Sonntag, 2. Juli 2023

Leuten, die selber denken, muss man aber auch wirklich alles erklären

Foto von Jr Korpa auf Unsplash

Heutzutage relativieren Leute die Gewalt von Polizisten, wenn das Opfer die "falsche" Hautfarbe hatte - dieselben Leute sind allerdings oft erstaunlich wehleidig, sobald es um sie selbst geht. Ich erinnere mich beispielsweise an ein Video vom Herbst 2020, welches angeblich ebenfalls "Polizeigewalt" dokumentierte - das Dumme war nur, dass man vergessen hatte, den Teil wegzuschneiden, welcher zeigte, dass das vermeintliche Oper zuvor auf die Polizisten losgegangen war, und dass aufgrund dessen sogar die eigene Bubble Zweifel an der Story äußerte. Im Gegensatz dazu gibt es aber etliche Geschichten, für die es bis heute keine plausible Erklärung gibt - und deshalb möchte ich mich heute einmal drei bis heute ungeklärten Kriminalfällen widmen. Um euch im Vorfeld zu beruhigen: Ich bin keine von denen, die von einem heißen "Bad Boy" träumen, und ich finde Kommentare wie "zu hübsch für den Knast", wenn es etwa um einen Jeremy Meeks oder Cameron Herrin geht, einfach nur saudämlich. Im übrigen kann ich euch verraten, dass man auch mit einem Schönling an seiner Seite nicht zwangsläufig das große Los gezogen hat. Das war die heutige Lektion - schreibt euch das auf, denn es kommt ganz sicher bei der Prüfung dran.

Die erste Geschichte, mit der wir uns heute beschäftigen werden, ist nicht nur die eines ungeklärten Mordes - das Opfer selbst ist bis heute ein Rätsel, zu dem es zwar viele Meinungen, aber wenig richtige Fakten gibt. Alles begann am 26. Mai 1828, als ein etwa sechzehnjähriger Junge in Nürnberg auftauchte - bäuerlich gekleidet, mit unsicherem Gang, und er schien Mühe zu haben, sich zu artikulieren. Auf der Polizeiwache war er allerdings in der Lage, seinen Namen zu schreiben: Kaspar Hauser. Im Laufe der nächsten Tage machte eine ganz unglaubliche Geschichte die Runde: In Nürnberg sei ein Junge aufgegriffen worden, der den Großteil seiner Kindheit und Jugend in einem dunklen, niedrigen Verlies verbracht habe, mit nichts als Wasser und Brot zu essen und ohne menschliche Gesellschaft - gepflegt wurde er im Schlaf, welcher möglicherweise durch Opium herbeigeführt worden war, und kurz vor seiner Entlassung habe ihm eine vermummte Gestalt beigebracht, ein paar Worte zu sprechen und seinen Namen zu schreiben. Natürlich weckte die Nachricht diesen außergewöhnlichen Falls die Neugier der Öffentlichkeit - es war die Epoche der Romantik, als das Interesse für sogenannte "Wilde Kinder", welche ohne gesellschaftlichen Einfluss aufgewachsen waren, sehr groß war.

Kaspar Hauser lebte die erste Zeit bei dem pensionierten Gymnasialprofessor Georg Friedrich Daumer, der ihn in verschiedenen Fächern unterrichtete und später über seine erstaunliche Entwicklung berichtete, vor allem über seine Begabung beim Zeichnen und Malen. Darüber hinaus wollte der zur Esoterik neigende Lehrer in ihm außergewöhnliche spirituelle Fähigkeiten entdeckt haben - er betete den Jungen förmlich an und führte an ihm zahlreiche homöopathische und magnetische Experimente durch. Später beschäftigte sich Rudolf Steiner, dem wir ja bereits begegnet sind, mit dem Phänomen Kaspar Hauser und bezog sich dabei vor allem auf Daumer. Doch Kaspar blieb nicht ewig dort - im Laufe seines Lebens wechselte er mehrmals die Unterkunft, außerdem gab es drei Anschläge auf seine Gesundheit. Am 14. Dezember 1833, als er im Haus des Lehrers Johann Georg Meyer in Ansbach wohnte, erlitt er eine gefährliche Stichverletzung, der er drei Tage später erlag. Ehe er starb, erzählte er von einem bärtigen Mann, der ihm einen Beutel überreicht und anschließend zugestochen habe. Man fand den Beutel, der eine kryptische Botschaft enthielt, und beerdigte Kaspar Hauser am 20. Dezember auf dem Ansbacher Stadtfriedhof.

Das Rätsel um Kaspar Hausers Herkunft wurde nie vollständig gelöst, aber seine Geschichte fasziniert bis heute, und selbstverständlich gibt es zahlreiche Hypothesen und auch Verschwörungsmythen über seine Abstammung und seinen Tod. Die bekannteste ist die sogenannte "Erbprinztheorie", welche die Attentate zu bestätigen scheinen: Schon zu seinen Lebzeiten entstand das Gerücht, Kaspar Hauser sei in Wirklichkeit der Erbprinz von Baden, Sohn des Großherzogs Karl und seiner Gemahlin Stéphanie, welcher in der Wiege mit einem sterbenden Kind vertauscht worden sei. Beschuldigt wurde Gräfin Luise Karoline von Hochberg, die Witwe des Großherzogs Karl Friedrich von Baden, die ihren eigenen Nachkommen auf diese Weise zum Thron verhelfen wollte Die Geschichte passte nur zu gut in die Zeit des Vormärz, als die allgemeine Stimmung gegen den Adel sehr negativ war, und war gut geeignet für den politischen Kampf gegen das Haus Baden sowie die Diskreditierung des verhassten politischen Systems. Doch auch das Königreich Bayern nutzte das Gerücht für seine Zwecke - seit längerer Zeit bemühte es sich nämlich, die 1803 an Baden verlorene rheinische Pfalz zurückzugewinnen. Aufgrund der heute bekannten Quellen kann die Erbprinztheorie allerdings ausgeschlossen werden - die Großmutter des echten Erbprinzen hatte den Krankheitsverlauf des namenlosen Kindes genau dokumentiert und war ständig in seiner Nähe, und zudem hatte Luise Karolines Sohn Leopold den Thron mit der Zustimmung aller Großmächte bestiegen, so dass die Hochberger für die Beseitigung des Erbprinzen gar kein Motiv gehabt hätten. Trotzdem gibt es natürlich Leute, die bis heute daran glauben - vor allem Okkultisten und Anthroposophen propagierten diese These im 20. Jahrhundert, die Beweisführung von Amateurforschern halten einer kritischen Überprüfung nicht stand, da das meiste durch eher unseriöse Methoden zustande kam. Auch eine im Jahre 1996 vorgenommene DNA-Analyse zeigte keinerlei genetische Übereinstimmung mit dem Hause Baden. Doch so falsch die Erbprinzentheorie auch sein mag, war sie zu der Zeit, als sie aufkam, doch naheliegend, immerhin war dies nicht die einzige Geschichte eines vermeintlich verhinderten Erben - denken wir nur etwa an den Mann mit der eisernen Maske.

Doch  nicht nur die Erbprinzentheorie, auch der Mord an Kasper Hauser, ja sogar die Geschichte seiner vermeintlichen Gefangenschaft wird heutzutage immer häufiger angezweifelt - wobei es schon zu seinen Lebzeiten Leute gab, die ihn für unglaubwürdig hielten. Mittlerweile vermuten Experten, dass er an einer histrionischen Persönlichkeitsstörung litt - eine psychische Störung, welche sich durch extremes Streben nach Aufmerksamkeit, manipulatives und theatralisches Verhalten bemerkbar macht. Tatsächlich beschrieben ihn selbst jene, die ihm positiv zugetan waren, als eitel, heuchlerisch und unaufrichtig - schon damals fielen einigen seiner Zeitgenossen Ungereimtheiten auf: Er hatte einen gesunden Teint, wies weder Anzeichen einer Mangelernährung noch organischer Schäden durch jahrelange beengte Verhältnisse oder gar ständiger Verabreichung von Opium auf. Im Großen und Ganzen widersprach sein körperlicher und geistiger Zustand seiner Geschichte gänzlich, ganz abgesehen davon, dass er ein solcherart beschriebenes Martyrium gar nicht hätte überleben können. Umso erstaunlicher ist, dass es selbst heute noch Menschen gibt, die die Geschichte glauben. Viele nehmen allerdings an, dass er tatsächlich längere Zeit wenig Kontakt zur Außenwelt hatte - möglicherweise wurde er tatsächlich verstoßen und in der Folge im Zusammenspiel einer wohlwollenden, aber naiven Öffentlichkeit mit seinem Zustand seelischer Verwahrlosung zu einer mystischen Figur überhöht, eine Rolle, in der er sich mit er Zeit zu wohl zu fühlen schien, um sie noch ablegen zu können. Dazu passt auch die Vermutung, dass er die vermeintlichen Mordanschläge selbst inszeniert hat - und dass er sich beim dritten Mal unbeabsichtigt so schwer verletzte, dass er daran starb. Interessanterweise passierten die Anschläge nämlich immer dann, wenn die Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde, allmählich nachließ bzw. wenn er sich mit jenen, bei denen er untergekommen war, überworfen hatte.

Aber was die Wahrheit auch sein mag, das Phänomen Kaspar Hauser ist zeitlos und beschäftigt die Menschen daher in jede Epoche. Und so fand es nicht nur in der Wissenschaft und Kriminalistik, sondern auch in vielen künstlerischen Genres Eingang. Zu nennen ist hier etwa Jakob Wassermanns historischer Roman Capsar Hauser oder Die Trägheit des Herzens von 1908; Paul Verlaines Gedicht Gaspard Hauser chante von 1881; Georg Trakls Kaspar Hauser Lied von 1913; Kurt Matulls Stummfilm Kaspar Hauser von 1915; Walter Benjamins Kinderhörspiel Caspar Hauser von 1930; Roy Kellinos Film The Mystery of Caspar Hauser von 1956 mit Michael Landon in der Hauptrolle; Robert Adolf Stemmles zweiteiliger Fernsehfilm Der Fall Kaspar Hauser von 1966 mit Wilfried Gössler in der Hauptrolle; Peter Handkes Sprechstück Kaspar von 1968; Reinhard Meys Lied Kaspar von 1969; Werner Herzogs Jeder für sich und Gott gegen alle von 1974 mit Bruno S. in der Hauptrolle; Suzanne Vegas Song Wooden horse von 1987; Paul Austers Roman City of Glass von 1989; Peter Sehrs Kaspar Hauser - Verbrechen am Seelenleben eines Menschen von 1993 mit André Eisermann in der Hauptrolle; die anthroposophisch orientierten Kaspar-Hauser-Festspiele, die seit 1998 in Ansbach stattfinden; Günter Brus' und Burgis Paiers Ausstellung in Graz von 2008. Diese Liste ist natürlich wieder unvollständig und eher subjektiv.

Der nächste Fall, über den ich heute sprechen möchte, jährte sich gerade im letzten Jahr zum hundertsten Mal, aber ich kann euch leider nicht erklären, warum ich ihn davor nicht auf dem Schirm hatte. Es geht hier um einen grausamen Sechsfachmord, der bis heute nicht aufgeklärt werden konnte, der aber nach wie vor etliche Hobbydetektive beschäftigt, schon allein wegen der außergewöhnlichen Umstände. Tatort ist ein Bauernhof in Oberbayern, der in vielen Quellen als Einödhof bezeichnet wird, obwohl er keineswegs so abgelegen lag, wie das bei solchen Ansiedlungen normalerweise der Fall ist. Opfer war die gesamte auf diesem Hof lebende Familie inklusive Magd - letzte hatte gerade ihren ersten Arbeitstag hinter sich gebracht. Hinterkaifeck war 1863 errichtet und etwa ein Jahr nach den Morden abgerissen worden - heute befindet sich dort landwirtschaftliche Nutzfläche, während das Marterl, also der Bildstock, der zum Gedenken an die Opfer errichtet worden war, voriges Jahr entfernt worden war - zu groß sei der Andrang an Katastrophentouristen und die daraus resultierende Unruhe gewesen. Aber wer waren diese Leute, die durch ein so brutales Verbrechen ihr Leben lassen mussten?

Die Personen, die diesem Massaker zum Opfer fielen, waren grob zusammengefasst ein älteres Ehepaar, deren erwachsene Tochter mit ihren beiden Kindern sowie die Magd, die wohl nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war. Passiert ist die Tragödie in der Nacht vom 31. März auf den 1. April 1922, die Leichen wurden allerdings erst am 4. April gefunden. Cäzilia Gruber hatte den Hof von ihrem 1885 verstorbenen ersten Ehemann geerbt und bewirtschaftete ihn mit ihrem ehemaligen Knecht Andreas Gruber, der neun Jahre jünger war als sie und den sie nicht einmal ein Jahr später geheiratet hatte. Sie hatte sieben Kinder zur Welt gebracht, von denen jedoch nur drei das Säuglingsalter überlebten - was zur damaligen Zeit allerdings nicht ungewöhnlich war. Ihr einziges überlebendes Kind aus zweiter Ehe war Viktoria Gabriel, die ebenfalls zu den Mordopfern gehörte und bei der die meisten Fäden zusammenliefen. Zum Zeitpunkt ihres Todes war sie 35 Jahre alt und als Alleinerbin des Hofes eingesetzt. Seit ihrem 16. Lebensjahr wurde sie von ihrem Vater regelmäßig sexuell missbraucht - dies war unter den Dorfbewohnern bekannt, im Jahr 1915 handelten sich beide eine Haftstrafe wegen "Blutschande" ein. 1914 heiratete Viktoria den Landwirtssohn Karl Gabriel, der jedoch im selben Jahr noch im Zuge des Ersten Weltkriegs an der Front sein Leben verlor. Obwohl sein Kriegstod eindeutig bewiesen ist, wurde er immer wieder als Tatverdächtiger in dem Mordfall Hinterkaifeck angeführt - es besteht die These, dass er überlebt hatte und die Familie aus Rache tötete, nachdem er erfahren hatte, dass seine Frau ein uneheliches Kind zur Welt gebracht hatte. Insgesamt hatte Viktoria zwei Kinder - ihre Tochter Cäzilia, die kurz nach Karl Gabriels Tod zur Welt gekommen war, war zum Zeitpunkt ihres Todes sieben Jahre alt. Die Vaterschaft des zweiten Kindes, das Josef hieß und in der Nacht der Bluttat zweieinhalb Jahre alt war, konnte nie geklärt worden, da sowohl Andreas Gruber als auch er Nachbar Lorenz Schlittenbauer, mit dem Viktoria nach dem Tod ihres Ehemannes ein Verhältnis angefangen hatte, als leibliche Väter in Frage kamen.

Lorenz Schlittenbauer wird als einer der Hauptverdächtigen gehandelt, auch weil er sich bei Befragungen in Widersprüche verstrickte und durchaus ein Motiv hatte - stichhaltige Beweise für seine Schuld gibt es allerdings bis heute nicht, und es kann durchaus sein, dass ihm all die Jahre Unrecht getan wurde. Schlittenbauer war verwitwet mit vier Kindern und erzählte später, dass Viktoria Gabriel ihm schon vor dem Tod seiner Frau sexuelle Avancen gemacht habe; 1918 begann er ein Verhältnis mit ihr und beabsichtigte auch, sie zu heiraten, was allerdings daran scheiterte, dass er ein Ende der sexuellen Stelldichein zwischen Vater und Tochter forderte, womit Andreas Gruber nicht einverstanden war. Im September 1919 brachte Viktoria einen Jungen zur Welt, dessen Existenz immer wieder einen Konfliktpunkt zwischen Schlittenbauer und den Bewohnern Hinterkaifecks darstellte, denn dieser zog die Anerkennung für die Vaterschaft mehrmals zurück. Irgendwann scheint ihm das ewige Spiel auf die Nerven gegangen zu sein, und er heiratete 1921 eine andere Frau, die ebenfalls ein uneheliches Kind hatte, welches er als sein eigenes anerkannte. Ihr gemeinsames Kind verstarb zwei Tage vor den Morden auf Hinterkaifeck, weshalb manche, die sich mit dem Fall befassen, einen Racheakt Schlittenbauers vermuten - dessen ehelich geborenes Kind im Gegensatz zu Josef nicht am Leben geblieben war.

Schon Tage vor den Morden geschahen rund um Hinterkaifeck einige seltsame Dinge: So entdeckte Andreas Gruber Spuren im Schnee, welche auf den Hof, aber nicht von da wegführten; ein Haustürschlüssel war verschwunden; am 30. März wurde ins Maschinenhäuschen und die Futterkammer eingebrochen; nachts waren auf dem Dachboden Schritte zu hören, die man niemandem zuordnen konnte. Die Tatzeit wird zwischen 19:30 und 21:00 anberaumt, also zum Einbruch der Dunkelheit - da es auf dem Hof kein elektrisches Licht gab, war dies die ideale Zeit, um zuzuschlagen. Die ersten vier Opfer wurden im Stadel, also in der Scheune, ermordet - man nimmt an, dass zuerst Viktoria, dann ihre Mutter, ihr Vater und zuletzt ihre kleine Tochter umgebracht wurden. Alle starben durch Schläge auf den Kopf mit einer dem Hof zugehörigen Reuthaue, einem Hackwerkzeug zur Rodung kleinerer Bäume und Sträucher, das aufgrund einer unfachmännischen Reparatur unverkennbar war - die Tatwaffe wurde ein Jahr nach der Tat beim Abriss des Hofes auf dem Dachboden gefunden. Die Magd Maria Baumgartner, eine 45jährige Frau mit verkürztem Bein und einer leichten geistigen Behinderung, war im Haus durch einen gezielten Schlag auf den Kopf getötet worden, ehe der Kopf des kleinen Josef, der in seinem Stubenwagen lag, regelrecht zertrümmert wurde. Ebenso seltsam wie der Umstand, dass das kleine Kind überhaupt sterben musste, war die Brutalität, mit der es zur Strecke gebracht wurde - dies weist stark auf eine Aggressionstat hin, denn im Gegensatz zur Magd war der Junge kein eventueller Zeuge, der beseitigt hätte werden müssen. Ebenso bemerkenswert ist, dass die Leichen nach der Tat alle zugedeckt worden waren  die Toten im Stadel mit Stroh, die Magd mit einer Daunendecke und der kleine Junge mit dem Kleid seiner Mutter.

Ebenso gruselig wie die Bluttat selbst ist, dass der/die Täter in den nächsten Tagen ganz offensichtlich auf dem Hof geblieben oder zumindest wieder dorthin zurückgekehrt ist/sind. Ans diesem Grund wurden die Leichen wohl auch so spät entdeckt - denn das Vieh muss in all dieser Zeit noch regelmäßig versorgt worden sein, wie jeder weiß, der schon einmal erlebt hat, wie laut Kühe sein können, wenn sie volle Euter haben. Außerdem entdeckte die Polizei später, dass sowohl der Brotvorrat aufgebraucht als auch das Fleisch aus der Vorratskammer frisch angeschnitten worden war. Es fiel zwar durchaus auf, dass die Familie seit dem 31. März nicht mehr gesehen worden war - zwei Kaffeeverkäufer sowie der Briefträger hatten auf dem Hof niemanden angetroffen, Cäzilia Gabriel fehlte in der Schule und die Familie war nicht zum Sonntagsgottesdienst erschienen -, aber die Hinterkaifecker galten als geizig, eigenbrötlerisch und nicht besonders gastfreundlich, so dass man sich offenbar nichts dabei dachte. Erst am 4. April fiel einem Monteur, der auf den Hof kam, um wie vereinbart die Futterschneidemaschine zu reparieren, die gespenstische Leere auf - und so verständigte er nach getaner Arbeit die Schlittenbauers. Lorenz Schlittenbauer schickte zunächst seine beiden Söhne nach Hinterkaifeck; als auch diese niemanden angetroffen hatten, ging er mit zwei Freunden hin. Sie entdeckten die abgedeckten Leichen im Stadel, woraufhin Schlittenbauer ins Haus lief, nach eigener Aussage aus Sorge um den kleinen Josef, und schloss die Haustür von innen mit dem Schlüssel auf, der vor einigen Tagen abhanden gekommen war - er behauptete später, er habe im Türschloss gesteckt. Sein Verhalten auf dem Hof war einer der Gründe, warum man ihn später verdächtigte - erstens schien er sich ungewöhnlich gut auszukennen, zweitens hätte er sich theoretisch sehr gut unbemerkt zwischen HInterkaifeck und dem eigenen Hof hin- und herbwegen können. Aber wie schon gesagt - Beweise sind das keine.

Noch am selben Abend erreichten Beamte der Gendarmeriestation Hohenwart den Tatort - hauptsächlich, um die vielen Schaulustigen zu vertreiben, die sich inzwischen eingefunden hatten. Danach verständigten sie die Polizeidirektion München, die am darauffolgenden Morgen den Hof besichtigte und die ersten Vernehmungen durchführte. Zunächst ging man von einem Raubmord aus, ein Motiv, das allerdings zunehmend angezweifelt wurde, da nur sehr wenig gestohlen worden war. Die Obduktion der Leichen fand mitten im Hof auf einem improvisierten Seziertisch statt, danach wurden die Köpfe abgetrennt und später aus unerfindlichen Gründen einem Medium überlassen, dessen spiritistische Sitzungen jedoch ebenso wenig Ergebnisse brachten wie die Ermittlungen der Polizei. Trotzdem wurde in alle nur denkbaren Richtungen ermittelt, und alle möglichen Hinweise gingen bei der Mordkommission ein, von denen aber nur die wenigsten wirklich stichhaltig waren.

Die Brutalität der Morde erklärt die Wahrscheinlichkeit einer Beziehungstat, inklusive der Tatsache, dass nicht einmal der kleine Josef am Leben gelassen wurde. Manche vermuten, dass das Dorf seine Rachegelüste an der Familie ausgelebt habe, aber auch das ist sehr unwahrscheinlich. Sehr seltsam ist auch die Rückkehr zum Tatort, um die Tiere zu füttern - allerdings neigen Beziehungstäter laut Kriminalpsychologin Lydia Benecke ganz allgemein eher zu irrationalem Verhalten. Möglicherweise ging es um die Aufrechterhaltung des Status Quo, vielleicht war es auch ein Aufräumverhalten aufgrund von Verleugnung und Überforderung. Des weiteren traten im Laufe der Ermittlungen noch einige andere Ungereimtheiten zutage, vielen Hinweisen wurde allerdings nicht nachgegangen, und der eine oder andere "Beweis" wurde hinterher wieder revidiert - etwa die Mulden im Heu auf dem Dachboden, welche ursprünglich als Versteck der Täter interpretiert wurden, aber genauso gut auch Andreas Gruber und seiner Tochter als Liebesnest gedient haben könnten. Auch wurde die Vernehmung des Monteurs, der die Futterschneidemaschine repariert hatte, zunächst verabsäumt und erst 1925 nachgeholt - einige seiner Aussagen lassen den Schluss zu, dass der bzw. die Täter sich während seiner Anwesenheit ebenfalls auf dem Gehöft aufgehalten haben.

Obwohl Schlittenbauer als Hauptverdächtiger gehandelt wurde und auch im Nachhinein häufiger seltsame Aussagen getätigt hatte, konnte man ihm bis zu seinem Tod im Jahre 1941 nichts nachweisen. Ein weiterer Verdächtiger war ein aus einer Psychiatrie geflohener Insasse, der für seine Gewalttätigkeit bekannt war - die Tatsache, dass der Hof nach den Morden noch bewirtschaftet und die Toten zugedeckt wurden, schließt jedoch einen Mord aus reiner Lust am Töten eher aus. Die Familie war für ihren Geiz bekannt und beschäftigte immer wieder - auch illegal - Zeitarbeiter, welche ebenfalls in Verdacht gerieten. Der Fall konnte bis heute nicht aufgeklärt werden, es gibt aber mittlerweile eine ganze Website, die sich damit beschäftigt - 2007 war er sogar Gegenstand der Abschlussklausur an der Polizeifachhochschule Fürstenfeldbruck. Und natürlich inspirierte er neben zahlreichen Dokumentarfilmern auch das ein oder andere künstlerische Werk - etwa den Mystery-Thriller Hinter Kaifeck von Esther Gronenborn aus dem Jahr 2009 oder auch den 2006 erschienenen Roman Tannöd der deutschen Schriftstellerin Andrea Maria Schenkel, welcher 2009 unter der Regie von Bettina Oberli mit Volker Bruch und Monica Bleibtreu verfilmt worden war.

Der letzte Fall, den ich euch mitgebracht habe, handelt von einem jener zahlreichen hoffnungsvollen jungen Menschen, die vom Mythos Hollywood geblendet worden, aber daran gescheitert waren. Und doch hat "die schwarze Dahlie" es letztendlich geschafft, berühmt zu werden - allerdings auf eine Art, wie man es niemandem wünschen würde. Am 15. Januar 1947 entdeckte eine junge Mutter, die gerade mit ihrer kleinen Tochter unterwegs war, in einem Neubauviertel von Los Angeles die nackte, übelst zugerichtete und bizarr positionierte Leiche einer jungen Frau. Der Körper war an der Taille fein säuberlich in zwei Hälften geteilt und diese dreißig Zentimeter voneinander drapiert worden; die Beine waren obszön gespreizt, das Gesicht zur Straße gedreht, die Mundwinkel zu einem sogenannten "Glasgow Smile" aufgeschlitzt. Es handelte sich um die 22jährige Elizabeth Short aus Massachusetts, die nach Kalifornien gekommen war, weil sie hoffte, als Filmstar entdeckt zu werden.

Elizabeth, genannt "Betty", wuchs in relativem Wohlstand auf, bis die Wirtschaftskrise zuschlug und ihr Vater eines Tages seine Frau und seine fünf Töchter im Stich ließ - er setzte sich nach Kalifornien ab und meldete sich erst zehn Jahre später wieder. Verständlicherweise wollte seine Frau nichts mehr mit ihm zu tun haben - anders als die sechzehnjährige Elizabeth, die davon träumte, eine jener unvergesslichen Hollywood-Diven zu werden, die alle Welt verehrt und bewundert. Tatsächlich war sie der Inbegriff des damaligen weiblichen Schönheitsideals: lange Beine, Stupsnase, porzellanweiße Haut, lockige braune Haare, strahlend blaue Augen. Sie reiste zu ihm nach Vallejo, schaffte es jedoch nicht, eine stabile Beziehung zu ihm aufzubauen - er erwartete, dass sie ihm als Hausfrau diente, während sie das Abenteuer suchte und gar nicht daran dachte, sich unterzuordnen. Also nahm sie 1943 einen Job in der Poststelle eines Armeelagers in der Nähe von Santa Barbara an, wo die jungen Männer um die Aufmerksamkeit der Schönen buhlten. Ihre Zeit dort endete jedoch abrupt, als sie bei einer Party erwischt und wegen unerlaubten Alkoholkonsums angezeigt wurde.

Die nächsten Monate lebte sie in Florida, ehe sie 1944 nach Los Angeles zog, wo sie sich oft in Nachtclubs, Bars und Restaurants aufhielt, da sie immer noch von einer Karriere als Filmstar träumte. Zu Silvester, als sie wieder in Florida war, schien ihr Leben jedoch in ruhigere Bahnen zu steuern: Sie lernte den Luftwaffen-Offizier Matthew Gordon kennen, den sie zu heiraten beabsichtigte, der jedoch Ende August 1945 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam. Trotzdem erzählte sie später immer wieder, sie sei mit ihm verheiratet gewesen und habe ein Kind gehabt, das allerdings früh verstorben sei. Dass sie es mit der Wahrheit nicht immer so genau nahm, sollte einer der vielen Aspekte sein, welche die Ermittlungen zu ihrem Mord noch erheblich erschweren sollten. Nach Gordons Tod stürzte sie sich ins Nachtleben, war praktisch jeden Abend an der Seite eines anderen Mannes zu sehen, hatte keinen festen Wohnsitz mehr und keinen Job, sondern ließ sich hauptsächlich von ihren Begleitern aushalten. Das war in einer Zeit, in welcher es schon ein Affront war, bei der Hochzeit nicht mehr Jungfrau zu sein, natürlich höchst verdächtig, und so unterstellten die Medien ihr nach ihrem Tod häufig Liederlichkeit, machten sie gar zur Prostituierten - und das, obwohl von Hunderten von Verehrern gerade einmal drei behaupteten, mit ihr geschlafen zu haben. So entstand das Gerücht, ihre Genitalien seien unterentwickelt gewesen - da sie aber sehr wohl sexuelle Beziehungen führte, wenn auch nur wenige, kann man wohl auch das getrost ausschließen. Damals hatte sie keine richtigen Freunde, sondern schloss sich immer mal für kurze Zeit einer Clique oder einem männlichen Begleiter an, ehe sie wieder verschwand und wenig später mit ganz anderen Leuten unterwegs war. Ihre Spur verlor sich am 9. Januar 1947, nachdem ein Vertreter namens Robert Manley sie in San Diego von der Straße aufgelesen und nach Los Angeles mitgenommen hatte. Danach gab es zwar noch verschiedene Leute, die sie vor dem 15. noch lebend gesehen haben wollen, aber diese Aussagen sind alle nicht mehr verifizierbar.

Nach dem Fund ihrer Leiche überschlugen sich die Spekulationen, aber keine hat zu einem Ergebnis geführt. Die Zerteilung des Körpers wirkte professionell, die Inszenierung des Fundes planvoll, außerdem war die Leiche so ordentlich gewaschen worden, dass keine Spuren eines Täters mehr an ihr zu finden waren. Die Art und Weise, wie sie abgelegt worden war, degradierte das Opfer noch über den Tod hinaus und weist auf die Ausübung einer bestimmten Phantasie hin, ebenso wie die Spuren extremer Gewalt, die an dem Körper zu finden waren. Aus diesem Grund ging man zunächst von einem Serienmörder aus, allerdings fand man bei er Suche nach ähnlichen Taten keine eindeutigen Parallelen, zumal sich die Tötungsdelikte zur damaligen Zeit ohnehin häuften. Auch der Kreis mutmaßlicher Täter war enorm, da Elizabeth außergewöhnlich viele Beziehungen und Bekanntschaften hatte, die jedoch alle nur oberflächlich waren - so gab es in dem Fall sage und schreibe 27 Hauptverdächtige. Dazu kam ihr Hang, die Wahrheit so zu verdrehen, wie es ihr gerade passte. Der Mord an ihr beherrschte zwei Monate lang die Schlagzeilen, weshalb Mythen heute kaum noch von den Fakten zu trennen sind - auch wenn man die unvermeidlichen Gerüchte über Außerirdische und Satanisten meiner bescheidenen Meinung nach getrost im Reich der Phantasie verorten darf. Das Eigenartige an der Geschichte ist auch, dass so mancher in der Geschichte die Möglichkeit zu sehen schien, sich zu profilieren, jedenfalls gab es damals zahlreiche Spinner, die sich ernsthaft als Täter ausgaben. Doch auch der tatsächliche Mörder schien es nicht ganz lassen zu können, seinen Geltungsdrang auszuleben, jedenfalls schickte er im Laufe der Zeit persönliche Sachen des Opfers an die Polizei - die er allerdings zuvor mit Benzin gereinigt hatte, so dass niemals auch nur ein Hinweis auf ihn gefunden werden konnte.

Anfang der 1990er Jahre behauptete die Sängerin und Autorin Janice Knowlton, den Mord an Elizabeth Short mit angesehen zu haben ; der Täter sei ihr Vater gewesen, der 1962 bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Die Erinnerung sei durch eine Recovered-Memory-Therapie bzw. Trauma-Erinnerungstherapie wieder hervorgerufen worden - das Problem ist allerdings, dass die Gefahr der Suggestion bei solchen Therapien sehr hoch ist und damit natürlich auch die Wahrscheinlichkeit der Erzeugung falscher Erinnerungen. Zudem stimmten Knowltons Aussagen nicht mit den Fakten in der Ermittlungsakte überein - trotzdem veröffentlichte sie 1995 das Buch Daddy was the Black-Dahlia-Killer. Sie war jedoch nicht die einzige, die ihren Vater mit dem Mord in Verbindung brachte - auf weitaus größeres Interesse stießen die Aussagen von Steve Hodel, der selbst als Mordermittler beim LAPD gearbeitet hatte und ebenfalls seinen Vater beschuldigte, Elizabeth Short getötet zu haben. Im Gegensatz zu George Knowlton hatte Dr. George Hodel in den 1940ern tatsächlich zu den Hauptverdächtigen gezählt, nachdem seine vierzehnjährige Tochter ihn wegen sexuellen Missbrauchs angezeigt hatte - allerdings gibt es auch in diesem Fall keinerlei handfeste Beweise, da nicht einmal einwandfrei erwiesen ist, dass Dr. Hodel das Opfer überhaupt kannte. Da er jedoch eine äußerst unsympathische Persönlichkeit war, ist es natürlich einfach, ihn zu verdächtigen.

George Hodel war musikalisch hochbegabt, der Drill durch seine Mutter schon im Kindesalter schien in ihm jedoch einen lebenslangen Hass auf Frauen hervorgerufen zu haben - er neigte zu extremen Wutanfällen, und sein sehr reges Sexualleben war eng mit Gewalt gegen Frauen verknüpft, bis hin zu gefährlichem Sadismus. Er hatte elf Kinder mit fünf verschiedenen Frauen und war ein erfolgreicher Spezialist für Geschlechtskrankheiten, der sich in der High Society von L. A. bewegte und mit prominenten Persönlichkeiten wie dem Fotokünstler Man Ray und dem Filmregisseur John Huston befreundet war. Die Anklage seiner Tochter Tamar war für die damalige Zeit noch sehr ungewöhnlich und entsprechend auch nicht von Erfolg gekrönt, zumal ihre eigene Familie gegen sie aussagte.

Auch die Beziehung zwischen Dr. Hodel und seinem Sohn Steve scheint hochgradig problematisch gewesen zu sein - nachdem dieser im Nachlass seines 1999 verstorbenen Vaters zwei Fotos entdeckt hatte, auf denen, wie er vermutete, Elizabeth Short abgebildet war (was von deren Angehörigen allerdings dementiert wurde), war er nahezu besessen davon, Indizien zusammenzutragen, die seinen Vater belasteten, und veröffentlichte drei Bücher. Das Problem ist allerdings, dass Steve seinen Vater so ziemlich jedes zu seinen Lebzeiten stattfindenden Mordes bezichtigte und insgesamt sehr versessen darauf war, ihn als das absolute Böse darzustellen.

Elizabeth Short ging unter dem Namen "die schwarze Dahlie" in die Kriminalgeschichte ein - ihr Fall gilt als einer der bekanntesten in der Geschichte von Los Angeles. 1987 veröffentlichte der amerikanische Schriftsteller James Ellroy den Roman The Black Dahlia (dt. Die schwarze Dahlie),  der 2006 von Brian De Palma verfilmt wurde. Auch die erste Staffel Murder House der Serie American Horror Story basiert auf dem Fall, und zu Beginn der 2000er nannte sich eine Melodic-Death-Metal-Band in Anlehnung daran "The Black Dahlia Murder".

Wie ihr also seht, gibt es einen Haufen ungeklärter Kriminalfälle, die uns wohl beschäftigen werden, solange die Menschheit noch besteht - deren Aufklärung jedoch immer unwahrscheinlicher wird, je weiter die Zeit voranschreitet. Aber das ist wohl auch der Grund, warum sie über Generationen hinweg immer wieder faszinieren. Nun muss ich zugeben, dass ich, was diesen Blog betrifft, ein wenig nachlässig geworden bin - was wohl daran liegt, dass mich das Offline-Leben momentan immer noch sehr in Anspruch nimmt. Ich kann euch aber versichern, dass ich nicht aufhören werde, mich immer wieder mal auf das Schreiben zurückzubesinnen und wünsche euch bis dahin eine schöne Zeit. Bon voyage!

vousvoyez