Donnerstag, 10. Februar 2022

Wann ist der tote Winkel eigentlich gestorben?

Photo by Etienne Girardet on Unsplash
Es ist ja höchst kurios, was Sprache so alles vermag - beispielsweise abstrakte Sachverhalte mit Metaphern erklären. So wie es eben auch bei dem berühmten toten Winkel der Fall ist. Auf jeden Fall offenbart unser Sprachgebrauch aber auch eine Menge über uns selbst - sei es Herkunft, Bildung oder soziales Umfeld. Und so können unterschiedliche Wörter auch je nach Hintergrund unterschiedlich verwendet werden. Beispielsweise nutzt man die Begriffe "Plastik" und "Skulptur" ja im allgemeinen Sprachgebrauch ganz gerne synonym für dreidimensionale künstlerische Objekte. Im Kunstgeschichte-Studium habe ich allerdings gelernt, dass Plastik eigentlich Werke bezeichnet, die durch Zugabe von Materialien entstanden sind, also etwa Ton oder Metall, während eine Skulptur ein Objekt ist, das durch das Abtragen von Material entsteht, beispielsweise Stein oder Holz. Ähnlich verhält es sich auch mit dem Wort "Prophezeiung", das ursprünglich im religiösen Kontext verwendet wurde, heutzutage jedoch synonym für Vorhersagen im Allgemeinen steht.

Nun befinden wir uns ja gerade erst im zweiten Monat des neuen Jahres, und wie immer war der Jahreswechsel von allen möglichen Zukunftsvorhersagen begleitet. Nun ist ja Divination, wie man Wahrsagung und alles, was damit zusammenhängt auch nennt, keineswegs ein neues Phänomen - zu allen Zeiten gab es Menschen, die von sich behaupteten, die Zukunft vorhersagen zu können, Hellseher und Propheten haben Eingang in alle künstlerischen Genres gefunden. Das einzige, was man allerdings bis heute nicht finden konnte, ist ein allgemeingültiger, stichhaltiger Beweis, dass es tatsächlich Menschen gab oder gibt, die die Fähigkeit haben bzw. hatten, zukünftige Ereignisse vorauszusehen. Trotzdem gibt es auch heute noch genügend Menschen, die an Wahrsager, Astrologen, Propheten & Co. glauben.

Schon im 3. vorchristlichen Jahrtausend waren unterschiedliche Methoden des Wahrsagens bekannt, etwa durch Öl oder Wasser, Missbildungen oder Traumdeutung. Im Alten Orient war vor allem die Hieroskopie bleibt, das Lesen der Zukunft aus den Eingeweiden von Opfertieren. Aus dem Alten Testament geht hervor, dass Wahrsagen bei allen Völkern des alten Palästina bereits im 2. vorchristlichen Jahrtausend verbreitet war. Auch in der griechischen Mythologie begegnen uns zahlreiche bedeutende Seherinnen und Seher, die von den Göttern auserwählt waren, deren Zeichen zu verstehen und Geschicke zu deuten. Bei Homer, Sophokles und Euripides taucht beispielsweise immer wieder der blinde Seher Teiresias auf, der auch in neueren Werken noch Bedeutung hat. Eine tragische Hellseher-Figur ist die trojanische Prinzessin Kassandra, die durch einen Fluch dazu verdammt war, dass niemand ihren Weissagungen Glauben schenkte - am bekanntesten ist ihre Warnung vor dem Trojanischen Pferd, die ja bekanntermaßen auch niemand glaubte. Ich möchte euch auch so nebenbei den gleichnamigen Roman von Christa Wolf ans Herz legen. Die mit Abstand bekannteste Weissagungsstätte des antiken Griechenland war das Orakel von Delphi, das bis in die Spätantike bestand. Es spielt in vielen Sagen, aber auch historischen Erzählungen eine bedeutende Rolle - so in Sophokles' Tragödie König Ödipus.

Neben Orakel und Traumdeutung spielte auch die Astrologie bei den alten Griechen eine bedeutende Rolle - heute mangels Evidenz als Pseudowissenschaft gehandelt, galt sie lange Zeit durchaus als ernsthafte Wissenschaft. Sie war aber keine Erfindung der alten Griechen, sondern auch in Mesopotamien und dem alten Ägypten durchaus üblich - Astralkulte lassen sich sogar schon in der Frühgeschichte nachweisen. Der einflussreichste Fürsprecher der antiken Wahrsagerei war Platon, aber es gab auch durchaus Kritiker, die Wahrsagen als Manipulation für Dumme bezeichneten. In der römischen Kaiserzeit war die Divination ein bedeutendes Machtinstrument - besonders Augustus, Tiberius und Claudius versuchten, sie in ihre alleinigen Dienste zu stellen und verboten die private Ausübung, aber selbst die drakonischsten Strafen konnten ihre Popularität nicht bremsen. Im Gegensatz dazu machten sich die Philosophen und Dichter dieser Zeit nicht viel daraus, weil sie davon ausgingen, dass man sein künftiges Schicksal ohnehin nicht ändern könne.

Das Christentum veränderte die Sicht auf die Divination maßgeblich: Die rein irdische Zukunft verlor an Bedeutung, die Zukunftsschau verschob sich hin zu Visionen über das Ende er Welt. Gleichzeitig galt alles, was über die Prophetie, also die direkte Inspiration durch Gott, hinausging, als Aberglaube und Betrug. Aber auch die strengsten Kirchenväter konnten das Interesse an Wahrsagerei nicht auslöschen, und so war die Nachfrage nach Sehern, Wahrsagern, Astrologen und Propheten auch im Mittelalter ungebrochen. Im Hochmittelalter fühlte sich die Kirche durch die hohe Zahl an selbst ernannten Propheten bedroht und behielt sich das alleinige Recht vor, "wahre" Propheten von Scharlatanen und "Handlangern des Teufels" zu unterscheiden. Das 14. und 15. Jahrhundert war von Umwälzungen und Katastrophen geprägt, so dass Vorhersagen fatalistischer und katastrophaler wurden, bis hin zum angeblich unmittelbar bevorstehenden Ende der Welt. Ab dem 15. Jahrhundert machte sich in intellektuellen Kreisen jedoch eine gewisse Skepsis gegenüber der Weissagung breit, mit Ausnahme der immer noch als wissenschaftlich angesehenen Astrologie. Innerhalb der volkstümlichen Gesellschaft wiederum gab es eine Vielzahl an Praktiken des Wahrsagens, ob nun Handlesen, Zahlensymbolik, Kartenlegen oder Würfeln. Gebildetere Leute glaubten jedoch auch an die Bedeutung von Träumen oder natürlichen "Vorzeichen" wie Kometen oder Erdbeben. Auch zu dieser Zeit wurde von Seiten der Kirche immer wieder versucht, Wahrsagerei zu verbieten - da jedoch auch Könige und Päpste sich ihrer bedienten, zeigte dies kaum Wirkung.

Natürlich kann man nicht über Weissagung sprechen, ohne den von mir schon erwähnten Arzt, Apotheker und Astrologen Michel de Nostredame zu erwähnen, den wir heute als Nostradamus kennen. Heute ist er uns vor allem durch seine vermeintlich exakt eingetroffenen Prophezeiungen in Gedichtform bekannt, die eigentlich nur aus nebulösen Sprachbildern bestehen, die im Nachhinein gerne zu exakten Vorhersagen zurechtgebogen werden. Tatsächlich sind seine Quatrains so formuliert, dass sie vielfach interpretiert werden können - und bei genauerer Beschäftigung mit dem Thema fällt auf, dass die angeblich so präzisen Vorhersagen historischer Ereignisse tendenziell eher im Nachhinein in seine Verse hineininterpretiert wurden. Dies erkennt man vor allem, wenn man ältere Werke heranzieht, welche versuchen, aus diesen Texten tatsächliche Vorhersagen für die Zukunft herauszulesen - denn das gelingt in der Regel nicht ganz so gut. Das Interessante an Nostradamus' Werk ist also nicht die vermeintliche Exaktheit seiner Voraussagen, sondern der Interpretationsspielraum, den sie liefern. Dazu bediente er sich der sogenannten Vorzeichen- und Wunderzeichenliteratur, welche Vorhersagen bzw. Omen vor allem von Kriegen und Schlachten aus Naturphänomenen wie Wolkenformationen ("Himmelsschlachten"), aber auch astronomischen Phänomenen, Insektenplagen, Blutregen, Epidemien und Ähnlichem ableiten wollten. Im 16. Jahrhundert war dieser Glaube an Wunderzeichen sehr verbreitet, zudem gewannen Prophezeiungen auch durch das Aufkommen des Buchdrucks eine größere Öffentlichkeit. Ein bedeutendes Werk zu diesem Thema ist das 2009 bei einer Auktion aufgetauchte Augsburger Wunderzeichenbuch, eine Sammlung farbiger Gouache- und Aquarell-Darstellungen dieser Wunderzeichen. Was Nostradamus betrifft, so habe ich ja schon erwähnt, dass dieser vor allem ein Marketing-Genie gewesen ist, der viel Geld mit seinen Büchern und allen möglichen Wundermittelchen verdiente und sich als "Wahrsager der Könige" bezeichnete. Allerdings scheint der große Hype um Nostradamus nach 1999 merklich abgeebbt zu sein, da viele "Vorhersagen" wie etwa der Weltuntergang im August dieses Jahres, nicht eingetroffen sind. Generell ist man durch die ständigen Fehlvoraussagen etwas vorsichtiger geworden bei der Verkündigung der Apokalypse - speziell nach dem großen Hype um den angeblichen Weltuntergang 1999 und 2012.

Zur damaligen Zeit gab es nur wenige, die an der Möglichkeit, in die Zukunft schauen zu können, zweifelten. Dass Wissenschaft und Mantik einander feindlich gesinnt waren, begann erst im 17. Jahrhundert - davor betrieben durchaus auch seriöse Wissenschaftler wie Johannes Kepler oder Galileo Galilei ein bisschen Astrologie, und auch hartnäckige Zweifler der Wahrsagung hielten sie durchaus für zutreffend. Das Interesse des Volkes an Wahrsagerei diente in der Barockzeit auch Künstlern wie Caravaggio oder Georges de la Tour als Motiv ihrer Werke - diese setzten sich vor allem kritisch mit der Eitelkeit und Leichtgläubigkeit jener auseinander, die sich bereitwillig von Wahrsagerinnen und ihren Handlangern ausnehmen ließen. Ab Mitte des Jahrhunderts zeigte die beharrliche Kampagne der Kirchen gegen Wahrsagung und Astrologie jedoch erstmals Wirkung, wie sich aus den damals so beliebten Almanachen herauslesen lässt, deren Inhalte vorsichtiger und allgemeiner wurden. Noch im 16. Jahrhundert waren Skeptiker der Astrologie an englischen Elite-Universitäten eher die Ausnahme gewesen - ein Jahrhundert später machte die 1662 gegründete Royal Society deutlich, dass Astrologie nicht mehr zu den Wissenschaften zu zählen sei.

Doch nicht nur in Großbritannien, auch auf dem Kontinent gewann die Skepsis gegenüber Wahrsagerei und Astrologie immer mehr an Boden - speziell durch französische Schriftsteller der Aufklärung wie Moliére oder Jean de la Fontaine. Im 18. Jahrhundert war Wahrsagen größtenteils eine Angelegenheit weniger gebildeter Schichten, die nach wie vor Almanache kauften und Astrologen sowie Wahrsager zu Rate zogen. Der wachsende Einfluss des "einfachen Volkes" im Zuge der Französischen Revolution, die schwindende Bedeutung der Kirche und die allgemeine Liberalisierung förderten jedoch allmählich wieder den Hang zum Spirituellen, der sich allerdings eher zum Okkulten hinwendete. Aufgeklärte Kreise belächelten dies zwar, stuften es jedoch als harmlos ein, und die in sozialen Randgruppen wie der damals so genannten "Zigeuner" betriebene Wahrsagung erlangte den Status eines anerkannten Berufs, den durchaus auch vornehme Kreise zu schätzen wussten - wenn auch nur heimlich. Wahrsagen wurde damals hauptsächlich von alleinstehenden Frauen betrieben, für die dies eine er wenigen Möglichkeiten war, zu Ansehen und Wohlstand zu gelangen.

Im 18. und 19. Jahrhundert waren in manchen Regionen vor allem die Volksseher und Waldpropheten sehr gefragt, etwa der Mühlhiasl in Bayern, dessen Identität heute umstritten ist, da keine zuverlässigen Quellen über dessen Leben existieren. Man geht von einem Sonderling aus, der durch die Gegend zog und Hirten, Knechten und Bauern von irgendwelchen kryptischen "Vorzeichen" erzählte. Dennoch sind seine Anhänger bis heute davon überzeugt, dass er beide Weltkriege vorhergesehen hat, ebenso wie gewisse Modeerscheinungen - auch wenn die Echtheit diesbezüglicher Prophezeiungen nicht belegt ist. Ein weiterer populärer "Seher" aus Bayern war er Brunnenbauer Alois Irlmaier, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Hellseher und Rutengänger bekannt wurde. 1928 soll er seine ersten "Visionen" gehabt haben, ab 1939 kamen immer wieder Leute zu ihm auf den Hof, die seine hellseherischen Fähigkeiten in Anspruch nahmen, welche er unentgeltlich zur Verfügung stellte. Trotzdem landete er 1947 wegen Betrugs und Gaukelei vor Gericht - Letzteres war in Bayern bis 1957 strafbar -, wurde allerdings freigesprochen. Eine bekannte Volksseherin, allerdings aus Bulgarien, deren "Prophezeiungen" bis heute immer wieder im Netz auftauchen, ist die Baba Wanga, die vor allem in Osteuropa eine hohe Popularität genoss - und die angeblich das Coronavirus vorausgesagt haben soll, eine Behauptung, die allerdings nicht nachprüfbar ist. All diese Volksseher haben neben ihrer metaphorischen Ausdrucksweise vor allem eines gemeinsam, nämlich die Angst vor Veränderung und Fortschritt - Warnungen vor Krisen, Kriegen, Teuerungen, fremden Menschen und dem Sittenverfall findet man zu allen Zeiten. Sie sind besonders in traditionsbewussten Gesellschaften sehr beliebt, in denen man kulturellem Wandel und technischem Fortschritt eher ablehnend gegenübersteht und lieber am Althergebrachten festhält. Deutlich wir das auch in den Physikatsberichten aus der Regierungszeit des bayerischen Königs Maximilian II., in denen Ärzte die Lebensgewohnheiten der damaligen Landbevölkerung festhielten und wo mehr oder weniger dieselben Ängste und Sorgen auch verzeichnet sind. Abgesehen davon wurden viele Weissagungen dieser Seher auch erst im Nachhinein dazuerfunden.

Im 20. Jahrhundert erlebte die Astrologie einen neuerlichen Boom, so kam zu Anfang des Jahrhunderts in den USA das Zeitungshoroskop auf, das sich zwischen den Weltkriegen auch in Europa etablierte. In den 1930er Jahren wurden außerdem erste Experimente zur parapsychologischen Präkognition gemacht, welche die Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen, wissenschaftlich untersuchen sollten. Damals waren auch Wahrsageautomaten sehr populär, die suggerieren, gegen Geldeinwurf die Zukunft vorhersagen zu können - auch heute sind sie durchaus noch zu finden, werden aber ähnlich wie die Zeitungshoroskope eher zur Unterhaltung genutzt. Dass Letztere immer noch in Zeitungen und Zeitschriften zu finden sind, zeigt, wie tief Astrologie bis heute in unserer Kultur verankert ist. Und das, obwohl es bis heute keinen einzigen Beweis dafür gibt, dass an Horoskopen & Co. auch nur irgendetwas dran ist - noch mehr: Es gibt innerhalb der Astrologie extrem viele verschiedene Strömungen, die sich teilweise komplett widersprechen, und nicht einmal ihre Basis, die Sternbilder, hat klare Regeln. Zudem verändert sich der Himmel ja auch laufen, sprich, eine Allgemeingültigkeit kann man da ohnehin vergessen. Dies zeigt schon, dass das Konzept mit den zwölf Tierkreiszeichen eigentlich gar nicht mehr stimmt. Und das wir uns nicht falsch verstehen: Mich stört es nicht, wenn jemand an Astrologie glaubt - man muss sich nur im Klaren sein, dass es aus heutiger Sicht tatsächlich eine reine Glaubensfrage ist.

Wie wir außerdem wissen, hat sich Astrologie nicht nur im westlichen Raum entwickelt - auch in China kann sie bis ins 4. vorchristliche Jahrhundert nachgewiesen werden, in Indien sogar bis ins 2. Jahrtausend v. Chr. Auch in der mesoamerikanischen Kultur der Maya können astrologische Aktivitäten nachgewiesen werden: In esoterischen Kreisen erlangte jedoch vor allem ihr astronomischer Kalender besondere Aufmerksamkeit - auch wenn er Historikern eher als der am weitesten entwickelte Kalender aller mittelamerikanischen Urvölker bekannt ist. Zu Beginn des vorigen Jahrzehnts gab es nämlich Leute, die glaubten, in der Wiederkehr eines Zahlenwertes innerhalb des Kalenders einen angeblichen "Weltuntergangstag" herauslesen zu können, ihrer Ansicht nach der 21. oder 23. Dezember 2012. Obwohl Experten bereits damals wussten, dass diese Behauptung an den Haaren herbeigezogen ist, gab es damals vor allem im Internet und auch älteren Medien einen Riesen-Hype um dieses Thema - so sehr, dass Roland Emmerich sogar einen sehr schlechten Film darüber drehte, und auch das Videospiel-Unternehmen Ubisoft verarbeitete das Thema in Assassin's Creed III. Sehr populär war in den 2010er Jahren auch die These, dass die Erde in Bälde mt einem geheimnisvollen Planeten zusammenkrachen würde, der unter dem Namen "Planet X" oder auch "Nibiru" bekannt war - im Jahr 2017 hat mich einer dieser Weltuntergangsprophezeiungen sogar zu einem hier nachzulesenden Artikel inspiriert. Natürlich half es nichts, dass Experten immer wieder versicherten, dass es diesen geheimnisvollen Planeten gar nicht gibt und dass es nicht möglich ist, dass ein Planet mit der Erde kollidiert, ohne dass es vorher irgendwie auffällt.

Wie schon gesagt, gibt es sie bis heute, die Hellseher und Astrologen - manche haben sich sogar einen ziemlich großen Namen gemacht, beispielsweise Lilo von Kiesenwetter, die viele prominente Kunden hat und vor allem in der Regenbogenpresse sehr beliebt ist. Diese hat beispielsweise den Tod von Michael Jackson vorhergesagt - allerdings schon Jahre, bevor er tatsächlich gestorben ist. Auch, dass Papst Benedikt XVI. im Jahre 2010 ein Buch schreiben würde, nachdem er schon Jahre zuvor immer wieder Bücher geschrieben hatte, ist jetzt nicht so überraschend, und selbst die Impfung gegen Covid-19 konnte die gute Frau erst vorhersagen, nachdem es darüber schon Zeitungsartikel gegeben hatte. Eine Astrologin, die in den 1980er Jahren durch eine Fernsehsendung berühmte geworden war, ist Elizabeth Teissier, die sich zuvor als Model und Schauspielerin einen Namen gemacht hatte. Wie schon erwähnt, scheinen gewisse Formen des Wahrsagens der Mode unterworfen zu sein - heute sind es vor allem die schon vielfach erwähnten Verschwörungsmythen, mit denen Leichtgläubige beeindruckt werden, Astrologie und Nostradamus scheinen nicht mehr "in" zu sein, selbst wenn es natürlich noch genügend Leute gibt, die daran glauben. Aber auch heute sind die meisten "Vorhersagen" nur retrospektiv interpretierbar - die Klientel hat sich halt geändert, und heute diskutiert man eher darüber, ob die Autoren der Simpsons hellseherische Fähigkeiten haben.

Seit einiger Zeit häufen sich auch Kommentare von Verschwörungsgläubigen, die auftrumpfen, dass "alle Verschwörungstheorien" von 2020 inzwischen wahr geworden seien - oder zumindest "die meisten". Woran sie das festmachen? Nun, hauptsächlich daran, dass jetzt über eine Impfpflicht diskutiert wird, obwohl man noch vor etwa einem halben Jahr versichert hat, dass es diese nie geben wird. Nun - ich verlinke euch hier mal eine Website, in denen alle Prophezeiungen der "Querdenker" aufgelistet sind. Insgesamt sind es mittlerweile sicher über 300 - wahr geworden sind bisher: Zwei! Wow, das ist ja irre, gleich zwei, oder? Nun - bei einer solchen Fülle an Spekulationen finde ich das eigentlich recht mager. Zudem zeigt es, wie selektiv Leute eigentlich die Verhältnisse bewerten: Wenn man an etwas glauben will, werden die zwei Treffer wesentlich höher bewertet als die anderen etwa 300 Fehlschüsse. Dennoch erkennt man inzwischen sogar schon in Schwurbelkreisen, dass man allmählich an Glaubwürdigkeit verliert: So trifft QAnon mittlerweile kaum noch konkrete "Vorhersagen", nachdem all das, was dieser ominöse "Q" prophezeit hat, bisher nicht eingetreten ist, und dass Wahrsager bzw. Hellseher mittlerweile sehr vage bleiben, fällt auch schon über einen längeren Zeitraum auf.

Generell greift bei Vorhersagen und Ähnlichem etwas, das man in der Psychologie als Barnum-Effekt bezeichnet. Dieser besagt, dass Menschen dazu neigen, allgemeingültig gehaltene Aussagen über ihre eigene Person als zutreffend zu bewerten, speziell, wenn diese einem positiven Selbstbild förderlich sind. Aussagen, die dem Barnum-Effekt entgegenwirken, beschreiben Eigenschaften, die entweder in jedem Menschen irgendwie zu finden sind oder die jeder Mensch gerne hätte. Dabei werden klare Definitionen vermieden und zwischen Extremen vermittelt, außerdem werden Wünsche und Ängste kommuniziert, die jeder mehr oder weniger in sich trägt, etwa das Bedürfnis nach Sicherheit. Zu diesem Effekt gibt es bereits zahlreiche psychologische Experimente, auf YouTube finden sich etwa einige Beispiele. Und dieser Barnum-Effekt kommt vor allem bei Horoskopen und Wahrsagern vor und geht auch einher mit der Methode des Cold Reading. Diese wird vor allem von professionellen Mentalisten, Zauberkünstlern und Wahrsagern angewandt und ist im Prinzip nichts anderes, als bei seinem Gesprächspartner den Eindruck zu erwecken, man wisse über ihn Bescheid, ohne dass dies tatsächlich der Fall ist. Auch hier werden Allgemeinplätze bedient, wobei positive Floskeln die negativen meist überwiegen, und eine große Fülle an Optionen angeboten - gleichzeitig sagen ja auch Merkmale wie etwa Kleidung, Geschlecht, Alter oder Sprechweise eine Menge über eine Person aus, so dass diese in die Methode mit eingebunden werden können. So können durch die Beobachtung des Gegenübers und die schrittweise Anpassung im Verlauf des Gesprächs häufig erstaunlich zutreffende Aussagen über eine Person getroffen werden - wichtig ist da natürlich auch die positive Erwartungshaltung des Gesprächspartners. Dem Cold Reading gegenüber steht übrigens das Hot Reading, bei dem man sich bereits vor dem Gespräch Informationen betreffend seines Gegenübers beschafft, um dann zu suggerieren, man habe sich dieses Wissen auf "übernatürlichem" Weg angeeignet. Diesen Methoden kommt entgegen, dass Menschen dazu neigen, Zutreffendes höher zu bewerten als nicht Zutreffendes und sich dieses auch leichter merken.

Im Großen und Ganzen ist es jedem selbst überlassen, ob er an Horoskope glauben oder Wahrsager konsultieren will - und solange es nicht schadet, spricht auch nichts dagegen. Das Problem ist allerdings, dass man sich hier im schlimmsten Fall in eine Abhängigkeit begeben kann. Dies hat vor allem in den 1970er und 1980er Jahren auch viele Prominente betroffen, die durch das übermäßige Konsultieren von Astrologen allmählich die Fähigkeit verloren, eigene Entscheidungen zu treffen. Bei Yoko Ono soll das so weit gegangen sein, dass sie ihren Göttergatten schon mal unnötigerweise um den halben Erdball geschickt hat, weil ihre astrologischen Berater den direkten Weg an einen bestimmten Zielort für zu unsicher hielten. Im Prinzip kann man sagen, dass der Mensch sich nur wenig verändert - wie ich euch ja schon anhand der beliebten Wandersagen erklärt habe, welche häufig dieselbe Grundgeschichte erhalten, sich aber der Zeit anpassen, in der sie erzählt werden. Ebenso habe ich schon einmal darüber gesprochen, dass wir ein gewisses Grundbedürfnis nach Kontrolle haben - welches dadurch erschüttert wird, dass wir keine Kontrolle über das Morgen haben. So geben Vorhersagen ein trügerisches Gefühl von Sicherheit - und laufen am Ende auf einen Satz hinaus: "Ich hab's ja gesagt!"

vousvoyez