringt doch eh nix - lustigerweise sind das häufig auch diejenigen, die sich am meisten über die Politiker aufregen. Was England betrifft - ich mag das Land, war auch schon zweimal dort, habe mich da auf eine sehr schräge Art und Weise sogar fast schon zu Hause gefühlt. Das fiel mir auf, als ich an einem Nachmittag das Städtchen Lewes in der Grafschaft Sussex besuchte - dieses Gefühl kann ich bis heute nicht erklären, denn es sah dort nicht einmal so aus wie bei mir daheim. Aber vielleicht hatte ich ja doch mal ein früheres Leben und hab damals da gewohnt - ich werde es aber wahrscheinlich nie erfahren.

Nun, England hat uns ja bekanntlich bei der Pandemiebekämpfung bereits überholt. Ein Jahr ist inzwischen vergangen, Corona hat uns nach wie vor fest im Griff, ein Ende ist noch lange nicht in Sicht, wir sind alle erschöpft, stinksauer und hochgradig genervt, sowohl Vernünftige als auch Unvernünftige. Und doch müssen wir irgendwie durchhalten - weil es einfach nicht anders geht. Auch wenn es schwierig ist, wenn man das Gefühl hat, dass diejenigen, die ihre kostbare Freiheit über alles andere stellen, alles dürfen, während unsereins seit einem Jahr auf Sparflamme lebt und Jugendliche Verwarnungen kassieren, sobald sie versehentlich minimal den vorgegebenen Zwei-Meter-Abstand unterschreiten. Allerdings möchte ich heute nicht einfach noch eine Schimpftirade gegenüber den Querkaspern vom Stapel lassen - derer gibt es hier schon genug. Ich möchte meinen Ärger heute ein bisschen anders nutzen - ich möchte nämlich ein bisschen den Dingen auf den Grund gehen, die dazu geführt haben, dass die Situation heute so ist, wie sie ist bzw. wie sich unsere Gesellschaft zu dem entwickelt hat, was sie heute ist.

Wie die meisten von euch ja sicher wissen, bin ich ein großer Fan von Wissenschaft, Logik und Vernunft. Und da die allermeisten von euch ja nicht auf den Kopf gefallen sind *Schleimspur wegwisch*, habt ihr sicherlich auch festgestellt, dass ich kritisches Denken und Hinterfragen genau deswegen ebenso sehr befürworte - selbst wenn es um die drei eben genannten Begriffe geht. Oder gerade deswegen. In Zeiten wie diesen sind wir natürlich sehr auf die Wissenschaft angewiesen - denn sie ist die erste, die gefragt ist, wenn es darum geht, so schnell wie möglich aus der Misere wieder herauszukommen. Gleichzeitig jedoch kollidieren zwei wesentliche Interessen miteinander, die unsere Politik aktuell prägen: einerseits die Bestrebungen der Demokratie, Schwächere zu schützen, andererseits der Neoliberalismus, der die Wirtschaft über alle anderen Interessen stellt. Und für den nicht die Wahrung demokratischer Strukturen, sondern vor allem die Interessen des freien Marktes im Vordergrund stehen - denen demokratische Entscheidungen schon einmal geopfert werden können, siehe den Militärputsch in Chile 1973. Die aktuelle Pandemie offenbart vor allem die Schwächen einer neoliberalen Politik, die dem hemmungslosen Kapitalismus, der durch den Zusammenbruch des Kommunismus auch keinen richtigen Gegenpol mehr hat, Tür und Tor geöffnet hat: Gerade die USA und Großbritannien, die diesen am stärksten vorangetrieben haben, waren in der Anfangszeit der Corona-Krise am stärksten von der Pandemie betroffen. Entsprechend sind auch die selbst ernannten "Querdenker" nicht die Rebellen, als die sie sich gerne sehen: Denn sie fordern ihr Recht auf hemmungslosen Konsum und die Durchsetzung ihrer persönlichen Interessen zu Lasten aller anderen.

Und hier zeigt sich bereits ein weiteres Problem: Nämlich, dass die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte uns im Grunde genommen recht unmündig gemacht hat. Einerseits bin ich sehr dafür, das Wahlrecht in Anspruch zu nehmen, andererseits muss ich jenen, die sich gegen das Wählen entscheiden, auch ein bisschen Recht geben: Man hat zeitweise wirklich das Gefühl, dass es egal ist, wen man wählt, der größte Unterschied liegt in der Parteifarbe. Ich muss gestehen, dass ich ebenfalls hauptsächlich deshalb wählen gehe, um das Schlimmste zu verhindern. Auch viele gesetzliche Regelungen fußen auf der Vorstellungen von Politikern, die Bevölkerung "erziehen" zu müssen - denn was ist beispielsweise das Hartz-IV-Gesetz in Deutschland, mit dem auch die FPÖ geliebäugelt hat, anderes als der Versuch, die Leute zum Fleiß zu "erziehen", indem man sie unter Androhung der Streichung von Leistungen dazu zwingt, Jobs anzunehmen, die so schlecht bezahlt sind, dass sie noch zusätzlich mit Hartz IV aufstocken müssen? Ähnlich ist es ja auch mit der Verbrauchersteuer - indem man Zigaretten und Alcopops versteuert, will man die Bevölkerung zu einer gesünderen Lebensweise "erziehen". Und ein wichtiges Beispiel dafür ist auch die erstmals von Adorno und Horkheimer formulierte Kulturindustrie, die dazu dient, unser Verhalten ökonomischen Strukturen anzupassen - und die Teil einer Rationalisierung ist, die alles in eine gewisse Form pressen will und Abweichungen nicht duldet. Und die jeden Aspekt unseres Lebens kontrollieren will, bis hin ins Privateste, sogar Liebe und Sexualität sind inzwischen den Strukturen der Industrialisierung unterworfen. Am deutlichsten wird dies in erotischer Trivialliteratur á la Fifty Shades of Grey, das sich durch abweichende Sexualpraktiken als revolutionär darstellt, es in Wirklichkeit aber gar nicht ist - denn die Liebe folgt auch hier den klassischen Strukturen, im Zuschauer wird die Sehnsucht nach einer Welt geweckt, zu der er selbst nie gehören wird, und Sex gilt eigentlich nur als Ware. Die eigene Phantasie, freies Denken und natürliche Instinkte spielen hier keine Rolle mehr - man ist nicht mehr Rezipient, sondern nur noch der Konsument, der kurzfristig zufriedengestellt werden muss. Aus diesem Grund erklären viele Leute ja auch, Kultur sei nicht systemrelevant - weil heutzutage alles einem Zweck unterworfen sein muss und weil eine authentische Kultur den gedankenlosen Konsum nicht zulässt. Hinzu kommt sicher auch, dass die wenigsten Kulturschaffenden sich "Querdenker" schimpfen und viele sich klar von rechtsradikalem Gedankengut distanzieren - sie lassen sich nicht den Mund verbieten, deswegen sind sie für die selbsternannten "Rebellen" zu unbequem. Dabei sind es gerade diese Sonntagsrevolutionäre, die verkennen, dass sie damit in Wirklichkeit den Mechanismus des ihnen so verhassten "Systems" bereits verinnerlicht haben: Was nicht passt, wird passend gemacht; was nicht vom Mainstream (sic!) aufgesogen werden kann, wird rigoros aussortiert. Dies schürt auch die Angst vor dem Unbekannten, Unberechenbaren - alles, was man nicht kennt und nicht versteht, muss aus der eigenen Welt verbannt werden. Im schlimmsten Fall entstehen daraus rechtsradikale Strömungen - entsprechend verwundert es nicht, dass gerade so viele von ihnen bei den Querdenker-Demos anwesend sind.

Auf die Gesamtgesellschaft übertragen, bedeutet dies, dass wir dazu neigen, die Wirklichkeit in eine sehr grobe, einheitliche Form zu bringen - was sich vor allem durch die Algorithmen der Digitalwelt zeigt. Das ist auch der Grund, warum die Beschäftigung mit der Identität heutzutage so häufig passiert - unser Alltag ist inzwischen schon so sehr von diesem Reduktionismus geprägt, dass wir unser eigenes Selbst schon gar nicht mehr richtig begreifen. Und gleichzeitig wollen wir so wahrgenommen werden, wie wir sind  mit allen Abweichungen vorgegebener Normen, die uns als Individuum auszeichnen. Und dies kollidiert sehr häufig mit der Welt der Rationalität, die alles einem Allgemeinbegriff unterordnen will. Dies führt dazu, dass inzwischen viele Stimmen laut werden, die nicht anstreben, durch Denken die Wirklichkeit zu verstehen, sondern die Wirklichkeit ihrem Denken zu unterwerfen. Auf diese Weise verkommt auch die Politik immer mehr zu einer Art Show, perfektioniert etwa in der Selbstinszenierung eines Donald Trump, der die Massen täuscht, um seine eigenen Interessen durchzusetzen. Leute, die diesem nachlaufen, halten sich häufig für Kritiker und Individualisten, sind es in Wirklichkeit aber nicht - denn sie sind einem Blender auf den Leim gegangen. Und deswegen auch unmündig geblieben. Sie beschweren sich, von der Politik gegängelt zu werden, haben sich aber jahrelang von einem kapitalistisch-neoliberalen System gängeln lassen.

Die Auswirkungen sehen wir mittlerweile fast wöchentlich auf der Straße - ganz ehrlich, wer von euch ist nie der Versuchung erlegen, einen Vergleich zu ziehen zwischen dem laut plärrenden, pöbelnden Mob auf diesen unsäglichen Demonstrationen, der sich nicht selten ernsthaft noch von Polizisten wegschleifen lässt, und kleinen Kindern, die sich kreischend auf den Boden werfen, wenn der bzw. die Erziehungsberechtigte ihnen etwas nicht kaufen will? Seit mittlerweile fast zwanzig Jahren haben wir die Etablierung einer Maschinerie, die zum heutigen Überwachungskapitalismus geführt hat, billigend in Kauf genommen - keiner hat protestiert, als Edward Snowden den Überwachungsskandal der NSA aufgedeckt hat; kaum einen scheint es gestört zu haben, zu erfahren, dass Facebook längst als Datenkrake entlarvt wurde. Klar - für uns hat sich ja gefühlt nichts geändert. Aber letzten Sommer, wo die Corona-Warn-Apps verfügbar wurden, teilte man elendslange Kettenbriefe auf eben dieser Datenkrake, in denen man erklärte, man lasse sich nicht mittels dieser App "überwachen". Weil es auf einmal etwas unbequem geworden ist. Ernsthaft? Andererseits hört man aber nach wie vor nicht auf, die ganze Welt ungefragt an seinem Privatleben teilhaben zu lassen, indem man jeden Aspekt seines Lebens in Social Media breittritt. Gleichzeitig begreift man auch die Außenwelt als riesengroßes Wohnzimmer: Jogginghosen außerhalb des eigenen Wohnbereichs, Essen und Trinken auf der Straße, lautstarke Telefongespräche, unfreiwillige Musikbeschallung in öffentlichen Verkehrsmitteln. Selbstverständlich will man da auch keine Maske tragen, keinen Abstand halten, keine Rücksicht nehmen und keinen Anstand wahren; man will sich überall aufführen wie daheim. Ich erinnere mich da an den jungen Kabarettisten Michael Buchinger, der sich einmal darüber beschwert hat, dass die Leute glauben, sich überall "wohlfühlen" zu müssen - selbst beim Zahnarzt oder auf dem Weg zur Arbeit. Entsprechend gelingt es uns häufig auch nicht einmal mehr, selbstironisch zu sein. Und auch das sieht man bei den Querdenker-Demos: Sie veralbern die Maskenpflicht, indem sie sich Tampons vors Gesicht hängen oder Mülleimer über den Kopf stülpen und nennen das "Humor". In Wirklichkeit nehmen sie das alles jedoch sehr ernst, selbst das, was sie als "Humor" bezeichnen - sie halten das für "Kunst" und glauben, damit besonders edgy und kontrovers zu wirken, aber in Wirklichkeit geben sie sich nur selbst der Lächerlichkeit preis. Denn auch hier zeigt sich das Infantile, das einem auf diesen Demos so häufig ins Gesicht springt: Sie erinnern an kleine Kinder, die sich die Unterhose über den Kopf stülpen, weil sie sich nicht anziehen und in den Kindergarten gehen wollen.

Wie ihr also seht, kommen durch die aktuelle Situation sehr viele strukturelle Probleme zutage, die in den Jahren zuvor bereits unter der Oberfläche gebrodelt haben, die aber seitdem sehr akut geworden sind. Nun - ich hoffe sehr, wir werden in absehbarer Zeit eine Lösung finden und können die Auswirkungen in halbwegs humanen Grenzen halten. Bis dahin - bleibt sicher und passt auf euch auf, wie schwer auch immer es fällt. Bis bald!

vousvoyez

Mittwoch, 17. März 2021

Wenn man alles zustellt, hat man keine guten Aussichten


@jadewitt
Wobei hier natürlich die Frage ist, ob man Dinge per Post zustellt lässt oder die Aussicht aus dem Fenster. Momentan ist es wohl eher ersteres - jedenfalls, solange die Situation da draußen so bleibt, wie sie ist. Obwohl die Hoffnung, dass sich das alles in absehbarer Zeit ändert, bekanntlich zuletzt stirbt, aber bis dahin müssen wir uns wohl weiterhin noch gedulden. Und um uns die Zeit zu vertreiben, habe ich mich endlich wieder einmal mit ein paar Disney-Filmen auseinandergesetzt. Heute allerdings will ich mich auf einen bestimmten Film konzentrieren - weil er ein bisschen zu einem Thema passt, über das ich schon vor kurzem einmal gesprochen habe. Und das ich bereits ein paarmal besprochen habe - auch wenn es diesmal nicht um Schwarze geht, sondern um eine andere Ethnie, die an den Herrschaftsansprüchen von Weißen großen Schaden genommen hat

Wie ihr wisst, basiert die Handlung der meisten Disney-Klassiker auf Romanen, Märchen, Mythen und Sagen, während andere von ihren Autoren selbst erdacht wurden. Ein Film fällt dabei aber gänzlich aus dem Rahmen, da er sich mit einer Person befasst, die tatsächlich und nachweislich existiert hat: Ich spreche von Pocahontas, der 1995 erschien und bei dem Mike Gabriel und Eric Goldberg Regie führten. Dessen Handlung ist eine freie Interpretation der Lebensgeschichte einer jungen Frau aus dem Volk der Powhatan, das einst aus insgesamt mehr als dreißig verschiedenen Stämmen bestand und im Osten des heutigen US-Bundesstaates Virginia ansässig war. Wie frei die Geschichte tatsächlich interpretiert war, wussten damals aber wohl nicht einmal die Autoren selbst - obwohl sie natürlich von Anfang an sehr viel verdrehten, verkitschten und romantisierten. Deswegen empfehle ich auch, selbst wenn ich den meisten von euch das bestimmt nicht zu sagen brauche, den Film als eigenständige Geschichte zu betrachten und nicht als die Wiedergabe historischer Tatsachen. Denn letzteres ist er ganz und gar nicht. Aber schauen wir uns das Ganze doch einmal etwas genauer an.

Der Kulturwissenschaftler Klaus Theweleit beschrieb in seinem 2013 erschienenen Buch der Königstöchter den von ihm so genannten "Pocahontas-Komplex", eine Hypothese, die besagt, dass Eroberer ihre kolonialistischen Aktivitäten häufig durch Berichte über die Töchter indigener Herrscher zu legitimieren versuchten, die mit der Hingabe ihres Körpers an den bewunderten Fremden gleichzeitig dessen Besitzansprüche an deren Territorien besiegeln würden. Tatsächlich musste die historische Figur der Pocahontas oft für eine Verfälschung der Geschichte herhalten, die die europäischen Kolonialisten in einem weitaus positiveren Licht darstellte. Pocahontas wird hier als "edle Wilde" dargestellt, die praktisch von Natur aus nach den Wertvorstellungen der europäischen Kultur lebt und bereit ist, sich diesen zu unterwerfen, was jedoch durch die Mehrheit der anderen, bösartigen Native Americans zunichte gemacht wurde. Aufmerksame Leser meines Blogs werden es schon festgestellt haben: Der Mythos Pocahontas diente dazu, die gewaltsame Inanspruchnahme des amerikanischen Kontinents und den daraus resultierenden Genozid an den indigenen Völkern zu rechtfertigen. Sehr viele Bücher erheben den Anspruch, die angeblich wirklich wahre Geschichte der "Indianerprinzessin" zu erzählen - die vom Volk der Powhatan mündlich überlieferte, vierhundert Jahre lang vor einer breiten Öffentlichkeit verborgene andere Seite der Geschichte wurde allerdings erst im Jahr 2007 von einem der Überlebenden dieses Volkes, Dr. Linwood "Little Bear" Custalow, zusammen mit der Ethnologin Angela L. Daniel in dem Buch The True Story of Pocahontas niedergeschrieben. Und diese hat mit dem romantisch-verkitschten Produkt der Disney-Studios kaum noch etwas zu tun.

Matoaka, die Lieblingstochter des Sachem (Häuptlings) Wahunsenaca, die den Namen ihrer Mutter, Pocahontas, annahm, sobald sie in ihrem Volk als erwachsen galt, war erst zehn Jahre alt, als sie dem siebzehn Jahre älteren John Smith im Jahre 1607 das erste Mal begegnete - eine Liebesgeschichte zwischen den beiden hat es in Wirklichkeit nie gegeben. Damals landete Smith mit einer Crew an der Küste des Reichs der Powhatan, um Gold und andere Schätze zu suchen, und wurde, als er einmal allein auf der Jagd war, von Native Americans gefangen genommen und vor Wahunsenaca gebracht, wo er behauptete, er und seine Leute seien vor den Spaniern geflohen, die schon viel Leid über die indigene Bevölkerung gebracht hatten. Der Sachem sah in ihm einen Verbündeten und wollte ihn als Häuptling der Engländer in sein Volk aufnehmen, was allerdings das Misstrauen der anderen Engländer weckte, die das Aufnahmeritual sabotierten. Später schrieb Smith in seinen Memoiren, Pocahontas sei in ihn verliebt gewesen und deshalb zu seiner Verbündeten geworden, hätte ihm sogar das Leben gerettet, als ihr Stamm ihn hätte hinrichten wollen. Dass dies tatsächlich so gewesen sein soll, wird von Custalow allerdings entschieden dementiert - als Lieblingskind des Häuptlings stand Pocahontas unter ständiger Beobachtung, hätte also kaum die Möglichkeit gehabt, heimlich mit Smith Kontakt aufzunehmen oder auch nur ihre Stimme gegen die ihres Vaters zu erheben. Bereits ein Jahr später reiste Smith wieder nach England ab - angeblich, um eine Verletzung zu kurieren -, und soll in der Folge seinen Tod vorgetäuscht haben, um sich seinen Verpflichtungen gegenüber den Powhatan zu entziehen. Theweleit vermutet, dass Smith, der sehr belesen und auch in der Geschichte der griechischen Antike bewandert war, die Rettungsgeschichte um Pocahontas nach dem Vorbild der Medea-Sage konstruiert hat, die Geschichte jener Königstochter, die den griechischen Helden Jason ebenfalls vor einem Racheakt ihres Vaters rettete.

Mit zwölf Jahren heiratete Pocahontas einen Krieger namens Kocoum, zog mit ihm in dessen Dorf und wurde Mutter eines Sohnes. Dieses Glück währte jedoch nicht lange, da die Engländer den Stellenwert der jungen Frau schon früh erkannt hatten; sie rissen sich das Land der Powhatan unter den Nagel, plünderten ihre Dörfer, vergewaltigten und versklavten die Frauen und Kinder und schmiedeten einen Plan, um sich vor Vergeltungsschlägen der Natives zu schützen. Im Jahre 1613 überfielen die Engländer unter dem Kommando von Captain Saumel Argall Kocoums Hütte, töteten ihn und seinen Sohn, entführten seine Frau und hielten sie über ein Jahr als Geisel gefangen. Sie wurde vergewaltigt und Mutter eines Sohnes, man konvertierte sie zwangsweise zum Christentum und taufte sie auf den Namen Rebecca. 1614 wurde sei mit dem verwitweten John Rolfe verheiratet, der als Vater ihres Sohnes Thomas Rolfe bekannt ist, obwohl er es wahrscheinlich nicht war; dieser hatte durch die Kreuzung des von den indigenen Völkern angebauten Tabaks mit einer aus der Karibik mitgebrachten Sorte den heute bekannten Virginia-Tabak kultiviert. Er reiste mit Pocahontas nach England, wo sie der Königsfamilie als "Indianerprinzessin" vorgestellt wurde und später als Abgesandte und Mittlerin zwischen ihrem Volk und der englischen Kolonialmacht stilisiert wurde. Hier begegnete sie zum ersten Mal seit Jahren wieder dem totgeglaubten John Smith und erkannte, dass er sie und ihr Volk verraten hatte. Insgesamt verbrachte sie drei Jahre in England, ohne zu wissen, dass sie ihre Heimat nie wiedersehen sollte, denn sie starb auf dem Rückweg nach Virginia. Je nach Quelle, wird als offizielle Todesursache Tuberkulose, Typhus, die Pocken oder eine Lungenentzündung angegeben; Custalow geht von einer Vergiftung aus, die verhindern sollte, dass Pocahontas ihre Erkenntnisse über Smiths Verrat ihrem Volk mitteilte. Durch ihre Schwester, die sie auf der Reise begleitet hatte und der Vergiftung entgangen war, soll die Wahrheit aber dennoch zu ihrem Volk zurückgebracht worden sein, und 1622 holten die Powhatan zum Vergeltungsschlag gegen die englischen Siedler aus, was diese jedoch als Vorwand nutzten, um noch härter gegen die indigene Bevölkerung vorzugehen.

Der Disney-Film entstand mehr als zehn Jahre vor Veröffentlichung von Custalows Buch; die Geschichte von Pocahontas wurde damals ausgewählt, um einen Film mit einem etwas erwachseneren, ernsthaften Thema auf den Markt zu bringen. Pocahontas war allerdings nicht der erste Disney-Film, der die Native Americans thematisierte; bereits 1937 erschien im Rahmen der Cartoon-Reihe Silly Symphonies ein Kurzfilm mit dem Titel Little Hiawatha (deutsch: Klein Adlerauge), der in parodistischer Weise auf einem Epos des amerikanischen Schriftstellers Henry Wadsworth Longfellow, The Song of Hiawatha, basiert. Hiawatha ist eine mystische Figur, die als Mitbegründer und Führer des Irokesenbundes gilt, der zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert gegründet wurde und die Angehörigen der irokesischen Sprachgruppe miteinander vereinte. Die genaue Stammeszugehörigkeit des Hiawatha variiert von Erzählung zu Erzählung - mal wird er den Onondaga, mal den Mohawk oder den Anishinabe (Ojibwa) zurechnet -, vor allem aber wurde ihm eine spirituelle Verehrung zuteil, die auch in der amerikanischen Kunst Ausdruck fand. Tatsächlich plante Walt Disney selbst einen abendfüllenden Film über die Figur Hiawatha, eine Idee, die jedoch Ende der 1940er Jahre in den Archiven verschwand, da auch die Disney-Studios in der Nachkriegszeit mit finanziellen Verlusten zu kämpfen hatten. Wie in Pocahontas, so spielt auch in der Hiawatha-Geschichte die Befriedung zweier konkurrierender Völker eine Rolle, wenn auch nicht zwischen Natives und Weißen, sondern zwischen zwei indigenen Stämmen. Tatsächlich dienten die Entwürfe zu dem geplanten Hiawatha-Film ein halbes Jahrhundert später als maßgebliche Inspiration zur künstlerischen Darstellung des Pocahontas-Films. Bei der Gestaltung der Hauptfigur ließ man sich umfangreich von Historikern, Fachleuten und Angehörigen der indigenen Bevölkerung beraten, um Pocahontas zumindest äußerlich nicht verzerrt oder verfälscht darzustellen. Um dem Film einen reiferen Eindruck zu verschaffen, wurde auf sprechende Tiere verzichtet, außerdem sind die Figuren kantiger und geradliniger als sonst. Am markantesten ist allerdings die Farbdramaturgie, die vor allen von Rosa-,bzw.. Rot- und Blau-, aber auch von Grüntönen bestimmt wird und deren prägnantestes Stilelement der immer wiederkehrende, die Figuren mit farbigen Blättern umwehende Wind ist. Dieser unterstreicht vor allem emotionale Momente, seine Bedeutung wird vor allem im wichtigsten Lied des Films, Colours of the Wind (deutsch: Farbenspiel des Winds), noch einmal hervorgehoben.

Die Handlung des Films konzentriert sich vor allem auf die Liebesgeschichte zwischen John Smith und Pocahontas und umfasst das klassische dramaturgische Motiv zweier aufeinandertreffenden Welten - auf der einen Seite das indigene Volk, das im Einklang mit der Natur lebt und seinen spirituellen Prinzipien treu bleibt, auf der anderen Seite die Kolonialisten, die an den technischen Fortschritt glauben und rein materialistische Interessen verfolgen. Im Jahr 1607 erhält der berühmte englische Abenteurer John Smith von der Virginia Company den Auftrag, die Neue Welt zu erkunden, und macht sich zusammen mit seiner Crew unter der Leitung von John Ratcliffe auf den Weg. Die Intention der Engländer ist es, das Land zu ihrem Vorteil auszubeuten und nach ihren Vorstellungen zu gestalten - die indigene Bevölkerung halten sie für rückständig und ihnen kulturell unterlegen, freundschaftliche Beziehungen zu diesen sind nicht vorgesehen. Dies ändert sich jedoch, als Smith der Tochter des Indianerhäuptlings der Powhatan, Pocahontas, begegnet. Obwohl die beiden völlig verschiedene Sprachen sprechen, gelingt ihnen die Kommunikation, und sie entwickeln eine Freundschaft, aus der allmählich echte Liebe wird - eine Liebe, die aus John Smith, der von Pocahontas in die Geheimnisse der Natur und ihrer Kultur eingeweiht wird, einen anderen Menschen macht und ihn begreifen lässt, dass seine Ansichten über die Native Americans sowie sein Glaube, dass seine Auffassung von der Welt die einzig richtige sei, engstirnig und überheblich waren. Im Gegensatz zu ihm sind Radcliffe und die andren Engländer aber nicht so schnell bereit, ihre Vorurteile zu überdenken - sie geraten mit den Indigenen aneinander, und nur Pocahontas ist dank ihrer Liebe zu John dazu imstande, zwischen beiden Parteien zu vermitteln. Im Gegensatz zu den meisten anderen Disney-Filmen hat dieser nicht wirklich ein Happy End - es gelingt zwar, die kriegerischen Auseinandersetzungen zu beenden, doch John wird dabei schwer verwundet und muss nach England zurückkehren, so dass es keine gemeinsame Zukunft für ihn und Pocahontas gibt.

Wie aber soll man mit einem Film umgehen, der eine Geschichte erzählt, die es so nie gab? Nun - vielleicht habt ihr schon bemerkt, dass ich der Ansicht bin, dass man Verbote, wenn irgendwie möglich, besser vermeiden sollte. Und obwohl ich mich erinnere, dass ich von der im Gegensatz zu den anderen Filmen vergleichsweise einfallslosen Animation doch ein bisschen enttäuscht war, finde ich doch, dass es seine Richtigkeit hat, dass Disney die Geschichte der Häuptlingstochter adaptiert hat - denn gäbe es den Film nicht, wäre uns der Name Pocahontas wohl bis heute kein Begriff. Und wer weiß - vielleicht hat er außer mir noch andere dazu angeregt, sich mit der wahren Geschichte der Powhatan auseinanderzusetzen? Und selbst wenn nicht - ich finde nichts falsch daran, einen Film zu schaffen, der von gegenseitigem Respekt und Akzeptanz zwischen unterschiedlichen Kulturen und Lebensweisen handelt. Möglicherweise sollte man den Film, ähnlich wie Tarantinos Django Unchained, nicht mit realistischen Augen, sondern eher im Sinne von "Was hätte sein können" betrachten. Als eine Möglichkeit, sich die Welt ein kleines bisschen besser und toleranter zu erträumen, und wer weiß - vielleicht eröffnet uns auch das neue Möglichkeiten. Ich jedenfalls würde mich darüber freuen.

vousvoyez

Dienstag, 16. März 2021

Die CDU ist für die Jugend genauso attraktiv wie ein Backstage-Pass beim Musikantenstadl

©vousvoyez
Nun ist es ja schon beinahe zwei Jahre her, dass Rezo in seinem berühmten YouTube-Video die CDU zerstört hat. Attraktiver ist sie seitdem trotzdem nicht geworden - genauso wenig wie die ÖVP in meinem Land, die ja politisch im Großen und Ganzen ins selbe Horn stößt. Und das, obwohl Letztere uns sogar einen Quoten-Jugendlichen als Kanzler beschert hat - aber leider nur mit Ohrwaschlkaktus-Hintergrund. Dass dies das einzige ist, was der Attraktivität seiner Partei schadet, wage ich allerdings dezent zu bezweifeln.

Inzwischen leben wir schon seit einem Jahr mit einer Pandemie, und mit meiner Hoffnung, dass wir im Laufe der Zeit lernen werden, vernünftig mit dem Virus umzugehen, lag ich leider komplett daneben. Was wohl auch daran liegt, dass wir alle in einer krisenfernen Wohlstandsgesellschaft aufgewachsen sind und jetzt nicht einsehen wollen, dass wir momentan auf so einiges verzichten sollen. Manche wähnen uns sogar schon in einer Diktatur. Nun, was ich von dem Diktatur-Geschrei halte, habe ich bereits schon mehrmals dargelegt - ebenso, wie ich zu den Cerebralallergikern stehe, die praktisch jedes Wochenende auf die Straße rennen, weil sie glauben, dann wird alles wieder so wie früher. Aber die nervigen Leute sind in diesem einen Jahr nicht weniger geworden, und deshalb möchte ich heute mal wieder meine Eierer-Liste fortsetzen.

Top-Eierer Numero 25: "Ich lasse mich nicht ..."

Sie sind in allen Gesellschaftsschichten vertreten und tun sich vor allem dadurch hervor, dass sie bei jeder Gelegenheit laut ihre Meinung hinausposaunen müssen. Sie wollen, dass alles wieder so wird wie vor der Pandemie, sie wollen, dass die Läden, Restaurants, Diskotheken und Friseursalons wieder aufgesperrt werden - am besten gleich gestern. Aber eines wollen sie nicht: Etwas dafür tun. Kompromisse wie etwa Tests für körpernahe Dienstleistungen sind für sie Diktatur, und impfen lassen wollen sie sich schon gar nicht, weil das so schlimm und gefährlich ist. Nun, wir haben keine Impfpflicht, und im Prinzip darf ein jeder selbst entscheiden, ob er sich impfen lassen will oder nicht - aber bitte, hört doch endlich mal auf, ständig überall breitzutreten, dass ihr euch nicht impfen lasst! Ja, wir haben es alle geschnallt: Ihr glaubt, ihr habt so ein gutes Immunsystem und seit daher unsterblich! Und ja, klar, wegen einer verweigerten Impfung gewisse Annehmlichkeiten nicht in Anspruch nehmen zu dürfen haltet ihr für Diktatur. (Nur so am Rande: Es gibt Länder, in die man auch vor Corona ohne gewisse Impfungen gar nicht reinkam - beispielsweise ist die Gelbfieber-Impfung vor der Einreise in viele afrikanische und südamerikanische Staaten obligatorisch.) Aber denkt ihr denn, ihr selbst seid nicht manipulativ, wenn ihr ständig bei jeder Gelegenheit "Ich lasse mich nicht impfen" schreien müsst? Und davon abgesehen - gilt euer Grundsatz, dass ihr euch kein "Gift" in den Körper pumpen lasst, nur beim Impfen oder verzichtet ihr etwa auch auf Billigfleisch, Softdrinks, diverse Wundermittelchen und Kosmetik auf Erdölbasis? Am lustigsten finde ich ja diejenigen, die über die "giftige" Impfung schwurbeln, dabei aber dermaßen viel Botox im Gesicht haben, dass ich schon vom Hinschauen Schmerzen bekomme. Ach ja, übrigens: Botox ist ein Nervengift, das erstmals in verdorbenem Fleisch nachgewiesen wurde. Guten Appetit, meine Lieben! Interessanterweise würden übrigens dieselben, die ständig schwadronieren, dass der Impfstoff viel zu wenig erprobt sei, sich völlig ohne Bedenken das völlig ohne repräsentative Ergebnisse zusammengepanschte "Wundermittel" von Winfried Stöcker verabreichen lassen - aber klar, dem will ja nur die pöhse Farmer-Industrie Steine in den Weg legen!!!11 Kürzlich sah ich übrigens den Post einer mir völlig unbekannten Person, der damit drohte, sein Heimatland zu verlassen, sollte eine Impfpflicht kommen. Nun denn - gute Reise, Fremder. Glaubst du ernsthaft, ganz Deutschland wird in Tränen ausbrechen, wenn du weggehst? Aber bitte tu mir einen Gefallen und komm nicht zu uns - wir haben schon genug eigene Top-Eierer Numero 25!

Top-Eierer Numero 26: "Promi XY interessiert mich nicht!"

Nach dem Interview mit Prinz Harry und seiner Ehefrau Herzogin Meghan sind sie mir wieder vermehrt aufgefallen: Jene, die überall herumerzählen müssen, dass ihnen das Gerede um diese und jene Prominenten ja sooo auf die Nerven geht und dass ihnen Promi XY absolut egal ist. Denn dieser ist ja reich und berühmt und habe daher rund um die Uhr glücklich zu sein - und ja nicht über die negativen Seiten seines Lebens zu reden! Denn wer Milliarden auf dem Konto hat, dem darf es nicht schlecht gehen. Niemals! Das Lustige dabei ist ja, dass dieselbe Person, die sich überhaupt gar nicht für Promi XY interessiert, häufig genauestens über dessen Privatleben Bescheid weiß - und keine Gelegenheit auslässt, zu schwadronieren, wie egal ihnen dieser doch ist, damit es auch der Letzte im hintersten Winkel von Social Media noch mitgekriegt hat. Solche Leute sind, obwohl sie es nicht zugeben wollen, häufig sehr einfach gestrickt - sie halten es für den Gipfel des Glücks, sich kaufen zu können, was man will, und von aller Welt Aufmerksamkeit zu erhalten. Das ist die Art und Weise, wie wir "erzogen" sind, wie ich es an anderer Stelle schon einmal angeführt habe - wir glauben, uneingeschränkter Konsum sei dasselbe wie uneingeschränkte Freiheit. Weil die meisten von uns nie gelernt haben, dass das eine mit dem anderen nichts zu tun hat. Deswegen ist ausufernder Konsum auch das erste, was den meisten von uns einfällt, sobald die Pandemie-Einschränkungen gelockert werden. Und wenn jemand in der Lage ist, ohne sichtbare Einschränkungen zu konsumieren, dann muss es ihm zwangsläufig gut gehen! Viele haben eben nicht auf dem Schirm, dass auch ein goldener Käfig immer noch ein Käfig ist - den man nicht einfach mal so verlassen kann, um sich die Beine zu vertreten, eine Packung Toilettenpapier zu kaufen oder eine Tasse Kaffee trinken zu gehen, ohne dass gleich die halbe Welt darüber spekuliert. Das Ding ist halt - diejenigen, die sich überhaupt gar nicht für Promi XY interessieren, tun genau das Gegenteil von dem, was sie von anderen fordern: Sie widmen jenen, die sie angeblich nicht interessieren, einen erheblichen Teil ihrer ach so kostbaren Aufmerksamkeit. Ähnlich, wie es schon vor nicht allzu langer Zeit bei Greta Thunberg der Fall war: Ein erheblicher Teil jener, die dafür sorgten, dass sie im Gespräch blieb, taten dies, während sie sich darüber beschwerten, dass die "Göre" viel zu viel Aufmerksamkeit bekommt. Liebe Top-Eierer Numero 26: Seid ihr wirklich zu dumm, um zu schnallen, dass ihr zur Aufmerksamkeit von Promi XY beitragt, oder wollt ihr euch nur nicht eingestehen, dass euch das Thema doch nicht ganz so egal ist, wie ihr immer tut?

Top-Eierer Numero 27: Leute, die andere instrumentalisieren

Gerade in der aktuellen Situation begegnet man ihnen oft: Leuten, die sich große Sorgen um andere machen, die von der Gesellschaft benachteiligt werden. Beispielsweise jene, die der Ansicht sind, dass alle Einschränkungen auf der Stelle aufgehoben werden müssen, weil sich sonst die Depressiven was antun könnten. Lustigerweise sind das häufig dieselben, die sonst die Meinung vertreten, Depressive sollen sich gefälligst mal zusammenreißen, immerhin gibt es Menschen auf der Welt, denen es viel schlechter geht! Und diejenigen, die allen, die es ihrer Meinung nach hören sollen, um die Ohren hauen, dass uns die Flüchtlinge in Moria nichts angehen - immerhin haben wir auch hier genügend Obdachlose. Die im übrigen, wie sie finden, gar nicht obdachlos sein müssten - immerhin haben wir hier ja so ein gutes Sozialsystem! Aber alle, die auf dieses angewiesen sind, ob In- oder Ausländer, sind Schmarotzer, die einfach nur zu faul zum Arbeiten sind! Anders sieht es hierbei auf einmal aus, wenn es um die ältere Generation geht: Als die Schüler noch auf die Straße gingen, um für eine bessere Klimapolitik und somit für ihre eigene Zukunft zu demonstrieren, kursierten zahlreiche Memes im Internet, die forderten, sie sollten doch lieber dafür auf die Straße gehen, dass die armen Pensionisten nicht mehr auf das Sammeln von Pfandflaschen angewiesen sein müssen! Und auch unter jedem Bericht, in dem von Flüchtlingen die Rede war, gab es zahlreiche Kommentare voller Heul-Smilies, weil man so Mitleid hatte mit den armen Alten, an deren Elend doch nur diese bösen Ausländer schuld seien! Inzwischen hat sich das Blatt gewendet, denn zum ersten Mal muss man wirklich aktiv Rücksicht auf diese Generation nehmen, da diese durch die Pandemie besonders gefährdet ist. Und auf einmal werden ganz andere Töne angeschlagen: Diejenigen, die an Covid-19 sterben, hätten ohnehin nicht mehr lange gelebt, und wer Angst um seine Gesundheit hat, kann doch gerne zu Hause bleiben, aber man kann doch nicht verlangen, dass andere sich deswegen solidarisch verhalten! Und wieder sind es häufig dieselben, die vor fünf, sechs Jahren noch ganz empört waren, wenn man ihnen empfahl, zu Hause zu bleiben, wenn sie doch so Angst vor den vielen bösen Ausländern hätten, die angeblich an jeder Ecke lauern! Liebe Top-Eierer Numero 27: Hört auf, ständig andere vorzuschieben, nur um euren Willen durchsetzen zu können, und tut zur Abwechslung auch mal was Vernünftiges!

Top-Eierer Numero 28: "Nur wie ich es mache, ist es richtig!"

Seien es Haustierhalter, Eltern, Ernährungsapostel oder Sonstige: Diese Leute sind der festen Überzeugung, dass sie die Weisheit mit dem großen Löffel gefressen haben, und man findet sie praktisch überall. Seien es die bereits angesprochenen Übermuttis, die glauben, dass man ein Kind nur auf eine einzige Art und Weise großziehen kann, nämlich auf ihre; seien es Tierhalter, die der Ansicht sind, dass nur sie allein in der Lage sind, ein Tier richtig zu versorgen; seien es Veganer, die alle anderen mal so nebenbei zu Mördern erklären oder Fleischesser, die der Meinung sind, alle hätten den veganen Lebensstil abzulehnen; seien es Menschen, die die perfekte Art, sich zu ernähren, gefunden haben und überzeugt davon sind, dass alle anderen auf der Welt es auch so zu machen haben; seien es diejenigen, die irgendein Wundermittelchen entdeckt haben und nun alle anderen zu diesem "bekehren" wollen - die Liste ist endlos lang. Eines aber haben diese speziellen Eierer alle gemeinsam: Sie sind lästig und sie können nicht akzeptieren, dass nicht alle gleich sind und nicht alle auf dieselbe Weise leben können oder wollen. Und sie wollen anderen auf Biegen und Brechen ihre Ansicht aufzwingen. Sei es, dass das Kind unter allen Umständen im gemeinsamen Familienbett zu schlafen habe, selbst wenn es im eigenen Bett glücklicher ist; sei es, dass Rohfütterung die einzig richtige Ernährungsweise für jeden Hund dieser Welt sei, selbst wenn er es gar nicht verträgt; sei es, dass die einzig richtige Ernährung für alle Menschen dieser Welt die "Steinzeit-Diät" sei, weil inzwischen ja keine 2,6 Millionen Jahre vergangen sind; sei es, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen sich von allen Therapien und Medikamenten loszusagen und diese durch überteuerte spiritistische Sitzungen zu ersetzen haben, da die böse "Schulmedizin" sie sowieso nur noch kränker mache! All das geht dann meist so weit, dass es irgendwann einmal kein anderes Gesprächsthema mehr gibt. Liebe Top-Eierer Numero 28: Wenn alle dumm sind außer einem selbst, sollte man sich möglicherweise bei der eigenen Nase fassen!

Top-Eierer Numero 29: "Mein Leid ist größer als deines!"

Mein Großvater starb im Alter von 65 Jahren an einer Herzkrankheit, an der er seit seiner Militärzeit im Zweiten Weltkrieg litt. Seine älteste Schwester war zutiefst empört darüber, dass er die Frechheit besaß, vor ihr zu sterben - denn schon zu seinen Lebzeiten wies sie ihn bei jeder Gelegenheit darauf hin, dass sie älter sei als er und daher das Recht habe, noch kränker zu sein! Nun, was in meiner Familie nur noch eine lustige Anekdote ist, ist ansonsten immer noch Realität: Menschen wollen sich gegenseitig permanent übertrumpfen, wenn es darum geht, wer mehr Mitleid verdient hätte. Und ich habe auch eine Theorie, warum das so ist: Für die meisten von uns war Kranksein als Kind unsere Vorstellung vom Himmel. Man musste nicht in die Schule, wurde liebevoll umsorgt, hatte keine Verpflichtungen, bekam das Essen ans Bett und durfte meistens fernsehen, soviel man wollte. Ich erinnere mich, dass ich als Kind ernsthaft diejenigen beneidete, die ein Körperteil heroisch eingegipst hatten - oder gar im Krankenhaus lagen! Denn die wurden von allen Freunden und Verwandten besucht, mit Geschenken überhäuft und hatten immer was zu erzählen! Ich musste siebzehn Jahre alt werden, um das "Vergnügen" zu haben, für ein paar Tage im Krankenhaus zu liegen - mir reichten allerdings nur zwei Tage, um so schnell wie möglich wieder nach Hause zu wollen. Und das, obwohl ich sogar den Luxus eines Zimmers in einer Privatklinik hatte! Wie auch immer - auf jeden Fall scheinen wir darauf konditioniert zu sein, dass wir nur Aufmerksamkeit "verdient" haben, wenn uns irgendein Leid widerfahren ist. Deswegen neiden wir wohl auch jenen, die über ihr eigenes Leid sprechen wollen, die Aufmerksamkeit. Aus diesem Grund schwadronieren wohl auch so viele vom "Rassismus gegen Weiße", sobald Schwarze über Rassismus gegen sie sprechen wollen. Deswegen fordern manche Männer wahrscheinlich vehement die Anerkennung ihrer Opferrolle, sobald über Unterdrückung und Benachteiligung von Frauen gesprochen wird. Und nur so kann ich mir erklären, warum wir unsere eigene Situation, in der wir immerhin noch mehrheitlich ein Dach über dem Kopf, genügend zu essen und sogar ein ausgiebiges Unterhaltungsprogramm haben, gegen die von Menschen aufwiegen wollen, die auf einer griechischen Insel festsitzen und all das nicht haben. Liebe Top-Eierer Numero 29, für euch gilt das gleiche wie für viele eurer Artgenossen: Es geht nicht immer nur um euch!

Wow, das hat wieder einmal gut getan! Und ja - ich weiß, ich habe ein bisschen viel über das nervigste Thema der Welt eingebaut, aber ihr müsst doch zugeben, dass ich dieses, so gut es geht, ausspare, nicht wahr? Hä? Hä? Und wer weiß - möglicherweise wird das ja doch noch mal was mit der Normalität. Hoffen wir auf jeden Fall das Beste. Vor allem aber kann ich euch versprechen - die beliebten Themen werden nicht lange auf sich warten lassen! Ich kiffle zum Beispiel schon wieder an zwei neuen Ideen zum äußerst beliebten Disney-Thema. Das ist übrigens auch für mich recht spannend! Ich hoffe, dass ihr mir bis dahin gesund bleibt und nichts anstellt! Bon voyage!

vousvoyez

Mittwoch, 10. März 2021

Johann Gudenus ist ein so schlechter Tänzer, dass seine Freunde in der Waldorfschule jahrelang glaubten, sein Name sei Renate

@evablue
Jaja, die Ibiza-Witze waren noch monatelang lustig - und manche sind es bis heute. Wobei wir ja wieder mal einen großen Finanzskandal zu verzeichnen haben, nachdem die Geschichte mit Schönling Karl-Heinz Grasser nach Ewigkeiten nun endlich abgeschlossen ist. Aber ich denke, niemand von euch ist hier, um über österreichische Finanzskandale aufgeklärt zu werden. Und ich habe keine Lust, darüber zu schreiben. Zumal es etliche gibt, die das besser können. Allerdings ist mir aufgefallen, dass bezüglich eines anderen Themas Redebedarf herrscht. Deswegen möchte ich mich diesbezüglich wieder einmal äußern - auch auf die Gefahr hin, dass ihr am Ende eure verfaulten Tomaten auspackt - aber lasst mich erst mal erklären.

Letzte Woche gab es einen Riesenshitstorm gegen Marieke Lucas Rijneveld, eine niederländische Schriftstellerin und Übersetzerin, die den Auftrag bekam, die Werke der überaus talentierten jungen Poetin Amanda Gorman vom Englischen ins Niederländische zu übertragen. Amanda Gorman ist vielen von euch möglicherweise noch durch ihren wortgewaltigen Auftritt bei Joe Bidens Angelobung bekannt; der Vortrag ihres Gedichts The Hill We Climb ließ den Überlegenheitsglauben von Donald Trump und Konsorten noch lächerlicher erscheinen, als er ohnehin schon war. Der Grund für den Shitstorm gegen Rijneveld: Sie ist eine weiße Frau, die die Texte einer Schwarzen übersetzen soll - und zwar einer, deren künstlerische Arbeit geprägt ist von ihrer Identität als Schwarze Frau. So etwas, behauptete die niederländische Journalistin Janice Deul, könne eine weiße Frau niemals authentisch übersetzen. Rijneveld war von den heftigen Reaktionen, die die Entscheidung, sie mit dem Übersetzungsauftrag zu betrauen, so schockiert, dass sie sich davon zurückzog. Der Witz dabei: Amanda Gorman war mit der Auswahl Rijneveld durchaus einverstanden. Mit andern Worten, der 23jährigen wurde das Recht abgesprochen, selbst zu entscheiden, wer ihre Gedichte übersetzen darf. Man kann sich, glaube ich, denken, was losgewesen wäre, wenn man einer schwarzen Übersetzerin die Fähigkeit abgesprochen hätte, die Texte einer weißen Autorin zu übersetzen - es hätte einen Riesen-Shitstorm gegeben, und das auch völlig zu Recht. Denn das wäre eindeutig als Rassismus identifizierbar gewesen. Da es sich aber umgekehrt verhält - also, der Shitstorm gegen eine Person gerichtet ist, die ethnisch dem Lager der Unterdrücker zuzuordnen ist -, verhält es sich natürlich anders. Aber ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich Janice Deuls Vorgehensweise eher kritisch betrachte - und ich möchte euch auch erklären, warum. Deshalb will ich über ein weiteres Schlagwort im Kampf gegen Rassismus sprechen - nämlich über cultural appropriation bzw. "kulturelle Aneignung".

Nun, was versteht man unter kultureller Aneignung? Man spricht von kultureller Aneignung oder Appropriation, wenn ein Individuum oder eine Gruppe bestimmte Merkmale einer anderen Kultur oder Identität adaptiert. Im Prinzip ist es also das, was eigentlich schon geschieht, seit es Kulturen gibt - und doch ist cultural appropriation immer wieder Gegenstand heftiger Kontroversen. Die Debatte umfasst alle kulturellen Genres, sei es Mode, Musik, bildende Kunst, Literatur, Film oder Tanz, um nur einige zu nennen. Und zwar vor allem dann, wenn sich an den Errungenschaften einer unterdrückten Kultur bedient und diese dadurch ihrem Kontext entrissen werden. Dies zu kritisieren, ist selbstverständlich nicht nur legitim, sondern auch wichtig. Trotzdem schießen manche dabei über das Ziel hinaus, was besonders durch Social Media wieder sichtbar wird. Denn das Thema ist überaus komplex und kann nicht allein auf ein Für und Wider reduziert werden.

Der Begriff cultural appropriation entstand in den 1970er und 1980er Jahren im angelsächsischen Sprachraum im Zuge der amerikanischen Bürgerrechts- und der Critical-Whiteness-Bewegung. Es geht in erster Linie darum, dass sich vor allem die weiße Populärkultur bereits seit vielen Jahrzehnten fleißig am kulturellen Erbe der von ihr unterdrückten Identitäten bedient, ohne diesen Wertschätzung entgegenzubringen - wobei Weißen, die kulturelle Appropriation betreiben, die Diskriminierung häufig erspart bleibt, die der Ursprungkultur aufgrund derselben Merkmale widerfuhr, und sie andernfalls äußere Attribute anderer Kulturen jederzeit wieder ablegen können. So sahen sich Afro-Amerikaner und Native Americans sehr lange Zeit gezwungen, sich dem weiß geprägten Normativ anzupassen, da ihnen verboten wurde, ihre Kultur in der Öffentlichkeit auszuüben. So wurde das Nutzen indigener Sprachen in amerikanischen Schulen bestraft, während BPoC ihre traditionellen Flechtfrisuren (Braids) nicht tragen durften, die in afrikanischen Kulturen die Zugehörigkeit zu bestimmten Volksgruppen oder auch den gesellschaftlichen Stand symbolisieren. Noch heute gibt es junge Natives, die sich aus Angst vor dem Spott anderer die Haare schneiden lassen, während in vielen Berufssparten Braids oder Dreadlocks als "unprofessionell" oder gar "unhygienisch" gelten. Ein anderes Problem wird darin gesehen, dass gewisse Attribute nicht mehr mit der zugehörigen Kultur verbunden werden, sondern mit der Person, die sie adaptiert hat - und diese Anerkennung erhält für etwas, wofür andere zuvor diskriminiert wurden. Ein Beispiel ist etwa Bo Derek, die in dem Film 10 aus dem Jahr 1979 Braids mit eingeflochtenen Muschelschalen trägt. Bis heute wird diese Frisur in der öffentlichen Wahrnehmung mit einer weißen amerikanischen Schauspielerin in Verbindung gebracht, obwohl sie schon seit Jahrhunderten vom westafrikanischen Volk der Fulbe getragen wird. Ebenfalls problematisch gesehen wird die Gefahr der Stereotypisierung - so erzeugen Indianerkostüme im Fasching die Illusion einer einheitlichen indigenen Bevölkerung auf dem amerikanischen Kontinent, obwohl diese in Wirklichkeit eine große Vielfalt aufweist (ähnlich, wie man auch nicht die Gesamtbevölkerung Europas in einen Topf werfen kann). Ich erinnere mich daran, wie meine Großmutter mir als Kind das Foto eines indigenen Jungen zeigte, der kurze Haare und ein Polo-Shirt trug - und ich fragte, warum er denn keinen Federschmuck trage. Und ich erinnere mich an Filme wie Winnetou, die ich damals gesehen habe und in denen Indianer ausschließlich von Weißen dargestellt wurden.

Ein populäres Beispiel für kulturelle Appropriation, die der adaptierenden Kultur ursprünglich mehr Vorteile brachte als der adaptierten, ist mit Sicherheit der Rock'n'Roll. Dieser entwickelte sich in den 1950er Jahren aus dem afroamerikanischen Rhythm'n'Blues, der sich in den 1940ern aus Versatzstücken von Jazz, Boogie, Swing und Gospel entwickelt hatte. Das Problem dabei ist weniger, dass weiße Musiker wie etwa Elvis Presley oder Scotty Moore sich an der schwarzen Musik orientierten, sondern dass sie finanziell davon profitierten, im Gegensatz zu vergleichbar populären schwarzen Künstlern wie Little Richard oder Bo Diddley. Verständlich, dass dies für BPoC frustrierend ist - andererseits muss man allerdings auch sagen, dass die Adaption von Elementen schwarzer Musik durch weiße Künstler erheblich dazu beitrug, die Hemmschwelle des weißen Publikums vor schwarzer Musik abzubauen sowie dem darauf spezialisierten Label Motown und somit auch vielen großen schwarzen Talenten wie Tina Turner, Aretha Franklin, Otis Redding und Stevie Wonder den Weg zum Erfolg ebnete. Darüber hinaus darf man nicht vergessen, dass Elemente der schwarzen Kultur, insbesondere Rhythm'n'Blues, in der etablierten weißen Gesellschaft als primitiv, ja sogar anrüchig galten - die Adaption dieser war für weiße Jugendliche, die in der allgemeinen Wahrnehmung keine eigene Stimme hatten, eine Form der Abgrenzung und des Protests. Es hat also alles seine zwei Seiten - wobei die eine die andere selbstverständlich nicht relativieren soll. Ein weiteres Beispiel ist der Tanzstil Vogue; in den 1970er Jahren im New Yorker Stadtviertel Harlem von schwarzen und lateinamerikanischen Homosexuellen entwickelt, fand er Ende der Achtziger durch Madonna und Malcolm McLaren den Weg in den Mainstream. Heute werden Vogue-Stunden bereits von heterosexuellen weißen Tanzlehrerinnen angeboten, die von den Ursprüngen dieses sehr körperbetonten Stils nicht die geringste Ahnung haben. Dies sehen viele Angehörige der schwarzen und lateinamerikanischen Queer-Szene kritisch, da sie erkennen müssen, dass sie von heteronormativen Personen, die Voguing betreiben, nach wie vor abgelehnt werden.

Stellen wir also fest: Der Hauptvorwurf, wenn es um kulturelle Appropriation geht, ist der Diebstahl von Attributen marginalisierter Kulturen bzw. der Profit an diesen bei gleichzeitigem Fehlen von Authentizität sowie Desinteresse an deren Ursprüngen. Wobei die Meinungen darüber, wo kulturelle Aneignung anfängt, natürlich weit auseinandergehen - für manche reicht es schon, wenn eine weiße Person Dreadlocks trägt, während es für andere davon abhängt, aus welchem Grund diese Frisur getragen wird. Im Zeitalter des Internets werden vor allem prominente Persönlichkeiten häufig kritisch beäugt - sei es Kim Kardashian, die ihre Cornrows nicht mit der afrikanischen Kultur, sondern mit Bo Derek in Verbindung brachte; sei es Beyoncé, die in einem Musikvideo in indischer Tracht auftrat; Pharrell Williams, der 2014 auf dem Cover der britischen Elle mit einem Warbonnet abgebildet wurde oder auch Sascha Lobo, der einen roten Irokesenschnitt trägt, ja sogar Carola Rackete, deren Haare zu Dreadlocks gedreht sind. Nun wissen wir, dass Attribute fremder Kulturen schon seit längerer Zeit Bestandteil von Mode sind - erinnern wir uns doch nur an die Hippie-Kultur, in der unterschiedlichste Stile von Kulturen aus aller Welt wahllos zusammengewürfelt wurden, oder an meine eigene Jugendzeit, als pubertierende Jungs sich kleideten wie die Gangsta-Rapper in den Musikvideos. Der Engländer John Lennon kleidete sich in seinen letzten Jahren gerne im japanischen Stil, während der Deutsche Tilmann Otto unter dem Künstlernamen Gentleman seit Jahrzehnten mit Reggae-Musik große Erfolge feiert. Und wir sehen schon anhand dieser vielen Beispiele, wie vielschichtig das Thema eigentlich ist: Carola Rackete widersetzte sich der italienischen Regierung und rettete trotzdem das Leben afrikanischer Flüchtlinge; John Lennon war bekanntlich mit einer japanischen Künstlerin verheiratet und setzte sich aktiv mit ihrer Kultur auseinander; Gentleman ist oft nach Jamaika gereist, hat sich mit der dortigen Kultur auseinandergesetzt und auch viele jamaikanische Kollegen gefördert. Absurd wird es allerdings, wenn beispielsweise Rap genutzt wird, um rassistische Botschaften zu transportieren - obwohl diese Musikrichtung bekanntlich ursprünglich ein Instrument der BPoC war, um gegen ihre fortwährende Unterdrückung anzukämpfen.

Die Problematik, die ich in der Debatte sehe, ist, dass ein legitimer Gedanke, der in einen Begriff zusammengefasst wurde, der einen wissenschaftlichen Anklang hat, droht, zu verbaler Munition zu verkommen. Darüber hinaus hat Janice Deul im Großen und Ganzen ja auch gar nicht so Unrecht - natürlich sollten Schwarze Übersetzer/innen und alle dazwischen bessere Chancen bekommen. Der Gedanke ist halt leider nicht zu Ende gedacht - sollen diese denn dann nur die Texte Schwarzer übersetzen dürfen? Es ist wichtig, die Dynamik kultureller Appropriation zu verstehen - wir müssen uns bewusst sein, dass die eigene Kultur etwas sehr Persönliches ist, und dass es sehr verletzend sein kann, wenn andere, die nicht Teil dieser Kultur sind, sich dieser gegenüber respektlos verhalten. Anderseits laufen wir in unserer wokeness bisweilen Gefahr, die Fehler rechtsradikaler Gruppierungen zu wiederholen: Indem wir unterschiedliche Kulturen zu homogenen Konstrukten erklären, exotisieren wir Minderheitskulturen und nehmen damit sowohl uns als auch anderen die Entscheidung, die Zugehörigkeit zu Kulturen und Identitäten anzunehmen oder auch nicht. Dass gewisse Attribute nicht genau zugeordnet werden können, zeigt schon das Beispiel der Dreadlocks, die nicht nur von Jamaikanern und Afrikanern, sondern auch von Persern, Azteken und Tataren getragen wurden. Indem wir uns zu sehr darauf versteifen, welchen Kulturen bestimmte Objekte und Traditionen vorbehalten bleiben dürfen, nähern wir uns meiner Ansicht nach gefährlich der rechtsradikalen Ideologie des Ethnopluralismus an, in deren Vorstellung verschiedene Ethnien und Kulturen zwar existieren, sich aber auf keinen Fall austauschen oder gar vermischen dürfen. Womit wir wieder beim Ausgangsthema wären: Die Entscheidung für Marieke Rijnefeld als Übersetzerin für Amanda Gorman wurde verurteilt, ohne sich die Mühe zu machen, in Erfahrung zu bringen, wer diese Entscheidung überhaupt getroffen hat und wie Amanda Gorman, um deren Werke es schließlich geht, dazu steht. Indem an Anstoß an der Hautfarbe der Übersetzerin nimmt, tut man gleichzeitig das, was man bei anderen zu Recht kritisiert, nämlich, die Dichterin auf ihre Hautfarbe zu reduzieren. Gleichzeitig laufen wir auf diese Weise in eine Richtung, die meines Erachtens auch im künstlerischen Bereich problematisch werden kann: Ein Künstler wird nicht mehr nach seinem Werk beurteilt, sondern nur noch nach seiner Identität. Fazit: Es ist wichtig, den Ursprung kultureller Ausprägungen zu respektieren und wenn möglich dafür Sorge zu tragen, dass die Urheber dieser in Erscheinung treten, es ist aber ebenso wichtig, eine gewisse Ambivalenz auszuhalten und nicht bei jeder Gelegenheit den moralischen Zeigefinger zu schwingen. Und bevor ihr mich fragt: Ich trage im Sommer bisweilen afrikanische Tücher, ich nutze in der Kommunikation mit meinem Partner manchmal Worte der in der Kongo-Gegend heimischen Bantu-Sprache Lingála und ich spiele die westafrikanische Djembé. Gleichzeitig lese ich Bücher über afrikanische Kulturen, interessiere mich für die verschiedenen Musikrichtungen, besuche Lesungen, Ausstellungen, Theaterveranstaltungen und Festivals, die mich den vielfältigen Kulturen des afrikanischen Kontinents näherbringen. Weil Menschen, die aus Afrika stammen, inzwischen schon längst zu unserer Gemeinschaft gehören, weil ich mit einem Mann zusammen bin, dessen Wurzeln dort liegen und weil ich der Ansicht bin, dass man persönlich nur wachsen kann, wenn man die gewohnten Pfade auch mal verlässt. Lasst mich daher mit den Worten der jungen Amanda Gorman schließen: "The new dawn blooms as we free it/for there was always light/if only we're brave enough to see it/if only we're brave enough to be it."

vousvoyez

https://www.youtube.com/watch?v=ANfCZB3XYKA

https://rosa-mag.de/cultural-appropriation/

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/amanda-gormans-the-hill-we-climb-zwei-uebersetzungen-17162456.html

Montag, 1. März 2021

Sie kommen jetzt neun Monate ins Gefängnis. - Nein!

https://unsplash.com/@henniestander
Das ist eine Weisheit, die ich an jedem Tag aufgeschnappt habe, an dem ich erfuhr, wer die Familie Ritter ist - da ich ja Reality TV normalerweise meistens aus dem Weg gehe. Aber vor einem Jahr sah ich auf YouTube ein recht spannendes Video des Kanals Simplicissimus, in dem über dieses Phänomen, das damals bereits seit 25 Jahren existierte, berichtet wurde - und ob die Art und Weise, wie das  Elend einer ostdeutschen Familie am Rande der Gesellschaft ausgenutzt wird, um Quoten zu generieren, überhaupt noch etwas mit gutem Journalismus zu tun hat. Der oben angeführte Satz stammt aus dem Interview einer Stern-Reporterin mit einem der Ritter-Söhne, der in Kürze eine neunmonatige Haftstrafe antreten würde müssen.

Geschichten, die "aus dem Leben gegriffen" sind, faszinieren uns ja bekanntlich schon immer. Mich auch - aber dafür braucht man nicht zwangsläufig Reality-TV. Vor allem, wenn man dazu, so wie ich, nicht wirklich die Nerven hat. Und man wahre Geschichten durchaus auch auf kunstfertigere Art und Weise erzählen kann. Und so habe ich einmal mehr die Kurve zum heutigen Thema gekriegt - ich möchte nämlich über eine Serie sprechen, die seit letzter Woche auf Amazon Prime Video zu sehen ist. Und die eine Reihe sehr gemischter Kritiken zur Folge hatte. Da ich, ehrlich gesagt, ein bisschen befangen bin, war ich mir nicht sicher, ob ich sie überhaupt thematisieren soll - aber nachdem ich bei einigen der Kritiker eine andere Art von Voreingenommenheit bemerkt habe, habe ich doch das Bedürfnis, ein wenig meine Ansichten darzulegen. In der Hoffnung, dass der eine oder andere seine Haltung vielleicht noch einmal ein wenig überdenkt.

Die Rede ist natürlich von der biographischen Geschichte Wir Kinder vom Bahnhof Zoo, die als achtteilige Streaming-Serie neu aufgelegt wurde und seit 19. Februar diesen Jahres auf Amazon Prime verfügbar ist. Ich schätze mal, so gut wie jeder Jugendliche von den späten 1970ern abwärts kam irgendwann einmal in seinem Leben damit in Berührung - zumindest im deutschsprachigen Raum - und kennt die Geschichte der Christiane Felscherinow, die in den Siebzigern in einer Sozialwohnung der Hochhaussiedlung Gropiusstadt im Berliner Stadtteil Neukölln aufwächst, mit dreizehn Jahren dem Heroin verfällt, mit vierzehn ihre Sucht auf dem Kinderstrich am Bahnhof Zoologischer Garten finanziert, bis ihre Mutter sie zu Verwandten aufs Land schickt und sie versucht, ihr Leben auf die Reihe zu bekommen, bis sie in einem Prozess gegen einen ihrer ehemaligen Freier aussagen muss und dabei die beiden Stern-Journalisten Kai Hermann und Horst Rieck kennenlernt, die sie interviewen und die Tonbandprotokolle zu einem Buch verarbeiten, das in der Folge ein Bestseller wird. Als es mir in die Hände fiel, war ich selbst noch ein Teenager, und obgleich meine Lebenswelt eine ganz andere war, war ich sofort gefesselt von den Schilderungen der kaum Sechzehnjährigen, deren Intelligenz und Fähigkeit zur Selbstreflexion weit über ihr junges Alter hinausging. Einen so offenen Einblick in die Drogenproblematik hatte es zuvor nicht gegeben - ich denke, er ist in dieser Form auch tatsächlich einzigartig, zumindest wenn ich ihn mit anderen Tatsachenberichten aus der Perspektive von der Suchtproblematik Betroffener vergleiche (wobei ich zugeben muss, dass ich an der Authentizität so mancher ein wenig zweifle). Allerdings hat er Frau Felscherinow für den Rest ihres Lebens als "Deutschlands berühmteste Drogensüchtige" stigmatisiert - was in ihrem Leben nicht immer von Vorteil war, wie man ihrem Nachfolgebuch Christiane F. - Mein zweites Leben entnehmen kann. Ich persönlich konnte mich von dem Buch Wir Kinder vom Bahnhof Zoo lange nicht losreißen und habe es immer wieder mal gelesen - nicht zuletzt im Zuge der Recherchen für diesen Artikel. Obwohl ich inzwischen erfahren habe, dass ein paar Passagen vor der Veröffentlichung wohl gestrichen wurden, ist es doch immer noch sehr schockierend, mitzubekommen, wie sich diese junge Menschen immer mehr in den Sumpf aus Sucht und Prostitution verstricken, und es fällt nicht schwer, mit diesem Mädchen mitzufühlen, das, der beinahe schon menschenfeindlichen Betonlandschaft der Berliner Trabantenstadt entfliehend, in den Drogencliquen der Diskothek Sound und des mittlerweile zu zweifelhaftem Ruhm gelangten Bahnhof Zoo die Sicherheit und Geborgenheit sucht, die sie in ihrem von Gewalt und Vernachlässigung geprägten Elternhaus vermisst - und erkennen muss, das die Sucht jede zwischenmenschliche Beziehung zerstört. Natürlich bin ich noch zu jung, um die Wirkung des Buches von Anfang an mitverfolgt zu haben - immerhin wurde es sechs Jahre vor meiner Geburt veröffentlicht. Aber wie die Zeit erklärt, hatte es damals eine ähnliche Durchschlagskraft wie einst Goethes Die Leiden des jungen Werther, und das kann ich mir durchaus auch vorstellen.

1981 kam dann die erste Verfilmung in die Kinos - Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo, ein frühes Werk des Erfolgsduos Bernd Eichinger und Ulrich Edel, die auch die Projekte Letzte Ausfahrt Brooklin und Der Baader-Meinhof-Komplex realisiert hatten, mit der jungen und damals schauspielerisch noch unerfahrenen Natja Brunckhorst in der Hauptrolle. Der Film setzte vor allem in seiner Bildsprache auf schonungslosen Realismus, der abschreckend wirken sollte - dies wurde mit Originalschauplätzen, teilweise Laiendarstellern, trashiger Inszenierung der Bilder sowie der ungeschönten Darstellung von Drogenkonsum (speziell dem Fixen), Entzugserscheinungen und Erlebnissen mit den Freiern erreicht. Zusätzlich war es sicher auch die Mitwirkung von David Bowie, der damals schon ein Megastar war und dessen Konzert in Berlin die echte Christiane Felscherinow besucht hatte, der die Leute zusätzlich noch in die Kinos lockte. Alles in allem ist der Film ein sehr gelungenes Produkt, allerdings auch nicht ohne Schwächen - wie ich schon an anderer Stelle erklärt habe, ist es immer eine besondere Herausforderung, ein Buch filmisch zu adaptieren. Und aus einem so umfangreichen Werk wie Wir Kinder vom Bahnhof Zoo, das mit einer so intensiven Geschichte aufwartet, einen zweistündigen Spielfilm herauszuarbeiten, bedeutet natürlich auch, Abstriche zu machen. Und das ist meiner Ansicht nach auch ein bisschen das Problem bei dem Film - er zeigt zwar in minutiöser Detailarbeit, wie so ein Absturz in die Sucht aussieht, geht aber ein bisschen zu wenig darauf ein, wie es überhaupt soweit kommt. Und so ist er eher eine durchaus relevante Milieustudie denn ein wirksames Mittel zur Prävention. Denn abschreckend wirkt er wohl hauptsächlich für diejenigen, die harten Drogen gegenüber auch so schon eine eher ablehnende Haltung entgegenbringen, aber darauf gehe ich im Laufe dieses Artikels noch ein wenig näher ein.

Ich muss zugeben - als ich vor etwa drei Jahren erfuhr, dass eine neue Adaption des Stoffes geplant ist, war ich auch skeptisch. Bis ich herausfand, dass es kein neuer Spielfilm, sondern eine Serie sein würde - und mir eine Person, die daran mitgearbeitet hat, versicherte, dass sie ganz anders werden würde als der Film. Das hat mich dann doch überzeugt, mich darauf einzulassen - und ich muss sagen, ich habe es nicht bereut. Natürlich musste auch ich mich anfangs an die polierte Ästhetik erst gewöhnen, die sich so völlig von der groben, in manchen Szenen geradezu ekelhaften Darstellung des Films unterscheidet. Ebenso verstehe ich, dass manche vom Alter der Darsteller nicht ganz so überzeugt sind - im Film waren es Jugendliche, deren Unbeholfenheit natürlich auch ein Stück weit zur Authentizität beitrug. In der Serie setzte man auf schauspielerisch erfahrene Darsteller, die alle ungeheuer begabt sind, aber halt schon junge Erwachsene - während Natja Brunckhorst, als sie als Christiane das erste Mal das Sound betritt, wie eine Vierzehnjährige aussieht, die versucht, mit viel Make-up älter zu wirken, als sie ist, sieht man, dass Jana McKinnon, die in der Serie die Christiane verkörpert, wohl schon in jede Disco reinkommen würde. Allerdings finde ich, dass die schauspielerische Leistung vor allem der drei jungen Frauen einiges dieser häufig beklagten Mängel durchaus wieder wettmacht - Jana McKinnon als Christiane, die zwischen der überforderten Mutter und dem verantwortungslosen Vater aufgerieben wird, nirgendwo ein offenes Ohr findet und am Ende zu hören bekommt, dass ihre Geburt ein Fehler war; Lena Urzendowsky als Stella, die Tochter einer alkoholkranken Mutter, die schon viel zu früh viel zu viel Verantwortung schultern muss und deren Missbrauchserfahrungen wohl auch dafür verantwortlich sind, dass sie am Ende darauf setzt, aus ihrem Körper Kapital zu schlagen; und nicht zuletzt Lea Drinda als Babsi, das künstlerisch begabte Mädchen aus gutem Hause, das sich nach seinem Vater sehnt, der offenbar Suizid begangen hat, und das den hohen Anforderungen ihrer Großeltern gerecht werden muss - und dessen Serien-Tod, wie ich finde, einer der emotionalsten Momente war. Wobei Stella hier eine Fusion zweier Charaktere aus Buch und Film ist - nämlich Kessi, die Christiane ins Milieu einführt, dann aber von ihrer Mutter noch rechtzeitig gerettet wird, und Stella die Christiane zusammen mit Babsi im Sound begegnet und in der Zeit, als Christiane von ihrem Vater eingesperrt und überwacht wird, ihre Komplizin ist. Insgesamt finde ich, dass es besonders die sechs jungen Schauspieler sind, die aus der Serie ein überaus sehenswertes Produkt machen. Allerdings sollte man dabei einen Fehler unterlassen - nämlich, den Film als Maßstab zu nehmen. Und das tun nach meinem Dafürhalten viel zu viele. Deswegen möchte ich euch hiermit auf eine etwas andere Sichtweise einladen.

Zunächst einmal bietet die Idee einer Serie natürlich einen vergleichsweise größeren Spielraum - schon im Vorfeld erklärte Drehbuchautorin Annette Hess, dass sie sich nicht nur auf die Biographie der Hauptfigur Christiane F. beschränken will. Was natürlich bedeutet, dass man auf diese Weise zeigen kann, wie vielschichtig so eine Suchtkrankheit eigentlich sein kann. Dies ist, wie ich finde, eine sehr zeitgemäße und fortschrittliche Herangehensweise. Und gleichzeitig etwas, das die Serie dem Film auch voraus hat - denn hier wird immer wieder bewusst gemacht, dass keine Suchtkrankheit wie die andere ist, weil ja auch jeder Mensch ein Individuum ist. Gleichzeitig erklärte die Autorin, dass sie bewusst Anachronismen einführte, um die Aktualität der Problematik hervorzuheben und so eine Brücke zur heutigen Zeit zu schlagen. Dies wird vor allem bei der Optik der Diskothek Sound sichtbar, die mit ihrem coolen Look und dem zeitgenössischen Techno-Sound eher an einen Club von heute erinnert und nicht an das versiffte Kellerlokal, das es wirklich war - während die modische Ausstattung der Schauspieler unübersehbar an die späten Siebziger angelehnt ist. Auch die Sprache ist eine für Ältere etwas seltsam anmutende Mischkulanz aus dem damaligen und dem heutigen Slang, während die technischen Geräte, vor allem die Kassetten, unübersehbar ein Relikt von damals sind. Die einzigen sichtbaren Anlehnungen an den Film sind hier der Bezug auf David Bowie - auch wenn er, da er zur Drehzeit bereits nicht mehr lebte, natürlich nicht persönlich auftreten konnte - sowie die dramatische Zuspitzung der Handlung durch den Tod der erst vierzehnjährigen Babsi, der der Auslöser für Christianes Suizidversuch ist. Im Buch dauert es ja wesentlich länger, bis sie versucht, sich den Goldenen Schuss zu setzen.

Eine der häufigsten Kritiken, die mir jedoch unterkam, ist die, dass die Serie Drogen verharmlose oder gar verherrliche. Und das finde ich, ehrlich gesagt, eine recht oberflächliche Betrachtungsweise. Klar - die Autorin hat selbst zugegeben, dass die Szenerie ganz bewusst ästhetisiert wurde. Aber der Eindruck der Verharmlosung relativiert sich, wie ich finde, mit jeder Folge mehr. Klar wirkt das "Happy End" ein wenig unmotiviert - aber im Großen und Ganzen wird doch recht deutlich, dass es in dem Reigen von Sucht und Prostitution keine Gewinner gibt. Und gerade die emotionale Nähe, die der Zuschauer im Laufe der Zeit zu den Figuren gewinnt, macht den endgültigen Absturz sowie den Tod von Axel (Jeremias Meyer), der als Einziger eine Perspektive außerhalb des Drogensumpfes zu haben scheint, und Babsi, deren romantische Phantasie sich am Ende mit ihrem Martyrium vermischt, doch sehr dramatisch. Man sollte sich bewusst machen, dass die Perspektive der Serie eine ganz andere ist als die des Films - Letzterer generiert eher eine Außenperspektive, Mitgefühl entsteht dadurch, dass man den körperlichen Verfall der Hauptfigur Stück für Stück miterlebt. Die Serie wiederum trifft eher den subjektiven Blick der Betroffenen auf die Thematik - und dies kommt der Art und Weise, wie die echte Christiane im Buch ihre Drogenerfahrungen beschreibt, doch recht nahe. Für sie waren Fixer anfangs Stars, zu denen sie aufsah und denen sie nachzueifern versuchte, bis sie selbst Fixerin war und sich ebenfalls als Star fühlte. Gleichzeitig distanzierte sie sich damit von der Außenwelt, die sie als gefühlskalt und spießig wahrnahm - eine sehr selektive Betrachtungsweise, die aber wohl dem Gefühl verschuldet ist, von Erwachsenen nicht verstanden zu werden. Entsprechend scheinen Süchtige für sehr junge Menschen mit Drogenaffinität auf eine verquere Art und Weise wohl tatsächlich mit so etwas wie "Glamour" umgeben zu sein. Im übrigen sieht man nicht allen Junkies ihre Sucht auch an - Christiane war nachmittags auf der Scene, vormittags jedoch ging sie nach wie vor in die Schule, und es dauerte ganz offensichtlich etwas länger, bis man draufkam, dass sie süchtig war. Abgesehen davon, dass die reale Christiane Felscherinow ein sehr hübsches Mädchen war - die Darstellung ist also nicht so unrealistisch, wie sie scheint. Ich muss zugeben, dass ich die surrealen Bilder - etwa die schwebenden Tänzer im Sound in der ersten Folge - anfangs auch irritierend fand. Aber je mehr ich in die Serie einstieg, desto mehr ergaben auch sie für mich letztendlich einen Sinn. Auch die Pferdegeschichte wirkt auf den ersten Blick etwas unmotiviert - allerdings entspricht auch dies bei genauerem Hinsehen dem Buch, denn auch dort gibt es Passagen, in denen die Diskrepanz des kindlich-unschuldigen Landlebens in direktem Kontrast zu der lauten, aggressiven Atmosphäre Berlins steht. Entsprechend ist es wohl auch die Intention der Serie, zu zeigen, dass Christiane hinter der Fassade der Stricherin und Fixerin immer noch ein ganz normales Mädchen mit Hoffnungen und Träumen ist. Ganz abgesehen davon: Selbst Quentin Tarantino, der Filme wie Kill Bill gedreht hat, hat im Laufe seines Schaffens verstanden, dass manche Dinge gerade dann ihre Wirkung am besten entfalten, wenn man sie nicht zeigt, sondern nur erahnen lässt.

Selbstverständlich wissen wir, dass es immer ein gewisses Risiko birgt, sich für eine Geschichte zu entscheiden, die in der Vergangenheit bereits adaptiert wurde - und sehr viel Resonanz erhielt. Denn bis zu einem gewissen Grad wird das Endprodukt immer mit schon früher existierenden Fassungen verglichen werden. Trotzdem sollte man das, wie ich finde, nicht auf Krampf machen - ich habe etwa mitbekommen, dass gerade viele der schärfsten Kritiker nur die erste Folge, häufig nicht einmal zur Gänze, gesehen und dann abgeschaltet haben, als sie merkten, dass sie nicht so ist wie der Film, und sie deshalb gleich blöd fanden. Auf diese Weise hat man natürlich nur ein unvollständiges Bild - und das dann wiederzugeben, finde ich, ehrlich gesagt, recht schwierig. Ganz abgesehen davon frage ich mich, warum die Serie überhaupt so sein sollte wie der Film - wenn ich den Film haben will, dann schaue ich mir doch den an und nicht eine Neuadaption, die sowieso nie völlig gleich sein kann! Und nicht zuletzt richtet sich die Serie auch an eine neue Generation, die man wahrscheinlich eher weniger mit Namen wie Ulrich Edel oder David Bowie locken kann - der Drang zur permanenten Selbstoptimierung ist es doch, der durch diese ganze Instagram-Ästhetik zum Ausdruck gebracht wird. Jungen Menschen, die mit solchen Idealen aufwachsen, wird man durch einen bewusst grottigen Film wohl eher nicht locken können. Entsprechend habe ich manchmal das Gefühl, dass viele die Serie hassen, weil sie sie unbedingt hassen wollen - und weil sie sich für diese Haltung bereits entschieden haben, ohne sich überhaupt eine Folge angesehen zu haben.

Um noch einmal auf die angebliche Drogenverherrlichung zurückzukommen, möchte ich allerdings noch eines klarmachen: Natürlich wollten sowohl das Buch als auch der Film eine abschreckende Wirkung erzielen. Aufgrund dessen, dass ich schon einige Menschen mit Drogenerfahrungen kennen gelernt habe, möchte ich allerdings eines klarstellen: Egal wie drastisch solche Filme dargestellt werden, sie schrecken Leute, die so oder so einen Hang zu Drogen haben, keineswegs ab. Im Gegenteil - wenn es blöd kommt, wecken sie sogar deren Neugierde. Entsprechend wirken Buch und Film, wie schon gesagt, wohl eher auf jene abschreckend, die ohnehin nicht die Absicht haben, jemals mit Drogen anzufangen. Ich finde, dass dies in dem Film doch ziemlich realistisch dargestellt wird: Hier geht es um sechs junge Menschen, die von den Erwachsenen nicht verstanden und nicht ernst genommen werden - und durch den Suizid in Babsis und Christianes Familie sowie durch die Suchtkrankheit von Stellas Mutter zeigt sich, dass diese Problematik oft mehrere Generationen umfasst. Im Drogenkonsum und dem damit verbundenen Gefühl der Anerkennung finden sie das, was sie zu Hause so schmerzlich vermissen: Sorglosigkeit, Unbeschwertheit und Geborgenheit. Angesichts dessen nimmt man die Strapazen, die mit der Sucht verbunden sind, billigend in Kauf - denn es ist dieser Moment, der zählt, dieser Augenblick, der süchtig macht. Und wie wir in der aktuellen Situation auch sehr gut sehen können, ist der Mensch dafür prädestiniert, Unangenehmes aus seiner Wahrnehmung zu filtern. Etwas aber sollte man nicht vergessen: Bücher, Filme und Serien sind ein wichtiges Mittel zur Bildung und Erziehung junger Menschen - sie sollten aber niemals die ausschließliche Bildungs- bzw. Erziehungsarbeit übernehmen. Wie ich in einem anderen Artikel schon erklärt habe, sind es größtenteils das Elternhaus und das soziale Umfeld, welches einen Menschen prägen - und vor allem die Serie macht deutlich, dass man Kinder und Jugendliche ernst nehmen, sie in Gespräche mit einbeziehen und ihnen zuhören sollte. Was den Film betrifft, so finde ich, dass er, bei aller Liebe, schon ein bisschen zu sehr den Anstrich des moralischen Zeigefingers hat - auf diese Art und Weise hat man meine Generation aufgeklärt: Indem man möglichst drastische Bilder einer Suchtkrankheit zeichnete, die unausweichlich sei, sobald man auch nur einmal einen Zug von einem Joint genommen habe - und was soll ich sagen, die Suchtproblematik ist nach wie vor vorhanden, auch wenn man heutzutage nicht so gern darüber spricht, weil es nicht zu unserem Anspruch der permanenten Selbstoptimierung passt. Wenn die Serie eines schafft, dann ist es, dieses Thema wieder ins Gespräch zu bringen.

Abschließend möchte ich euch daran erinnern, dass Voreingenommenheit nicht immer die beste Idee ist - und dass es, wie ich finde, keine so gute Idee ist, über etwas zu urteilen, von dem man nicht wirklich einen Gesamtüberblick hat. Für mich ist es, wie gesagt, vor allem die darstellerische Leistung, die diese Serie sehenswert macht - die sechs jungen Leute haben sich buchstäblich die Seele aus dem Leib gespielt. Und ich möchte daran erinnern, dass deutsche Serien - seien wir doch ehrlich - in der Gegenwart keinen sehr guten Ruf haben, und das leider auch nicht immer zu Unrecht. Jetzt haben wir einmal die Chance, eine gut gemachte deutsche Serie zu sehen, also sollten wir aufhören zu schmollen, dass sie nicht nach unseren Vorstellungen gestaltet wurde. Ähnlich verhält es sich auch mit Plattformen wie Amazon Prime: Hier wird kein neues Potenzial genutzt, sondern hauptsächlich Filmgeschichte ausgeschlachtet - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo beweist, dass selbst auf diese Weise ein gutes Produkt entstehen kann. Wir können den Film als Zeitdokument sehen und gleichzeitig auch als Milieustudie - und ich finde ihn nach wie vor sehr gut gemacht. Die Serie hingegen sollte als ein Versuch gesehen werden, Brücken zu einer neuen Generation zu schlagen - und als künstlerische Auseinandersetzung mit der Suchtproblematik sowie den Irrungen und Wirrungen des Heranwachsens.

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