Mittwoch, 1. März 2023

Die meisten Unfälle entstehen in Haushalten und die meisten Haushalte entstehen durch Unfälle

Foto von Maan Limburg auf Unsplash
Wobei es natürlich nicht ratsam ist, Menschen als "Unfall" zu bezeichnen - das sollte man spätestens nach einer alten Simpsons-Folge begriffen haben. Es ist aber generell eine Frage des Anstands - und Anstand scheint in der heutigen Zeit für viele ein Fremdwort geworden zu sein. Ich arbeite aktuell eigentlich an einem ganz anderen Artikel - aber mir brennt schon seit längerer Zeit etwas unter den Nägeln, das unbedingt einmal raus muss. Es kann sein, dass der eine oder andere wieder mal mit seinen verfaulten Blutorangen bereit steht, aber damit muss ich halt leben. Bevor ihr aber zum Wurf ausholt, lest euch diesen Artikel bitte bis zum Ende durch - und zwar mit Hirn, wie meine Biologielehrerin immer gesagt hat, als ich noch Schülerin war. Und ich möchte euch auch darum bitten, die Begriffe, mit denen ihr so gern um euch werft - white fragility, Happyland etc. - stecken zu lassen: Ich kenne sie alle, und ich kann sie inzwischen nicht mehr hören und lesen. Was schade ist, denn eigentlich liegt all dem eine sehr wichtige Botschaft zugrunde - nachzulesen in Tupoka Ogettes Exit Racism: Ich habe das Buch gelesen, ich finde es gut, ich kann es auch nur wärmstens weiterempfehlen, aber es ist eine Einladung, sich in andere hineinzufühlen und keine Aufforderung zur Selbstgeißelung.
Wir leben momentan in interessanten, ich würde sagen ungünstigen Zeiten: Seit einem Jahr tobt ein Krieg, der uns wirtschaftlich und gesellschaftspolitisch schwächt; wir haben gerade eine Pandemie erlebt, die unser Leben stark beeinträchtigt hat; ständig werden uns leider gar nicht so unrealistische Horrorszenarien prophezeit, welche der menschengemachte Klimawandel verursachen könnte, wenn wir nicht endlich mal klimaschutztechnisch in die Gänge kommen; Fluchtbewegungen aus unterprivilegierten Teilen der Erde reißen nicht ab, und das Zusammenleben gestaltet sich nicht immer einfach; der Rechtsruck in den westlich-demokratischen Ländern setzt auch noch die stabilsten Demokratien unter Druck; die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander, weil kapitalistische Staatssysteme lieber einen Großteil der Bevölkerung verarmen lassen, bevor sie aufhören, die Reichsten noch reicher zu machen; und als ob das nicht genug wäre, gibt es von innen und außen Leute, die mit Vergnügen und leider auch Erfolg am gesellschaftlichen Gefüge rütteln, um uns zu destabilisieren und zu entzweien und auf diese Weise Macht zu generieren. All das setzt natürlich jedem Einzelnen von uns zu, und viele von uns verfallen in eine Art stumpfe Lethargie, weil sie das alles überfordert - ich teilweise auch, obwohl individuelle Belastungen mir aktuell mehr zu schaffen machen als allgemeine Herausforderungen. Aber auch ich kenne das Gefühl, dass doch eh alles sinnlos ist - und muss mir selbst immer wieder sagen, dass auch Rom nicht an einem Tag erbaut wurde.

Auf der anderen Seite gibt es auch Menschen, die noch den Willen haben, zu kämpfen - die an eine bessere Zukunft glauben und alles daransetzen, diese auch zu erreichen. Das sind die Menschen, die ich gerne auch unterstützen möchte. Das Problem ist - viele verrennen sich in ihrer Leidenschaft in Verhaltensmuster, die ebenso toxisch sind wie das, was sie bekämpfen sollen. Und leider trauen sich immer weniger Menschen, als Korrektiv zu wirken.

Erst mal zu mir: Ich bin 39 Jahre alt, weiblich, Cis (also nicht Trans), heterosexuell, ethnisch weiß, geboren, aufgewachsen und wohnhaft in Österreich, autochthon in dritter Generation - oder in zweiter, wenn man denn so will -, in durchaus privilegierten Verhältnissen aufgewachsen, wenn auch durch meine diversen psychischen Erkrankungen ein eher bescheidenes Leben führend. Ich habe mich, seit ich im Besitz eines politischen Bewusstseins bin, immer klar gegen rechts positioniert und glaube bis heute daran, dass die Abwertung von Menschen aufgrund bestimmter Identitätsmerkmale grundfalsch ist. Andererseits lebe ich auch gerne in einer Demokratie, selbst wenn ich mir bewusst bin, dass das nicht immer bequem ist - denn ein demokratisches Bewusstsein bedeutet, sich immer wieder aufs Neue mit seinen eigenen Werten und jenen der Gesellschaft, in der man lebt, auseinanderzusetzen. Es bedeutet, unterschiedliche Meinungen zuzulassen und Kompromisse zu schließen. Es bedeutet, auch mal zurückstecken zu müssen, dafür aber vom eigenen sozialen Gefüge zu profitieren. Es bedeutet Diversität - und Debattenkultur. Und leider ist Letzteres immer mehr ins Hintertreffen geraten.

Meine persönliche Geschichte hat, wie viele von euch wissen, auch eine ganz andere Seite - ich lebe seit nunmehr 15 Jahren in einer Beziehung mit einem Mann, der ganz andere Hintergründe hat als ich. Er ist das, was man heutzutage als BPoC bezeichnet - also Black and People of Color. Er ist in der Demokratischen Republik Kongo geboren, vom 3. bis zum 12. Lebensjahr in Angola, danach in Österreich aufgewachsen. Aus einem unbegleiteten minderjährigen Asylwerber mit kongolesischer Staatsbürgerschaft wurde im Jahr 2003 ein österreichischer Staatsbürger - mit allen Rechten und Pflichten, die dieser Status mit sich bringt. Aber unsere Gesellschaft ist bekanntlich in mancher Hinsicht ein bisschen zu langsam, um es vorsichtig auszudrücken - trotz seiner großen Loyalität einem Land gegenüber, das es ihm ermöglicht hat, ohne die tägliche Konfrontation mit Angst und Tod zu leben, wird er wohl nie im gleichen Maße als "Unsriger" angesehen werden wie ich. In unserem Privatleben ist die Hautfarbe nie Thema - die Welt da draußen ist aber deutlich anders gestrickt. Ich habe mich bereits als Teenager mit der Problematik von Rassismus auseinandergesetzt, mich immer dagegen positioniert, die Demütigungen ertragen, die damit einhergehen, mich laufend sensibilisiert und meinem Partner als Stütze gedient. Trotzdem muss ich mich heute von Menschen, die teilweise fast schon meine Kinder sein könnten, die an den Speckgürteln aufgewachsen sind und nie erlebt haben, was es heißt, von Diskriminierung betroffen zu sein, als Rassistin beschimpfen lassen, weil ich nicht bereit bin, jeden Unsinn aus der linken Bubble kritiklos abzusegnen.

Erst mal müssen wir feststellen, dass es kein Individuum und keine Gesellschaft ohne Vorurteile gibt - es geht nicht darum, über alles erhaben zu sein, sondern es geht darum, wie man den eigenen Vorurteilen begegnet. Was wir dringend ablegen müssen, ist der Glaube, dass bestimmte Menschengruppen über alle Fehler erhaben seien. Was ich aktuell beobachte, ist, dass Anti-Rassismus für viele zu so einer Art Religion geworden ist - wer mit weißer Hautfarbe geboren wurde, trägt so etwas wie eine "Erbsünde" mit sich und ist daher immer Täter. Wer nicht weiß ist, ist hingegen immer Opfer und darf auf keinen Fall auch nur irgendeiner Kritik ausgesetzt werden. Weiße, die mit dieser Sicht nicht einverstanden sind, sind immer böse Rassisten; PoC, die anders denken, haben den Rassismus der Mehrheitsgesellschaft internalisiert, weshalb ihre Sicht der Dinge nicht zählt. Mit anderen Worten: Wer unsere Meinung nicht eins zu eins nachplappert, gehört zu den Bösen. Das ist nicht nur mangelnder Respekt gegenüber jenen mit abweichenden Ansichten - es ist mangelnder Respekt gegenüber der demokratischen Gesellschaft. Und leider wird das in den Medien schon seit Jahren so vorgelebt - man schreit sich gegenseitig nieder, lässt den anderen nicht ausreden und trägt so zu einer Verhärtung von Extrempositionen bei, während gemäßigtere Stimmen zunehmend mundtot gemacht werden. Das bemerkt man vor allem in Fernseh-Talkshows und auf Internetplattformen wie Twitter, wo die Debatten in der Tat nur noch kräftezehrend sind.

Das Problem dabei ist, dass wir dadurch genau das tun, was wir eigentlich hinter uns lassen wollen: nämlich die Bewertung anderer aufgrund ihrer Identität. Und genauso, wie unsereiner sich nicht ständig für sein Weißsein entschuldigen will - ein Umstand, über den wir bekanntermaßen auch keinen Einfluss hatten -, wollen sich auch nicht alle Angehörigen marginalisierter Gruppen ständig in die Opferrolle drängen lassen. Vor allem aber werden Debatten heutzutage oft sehr stark emotionalisiert - was das Problem mit sich bringt, dass die Gefühlsebene dadurch meist höher bewertet wird als die Sachebene. Häufig wird beispielsweise nur die Perspektive Betroffener als legitim dargestellt - ohne zu berücksichtigen, dass auch Betroffene keine homogene Gruppierung sind, was mit sich bringt, dass die Gefühle einzelner betroffener Personen sehr stark divergieren können. Anstatt dies jedoch anzuerkennen, neigen wir dazu, uns selbst Sprechverbote aufzuerlegen, aus Angst, dass wir die zarten Gefühle irgendeiner Person, die einer marginalisierten Gruppe angehört, ankratzen könnten. Anstatt diese Menschen also zu stärken, schwächen wir uns selbst - und stärken gleichzeitig die Gegenposition. Das ist deshalb so problematisch, weil wir damit dieser das Feld überlassen - woraus wiederum resultiert, dass Personen mit auch nur geringfügig abweichender Meinung sofort in die Gegenposition gedrängt werden. Du bist also der Meinung, dass wir nicht alle BPoC pauschal heilig sprechen sollten? Aha, du bist also ein Rassist! Du hast es gewagt, mit weißer Hautfarbe geboren zu werden, bist aber nicht bereit, dich deswegen selbst permanent unter Generalverdacht zu stellen? White fragility! Setz dich gefälligst mal mit deinem Weißsein auseinander, Nazi! Kommt euch das nicht auch ein wenig übertrieben vor?

Das Hauptproblem ist meiner Meinung nach, dass wir mit einem solchen Verhalten jeden Versuch einer vernünftigen Debatte torpedieren. Aus diesem Grund habe ich leider oft den Eindruck, dass Leute, die auf eine solch plumpe Art und Weise argumentieren, eigentlich gar nicht ernsthaft an Lösungen interessiert sind, sondern eigentlich nur Recht haben wollen. Denn dies zementiert die alten Vorurteile mehr, als dass es sie abbaut. Kein Mensch will ständig angegangen werden, kein Mensch will immer das Gefühl haben, dass er eh nur alles falsch machen kann. Ich habe schon öfter eine Frage in den Raum gestellt, die zugegebenermaßen etwas provokant rüberkommt, die ich hier jedoch noch einmal wiederholen möchte: Soll eine Person, die weiß aussieht, die aber ein Elternteil aus Sub-Sahara-Afrika hat (ja, sowas gibt's), in Zukunft eine Art Ahnenpass mit sich führen, wenn sie Dreadlocks tragen will, um nicht der kulturellen Aneignung bezichtigt zu werden? Ist das die Art von Anti-Rassismus, wie wir sie anstreben? Bisher hat diese Frage in den sozialen Netzwerken nur zu Lachsmileys geführt - auch die Tatsache, dass ich darauf nur selten eine vernünftige Antwort bekomme, lässt mich daran zweifeln, dass gewisse Leute, die sich Anti-Rassismus auf die Fahnen geschrieben haben, wirklich an Lösungen interessiert sind.

Die Sache ist folgende: Ich stehe schon seit einigen Jahren dafür ein, dass wir uns mit Kolonialismus und dem dadurch systemisch gewachsenen Rassismus genauso kritisch auseinandersetzen müssen, wie wir es bereits mit der Shoah tun. Ich habe bereits mit mehreren Personen debattiert, welche die Verbrechen der Kolonialzeit auf genau die gleiche Art und Weise verharmlosen oder gar leugnen, wie andere es mit dem Holocaust tun. Dazu ist es aber notwendig, uns mit schriftlichen Zeugnissen und Begrifflichkeiten kritisch auseinanderzusetzen - das funktioniert aber nicht, wenn wir das alles unter den Teppich kehren und so tun, als wäre es nie passiert. Wir müssen die Dinge im kritischen Kontext beim Namen nennen, um sie einordnen zu können. Und zum Thema Retraumatisierung kann ich nur sagen: Ich musste mich als Teenager im Geschichtsunterricht ebenfalls mit Ideologien auseinandersetzen, die mir als Frau praktisch das Menschsein abgesprochen haben - da hat auch keiner danach gefragt, ob meine Seele Schaden dadurch erleiden könnte. Trotzdem war es wichtig, diese Dinge aufzuarbeiten, um zu erkennen, wie man Diskriminierung wirksam entgegentreten kann. Die Welt ist nun mal kein safe space - und darauf sollte man so gut wie möglich vorbereitet sein. Und die einzige Möglichkeit, Diskriminierung entgegenzutreten, ist, miteinander ins Gespräch zu gehen - und zwar so ehrlich und respektvoll wie möglich. Und dieser Respekt muss von beiden Seiten ausgehen - weil vernünftige Debatten nur möglich sind, wenn sich keiner in die Ecke gedrängt fühlt. Das ist der Grund, warum ich mich weigere, bei diesen Identitätsspielchen mitzuspielen - weil wir dringend wieder lernen müssen, Widersprüche auszuhalten. Das einzige, was tatsächlich gegeben sein muss, ist Respekt - unabhängig von Hautfarbe, Religionszugehörigkeit, sexueller Identität etc. pp. Und soweit ich sehe, bin ich nicht die einzige, die diese Position betritt.

vousvoyez