Mittwoch, 24. Februar 2021

Man kann nicht ewig auf den gleichen Haufen scheißen

©vousvoyez
Dieser Satz bezieht sich auf den Klimawandel beziehungsweise ganz allgemein auf die Folgen der Umweltverschmutzung. Und das, obwohl sie von jemandem stammen, der dem breiten wissenschaftlichen Konsens eher skeptisch gegenübersteht - oder stand, ich weiß nicht, wie es heute ist. Was beweist, dass auch Zweifel nicht immer vollkommen pauschal geäußert werden. Auch wenn ich mir ziemlich sicher bin, dass das mit dem Klimawandel tatsächlich nicht nur ein Gerücht ist - und dazu brauchen wir uns nur mal ansehen, wie rasant sich die Wetterverhältnisse bereits seit meiner Kindheit verändert haben. Leider!

Selbstverständlich werden das nicht alle so sehen - die starken Schneefälle dieses Winters sind für viele der "Beweis", dass das mit dem Klimawandel nur ausgedacht ist. Denn würde man zugeben, dass dieses Problem real ist, dann müsste man auch einen Haufen liebgewordener Gewohnheiten und Annehmlichkeiten hinterfragen. Und das ist nun mal nicht leicht. Ähnlich wie in der gegenwärtigen Situation. Aber das soll jetzt nicht das Thema sein - nein, ich möchte mich heute ein paar anderen Legenden und Mythen widmen, und zwar deshalb, weil ich kürzlich wieder mal über was gestolpert bin - über ein "Phänomen", das anscheinend gern als wissenschaftliches Beispiel angeführt wird, obwohl es mit Wissenschaft eigentlich nichts zu tun hat. Es geht um den Mythos vom hundertsten Affen.

Diese Geschichte fand vor allem durch zwei Bücher aus den 1970er Jahren Verbreitung und stammt von dem südafrikanischen Botaniker, Zoologen, Biologen, Anthropologen, Ethnologen und Autoren Lyall Watson. Dieser bezieht sich auf die Koshima-Forschung der 1950er Jahre, als einige japanische Forscher eine Population von Japanmakaken auf der Insel Kōjima beobachteten; diese ließen auf den Strand der Insel Süßkartoffeln und Weizen für die Tiere fallen und beobachteten dann deren Verhalten. Irgendwann begann einer der Affen, die Süßkartoffeln vor dem Verzehr zu waschen, eine Tätigkeit, die bald von anderen von ihnen, vor allem den jüngeren, imitiert wurde. Lyall Watson behauptete, dass, nachdem der hundertste Affe aus der Kolonie auf Kōjima angefangen habe, seine Süßkartoffeln zu waschen, dieses Verhalten auch bei anderen Affengruppen auf anderen Inseln und dem Festland aufgetreten sei, ohne dass diese je Kontakt zu den Tieren auf Kōjima gehabt hätten. Im Jahr 1982 griff der US-amerikanische Autor Ken Keyes jr. diese Geschichte auf und führte sie in seinem Buch The Hundreth Monkey weiter; er behauptete, dass der hundertste Affe eine Art "paranormalen Lernvorgang" ausgelöst hätte, der durch "morphogenetische Felder" zustande gekommen sei, eine Hypothese von Rupert Sheldrake, die behauptet, dass Lebewesen durch unsichtbare Energiefelder miteinander verbunden sei, die energetische Information transportierten.

Watsons Ausführungen wurden bald kritisiert und als unwissenschaftlich entlarvt - auch Masao Kawai, Leiter der japanischen Verhaltensforscher, die damals vor Ort gewesen waren, wies mehrfach darauf hin, dass Watsons Angaben nicht korrekt und in der Folge auch überinterpretiert wären. Die Geschwindigkeit des Lernprozesses wurde sowohl bei ihm als auch bei Keyes übertrieben, zudem wurde der Fakt ausgelassen, dass Affen, die ein bestimmtes Alter überschritten hatten, das beobachtete Verhalten nicht mehr übernahmen. Da Fertigkeiten sowohl durch aktives Weitergeben als auch durch Beobachtung auch in anderem Kontext erlernt werden, fallen die Ergebnisse der Koshima-Forschung auch nicht wesentlich aus dem Rahmen. Auch dass sich diese Praxis plötzlich auf andere isolierte Affenpopulationen übertrug, kann nicht bewiesen werden, zumal die Süßkartoffel den Japanmakaken nur durch menschliches Eingreifen zur Verfügung stand. Da in den Originalquellen die Anzahl der Tierpopulation mit 59 angegeben wird, hat es den ominösen hundertsten Affen zudem ohnehin nie gegeben. Es ist also kein Wunder, dass diese Geschichte hauptsächlich von Leuten geglaubt wird, die generell zu Verschwörungserzählungen neigen, und nicht von systemgläubigen Schlafschafen wie mir.

Ähnlich unzureichend ist die Beweislage auch im Falle von Menschen, die völlig ohne Zutun von außen in Flammen aufgegangen sein sollen - es gibt aber zahlreiche Geschichten darüber, aber keinen einzigen stichhaltigen Beweis, dass so etwas überhaupt möglich ist. Und doch sind uns Geschichten über spontane menschliche Selbstentzündung bereits seit Anbeginn der Zeitrechnung bekannt. In Indien gibt es beispielsweise den Mythos von Sati, der ersten Frau des hinduistischen Gottes Shiva, die vor Wut in Flammen aufgegangen sein soll, als sie nicht zum Fest ihres Vaters Daksha eingeladen wurde. Auch in der Bibel gibt es Geschichten über Menschen, die sich spontan selbst entzündet haben sollen. Aus dem Mittelalter ist der Glaube überliefert, dass exzessiver Alkohol dazu führe, dass Menschen spontan verbrannten - wenn ich mich an meinen ersten Schluck Messwein erinnere, kann ich auch durchaus nachvollziehen, warum man so etwas geglaubt hat. Allerdings weiß man heute, dass eine Alkoholvergiftung sehr viel wahrscheinlicher wäre als das. Selbstverständlich kann man sich solcher Mythen auch bedienen, um einer Strafe zu entgehen - so, wie es heute Eltern gibt, die versuchen, die Folgen von Kindesmisshandlung als Impfschaden zu deklarieren. Am Pfingstmontag des Jahres 1725 verbrannte die Französin Nicole Millet; ihr Ehemann konnte das Gericht davon überzeugen, dass sie von ganz allein in Flammen aufgegangen sei. Im 19. Jahrhundert entwickelte ein Elektroingenieur aus New York die These, dass Menschen mit besonders trockener Haut eine erhöhte elektrische Spannung entwickeln können, die unter besonderen Umständen eine elektrostatische Entladung begünstige, welche bewirke, dass der Körper spontan in Flammen aufgehe - diese Behauptung weist jedoch zu viele Ungereimtheiten auf. Im 20. Jahrhundert ist der Fall der Cinder Lady (Aschendame) bekannt, einer Frau aus Florida, die im Juli 1951 in ihrem eigenen Haus verbrannte; man nimmt jedoch an, dass in Wirklichkeit ihr exzessiver Schlaftablettenkonsum in Kombination mit der Tatsache, dass sie Raucherin war, dazu geführt hatte, dass ihre Kleidung durch eine Zigarette entflammt worden war, wodurch ein sogenannter "Dochteffekt" entstand - dieser bewirkt, dass die Hitze der Flammen das Körperfett zum Schmelzen bringt und diese, ähnlich wie Kerzenwachs, so lange nährt, dass sie nicht auf ihre Umgebung überspringen. In den 1990er Jahren vermutete der Kriminalpsychologe John E. Heymer einen psychosomatischen Prozess, der eine chemische Reaktion auslösen könne, die zu spontaner menschlicher Selbstentzündung führen könnte - eine These, die jedoch sowohl chemischen als auch physikalischen Gesetzmäßigkeiten widerspricht. Auch, dass Kugelblitze zu einer Selbstentzündung führen sollen, wurde nie bewiesen. Aber zumindest inspiriert die Legende der spontanen menschlichen Selbstentzündung immer wieder die menschliche Phantasie, so dass sie in zahlreichen Romanen, Filmen und auch Fernsehserien zu finden ist.

Auch die Großstadtlegende des Krokodils im Abwasserkanal wurde schon häufig kreativ verarbeitet. Diese behauptet, dass in den Abwässerkanälen von Großstädten Krokodile und Alligatoren leben sollen, die entweder aus Zoos ausgebrochen oder von ihren Besitzern, die sie als Haustiere gehalten hatten, die Toilette hinuntergespült worden seien. Entstanden ist dieser Mythos höchstwahrscheinlich in den 1930er Jahren, als Jugendliche im New Yorker Stadtteil Harlem einen Alligator in einem Gully entdeckten. Bis heute behauptet eine moderne Sage, es gäbe in der New Yorker Kanalisation eine Population weißer Alligatoren - was mich an Kachikally erinnert, das heilige Krokodilbecken in Bakau im westafrikanischen Staat Gambia, das ich im Jahr 2006 besucht habe. Das Krokodil ist in Westafrika ein Symbol der Fruchtbarkeit; der Legende nach soll es in Kachikally ein weißes Krokodil geben, und wer dieses zu Gesicht bekommt, der soll später viele Kinder haben. Wie die Geschichte des Alligators aus New York zeigt, gab es durchaus echte Fälle, in denen Reptilien im Kanal gefunden wurden - trotzdem können die meisten Geschichten in das Reich der Legenden verwiesen werden, da der Abwasserkanal kein geeigneter Lebensraum für die Tiere ist. Erstens benötigen Krokodile als wechselwarme Lebewesen Sonnenlicht und Wärme, zweitens finden sie dort unten zu wenig Beute, drittens ist die Verschmutzung der Abwässer auf Dauer gesundheitsschädlich.

Gesundheitsschädlich klingt auch die Legende, die in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts in mehrfacher Ausführung in Polen kursierte. Damals erzählte man sich, dass nach Sonnenuntergang eine schwarze Limousine der Marke Wolga durch die Straßen fahre, um Kinder aufzugreifen und zu verschleppen - ich kann mir sehr gut vorstellen, dass man damals polnischen Kindern sagte: "Wenn du zum Abendessen nicht zu Hause bist, holt dich der schwarze Wolga." Von der Geschichte gibt es mehrere Varianten - je nach Feindbild soll es sich bei den Insassen der Limousine um Priester, Juden, Satanisten oder Vampire gehandelt haben. Waren sie eines Opfers habhaft geworden, soll diesem das gesamte Blut abgelassen und an reiche Deutsche verkauft worden sein, die an Leukämie litten. Manche behaupteten auch, dass alle Organe, vor allem die Nieren, entnommen worden seien. Es gibt auch Varianten, die erzählen, dass der Fahrer des Wolga Passanten nach der Uhrzeit fragte - nannten sie ihm diese, so starben sie am darauffolgenden Tag zu genau dieser Zeit. Der Ursprung dieser Erzählung ist nicht bekannt - Anhänger von Verschwörungsmythen behaupten allerdings, die polnische Staatssicherheit habe sie in die Welt gesetzt, um echte heimliche Verhaftungen und Verschleppungen zu vertuschen.

Bekanntlich wird die Angst um Kinder häufig ausgenutzt, um leichtgläubigen Menschen alles mögliche einzureden - ein Mechanismus, den ich schon in früheren Artikeln häufig kritisiert habe. In den USA kursiert etwa schon, seit es den Brauch gibt, dass Kinder zu Halloween von Haus zu Haus ziehen und Süßigkeiten sammeln, die Legende, dass manche dieser Süßigkeiten vergiftet seien oder gefährliche Gegenstände wie Rasierklingen oder Glasscherben enthalten sollen. Bisher ist jedoch nur ein einziger realer Fall bekannt, dessen Idee wohl noch dazu von dieser Legende inspiriert worden ist. Die Verbreitung dieser Gerüchte nahm vor allem im 19. Jahrhundert an Fahrt auf, als Lebensmittel zunehmend industriell hergestellt wurden und in der Folge auch Zutaten enthielten, die Privatpersonen unbekannt waren. Überprüfungen ergaben, dass vorwiegend billige Süßigkeiten zwar keine tödlichen, aber durchaus gesundheitsschädliche Inhaltsstoffe enthielten - eine mit Absicht herbeigeführte Vergiftung konnte jedoch nicht festgestellt werden. Dennoch haben sich diese Gerüchte bis heute gehalten - besonders in den 1970er und 1980er Jahren war die Panikmache in dieser Richtung besonders groß, und viele Ereignisse, die mit Halloween-Süßigkeiten eigentlich gar nichts zu tun haben, wurden damit in Verbindung gebracht. 1970 warnte die New York Times ohne jeglichen Anhaltspunkt vor angeblich vergifteten Halloween-Süßigkeiten, während 1983 bis 1995 die regelmäßigen Kolumnen der Schwestern Abigail van Buren und Eppie Lederer die Legende verbreiteten. Im Jahr 1970 starb ein fünfjähriger Junge am Heroin seines Onkels; um diesen zu schützen, behauptete seine Familie, er sei von einer Halloween-Süßigkeit vergiftet worden. 1994 ereignete sich in British Columbia ein ähnlicher Fall, als ein dreijähriger Junge eine Kokainvergiftung erlitt (die er allerdings überlebte) - auch da wurde zunächst von vergifteten Halloween-Süßigkeiten ausgegangen. 1988 fand die Polizei Strychnin in einer Packung Sunkist in einem Supermarkt in New Jersey - ein Einzelfall, der ebenfalls gern mit dieser Legende in Verbindung gebracht wird, obwohl er überhaupt nichts mit Halloween zu tun hat. 1990 starb ein vierjähriges Mädchen an den Folgen einer Kardiomegalie, einer Vergrößerung des Herzens - einige Zeitungen machten ebenfalls Halloween-Süßigkeiten dafür verantwortlich, ebenso wie im Fall einer anderen Vierjährigen, die im Jahr 2001 an einer Streptokokken-Infektion verstarb. Der einzig bestätigte Todesfall in Verbindung mit Halloween-Süßigkeiten ereignete sich jedoch 1974 in Texas; um an dessen Lebensversicherung heranzukommen, vergiftete der Optiker und Diakon Ronald Clark O`Bryan seinen achtjährigen Sohn Timothy, indem er eine mit Zyankali versetzte Packung Pixy Stix in seine gesammelten Halloween-Süßigkeiten schmuggelte. Um die Tat zu verschleiern, verteilte er weitere Packungen dieser Süßigkeit an andere Kinder - außer Timothy kam jedoch keines zu Tode. Der Vater wurde verhaftet und zehn Jahre später in Huntsville hingerichtet - per Giftspritze, ein Verfahren, das damals noch neu war.

Das waren wieder ein paar der vielen schwurbeligen ganz wirklich echt wahren Geschichten, die es so zu erzählen gibt - und die häufig von den ein oder anderen bis heute geglaubt werden. Aber was wäre das auch für eine Welt ohne Geheimnisse und Legenden, nicht wahr? Ich jedenfalls würde das doch ziemlich langweilig finden - schon allein deswegen, weil ich dadurch weitaus weniger zum Bloggen hätte! Wie es momentan bezüglich des Lockdowns bei mir aussieht, kann ich nicht sagen - was ich aber mit Sicherheit sagen kann, ist, dass wir uns ziemlich bald wiedersehen werden. Ich habe nämlich aktuell auch noch etwas anderes in Arbeit, das, wie ich denke, in Kürze fertig sein wird. Bis dahin wünsche ich euch trotz allem eine gute Zeit, und ich hoffe, dass ihr mir alle gesund und munter bleibt und nur ja keine Dummheiten macht, weil nämlich sonst ein Krokodil aus der Kloschüssel kommen wird, hihihi! Bon voyage!

vousvoyez

Freitag, 12. Februar 2021

Das Leben ist wie ein Schulzeugnis: Wenn's scheiße läuft, versuchen viele, mit Sport und Religion noch was zu retten

@greystorm
Genau aus diesem Grund kann ich es zumindest nachvollziehen, dass die Abschaffung des Schulsports nicht für alle eine tragbare Option ist - denn für manche ist der Sportunterricht die einzige Möglichkeit, wenigstens eine gute Note im Zeugnis stehen zu haben. Obwohl es bei manchen mit ein bisschen mehr Fleiß, verständnisvolleren Lehrern oder einem fürsorglicheren Elternhaus sicherlich ganz anders aussehen würde. Während der leicht verdiente Einser im Religionsunterricht doch auch sehr vom jeweiligen Lehrer selbst abhängt - es gibt durchaus auch Religionslehrer, die ziemlich viel verlangen. Dennoch verrät uns dieser Satz etwas darüber, wie Realitätsflucht funktioniert: Die einen streben nach körperlichen Höchstleistungen, die anderen nach spiritueller Erleuchtung. Und beides erwächst häufig aus Krisensituationen.  Leider können Krisensituationen allerdings auch andere Verhaltensweisen provozieren - und darüber möchte ich heute mit euch sprechen.

!!!!!WARNUNG!!!! WER VON THEMEN WIE SUIZID ODER GANZ ALLGEMEIN PSYCHISCHEN ERKRANKUNGEN GETRIGGERT WIRD, SOLLTE JETZT AUFHÖREN ZU LESEN!!!!

Am 9. Februar dieses Jahres - zu dem Zeitpunkt, an dem ich das schreibe, vor drei Tagen - hat sich Kasia Lenhardt das Leben genommen. Kennt ihr nicht? Keine Sorge - ich wusste bis vor zwei Tagen auch nicht, wer sie ist. Und hätte sie ihrem Leben nicht vorzeitig ein Ende gesetzt, wäre das wohl auch so geblieben. Aber ich schreibe das hier nicht, um mich darüber aufzuregen, dass manche Leute zu viel Aufmerksamkeit bekommen - Kasia Lenhardt war fünfundzwanzig Jahre alt und Mutter eines kleinen Jungen. Was der Tatsache, dass sie keine andere Möglichkeit sah, als ihr Leben zu beenden, eine noch tragischere Dimension gibt. Aber um mal zu erklären, um wen es sich handelt: Kasia Lenhardt war gebürtige Polin und wurde 2012 Vierte in der Castingshow Germany's Next Topmodel. Sie war Mutter eines sechsjährigen Sohnes und bis vor kurzem mit dem Fußballspieler Jérôme Boateng liiert. Was mich dazu veranlasst, ihren Suizid zu thematisieren, sind aber vor allem die Reaktionen darauf - die Erkenntnis, die ich daraus gewonnen habe: Nämlich, dass in Bezug auf psychische Probleme immer noch ein gehöriges Maß an Unwissen, Dunning-Kruger-Verhalten und Ignoranz herrscht. Und obwohl dieses Thema für mich selbst ein sehr persönliches und auch schwieriges ist, möchte ich deswegen heute einmal mit euch darüber sprechen.

Nun, was Suizid betrifft, so scheinen viele von uns immer noch von jener Zeit beeinflusst zu sein, in der dieser als "Sünde" angesehen wurde - das steckt ja schon im Wort "Selbstmord" drin. Deswegen habe ich mich gegen die Verwendung dieses Begriffs entschieden - wenn das selbsttätige Beenden des eigenen Lebens Mord ist, dann ist Masturbation eine Vergewaltigung. Von wegen mein Körper, meine Entscheidung und so. Jedenfalls lese ich häufig Kommentare von wegen, es sei "egoistisch", "schwach" oder "feige" von ihr gewesen, sich das Leben zu nehmen - immerhin habe sie ein kleines Kind, das sie brauche, da kann sie sich doch nicht so einfach umbringen. Nun, ich verstehe diese Reaktion bis zu einem gewissen Grad - wirklich! Ich hätte vielleicht auch so gedacht, wenn meine Mutter sich das Leben genommen hätte. Das Ding ist allerdings - wir wissen nicht, was vor ihrem Suizid in dieser jungen Frau vor sich ging. Kein Mensch nimmt sich einfach so leichtfertig das Leben - da steckt in jedem Fall ein enormer seelischer Druck dahinter. Selbstverständlich ist es besonders tragisch, dass ihr Kind dadurch für sein Leben gezeichnet sein wird - aber macht man es besser, indem man noch im Nachhinein die Mutter beschimpft? Als ich einen Todesfall in der Familie hatte, der durch eine Suchtkrankheit bedingt war, sagte mir jemand: "Da brauchst du doch nicht trauern - er war doch selber schuld!" Ich sage es ganz unverblümt: Jemandem, der um einen geliebten Menschen trauert, so etwas zu sagen, ist scheiße, richtig scheiße. Es suggeriert, dass meine Gefühle falsch sind - es ist mehr oder weniger ein Vertrauensbruch. Stellt euch vor, ihr würdet zu Frau Lenhards Sohn sagen: "Du musst nicht traurig sein, weil deine Mami gestorben ist - sie war doch selber schuld!" Dumm? Unangebracht? Grausam? Exakt! Ich gebe euch einen Rat: In manchen Situationen ist es einfach besser, den Mund zu halten. Oder die Finger still. Je nachdem.

Es stehen Vermutungen im Raum, dass der unsensible mediale Hype um Kasia Lenhardts Trennung von Boateng sowie die vielen Hasspostings, die auf die junge Frau einprasselten, für ihre Verzweiflungstat zumindest mitverantwortlich waren, und auch gegen den Fußballstar stehen schwere Vorwürfe im Raum. Eine bekannte Autorin und Feministin, deren Namen ich hier bewusst nicht nennen möchte, gab gleich einmal "den Männern" die Schuld an dem, was geschehen ist. Nun - wir kennen den genauen Sachverhalt nicht, deshalb möchte ich auf Schuldzuweisungen verzichten. Ob Frau Lenhardts Suizid generell mit dem Hass im Netz zu tun hatte, kann ich nicht sagen - Tatsache ist aber, es gibt tatsächlich nachgewiesene Fälle, in denen labile Menschen durch Mobbing, auch durch Cybermobbing, in den Suizid getrieben wurden. Und das wundert mich auch nicht - die Art und Weise, wie wir im Netz miteinander umgehen, ist häufig zutiefst unmoralisch. Viele vergessen, dass hinter den Profilen auf Facebook, Twitter, Instagram und Co. zumeist ein echter Mensch steckt - ein Mensch mit Gefühlen und Meinungen, ein Mensch, der verletzt und schlimmstenfalls auch zerstört werden kann. Was für mich vor allem im Vordergrund steht: Es ist ein Mensch gestorben - eine junge Frau hat, aus welchem Grund auch immer, keinen anderen Ausweg mehr gesehen, als ihrem Leben aktiv ein Ende zu setzen. Und anstatt darüber zu sprechen, wie verzweifelt jemand sein muss, der so etwas tut, haben viele von uns nichts Besseres zu tun, als jetzt noch nachzutreten.

In letzter Zeit habe ich häufiger mitbekommen, dass gerade, was psychische Erkrankungen betrifft, bei vielen der Dunning-Kruger-Effekt sehr ausgeprägt ist. Und dass hier bisweilen wenig Empathie herrscht. Ich erlebe es auch häufig, wenn es etwa um prominente Todesfälle im Zusammenhang mit einer Suchterkrankung geht: "Um den/die braucht man doch eh nicht zu trauern, der/die hat ja Drogen genommen!" Ich kann durchaus nachvollziehen, dass man sich das nicht vorstellen kann - aber eine Sucht hat immer auch eine Ursache, und wenn man da einmal drin ist, kann man nicht, wie es sich diejenigen, die nichts davon verstehen, so gerne vorstellen, "einfach aufhören". Ich habe vor nicht allzu langer Zeit eine Diskussion bezüglich Depressionen mitverfolgt, die ganz ähnlich verlief. Weil man selbst keine Erfahrungen damit hat und auch nichts damit anfangen kann, glaubt man, das muss auf den Rest der Welt auch zutreffen. Wer kennt sie nicht, die gut gemeinten Ratschläge derer, die nie Depressionen hatten und auch nie jemanden kannte, der je an dieser Krankheit litt? "Jetzt stell dich doch nicht so an es gibt Menschen, denen geht es viel schlechter als dir!" (Ach so - danke, jetzt geht es mir schon viel besser!) "Ach, das ist doch wieder mal so eine Modekrankheit - heutzutage hat wohl jeder Depressionen!" (Ja klar, man kann eine Erkrankung an- und ausziehen, wie man lustig ist.) "Also wenn du mich fragst, die sind alle nur faul! Morgen sag ich auch, ich hab Depressionen - dann kann ich auch ein bisschen länger Urlaub machen." (Wenn du glaubst, es ist "Urlaub", wenn du auf jeden äußeren Reiz überempfindlich reagierst und wenn dir für die normalsten Dinge des täglichen Lebens die Kraft fehlt, nur zu, probiere es aus!) "Person XY hatte es viel schwerer als du und hat auch keine Depressionen - dann kannst du dich doch auch mal ein bisschen zusammenreißen!" (Ja, das ist schön für Person XY - hilft mir aber auch nicht weiter.) "Versuch's doch mal mit dieser und jener Diät! Finde deinen Weg zu Gott! Geh raus in die Naur! Denk positiv!" (Wow, da hätte ich auch gleich darauf kommen können! Einmal positiv gedacht - zack, keine Depressionen mehr! Warum bist du eigentlich nicht Therapeut*in geworden?) "Ich war ja letzte Woche auch schlecht drauf." ("Schlecht drauf sein" ist aber keine Depression, du wandelnder Dunning-Kruger-Effekt!) "Meine Oma hat den Krieg mitgemacht - die hatte auch keine Depressionen, obwohl sie im Gegensatz zu dir allen Grund dazu gehabt hätte." (Es ist inzwischen erwiesen, dass Traumata auch genetisch vererbt werden können - abgesehen davon, dass es damals mit Sicherheit ausreichend unentdeckte psychische Erkrankungen gab.) "Du kannst doch keine Depressionen haben - du bist doch so fröhlich!" (Auch wenn du es dir nicht vorstellen kannst - auch Depressive dürfen manchmal lachen und Humor haben.) Oder mein aktueller Favourite im Bullshit-Bingo: "Ich hatte auch mal Depressionen, sogar noch viel schlimmer als du, und bin da ganz alleine wieder rausgekommen - das kann jeder, und wer es nicht schafft, der will es nur einfach nicht." (Nun, dann hattest du aller Wahrscheinlichkeit nach keine Depressionen - noch einmal: Depressive sind nicht "mal traurig"; es ist ein Zustand, der anhält und aus dem man in der Regel alleine nicht wieder rauskommt.) Solche Kommentare sind schlicht und einfach anmaßend - glaubt ihr wirklich es gäbe dieses Problem, wenn alles so einfach wäre? Ich kann verstehen, dass man etwas, wozu man keinen Bezug hat, nicht versteht - aber das kann man doch auch zugeben. Blödes Beispiel: Ich habe keine Ahnung von Autos - deshalb gebe ich anderen auch keine Ratschläge, wie sie ihr Auto zu reparieren zu haben. Und noch etwas: Solche "Ratschläge" helfen nicht nur nicht - sie sind möglicherweise sogar kontraproduktiv. Denn sie geben Betroffenen das Gefühl, unzulänglich zu sein, weil sie nicht leisten können, was von ihnen verlangt wird, obwohl es doch angeblich so einfach ist - und vergrößern dadurch die Schuldgefühle. Klar gibt es Dinge, die begleitend zu medikamentöser und Psychotherapie hilfreich sein können - Bewegung, frische Luft, Natur, gesunde Ernährung, kreative Beschäftigung, um nur ein paar zu nennen. Aber es ist eben nicht alles - und zudem ist jede Depression anders. Es gibt kaum eine Erkrankung mit so vielen unterschiedlichen Symptomen und Ausprägungen. Und mit unbedachten Aussagen, mit Kleinreden oder gar mit dem Einreden von Schuldgefühlen erreicht man genau das Gegenteil von dem, was man eigentlich erreichen will - nämlich, dass die betroffene Person etwas dagegen tut. Denn es erfordert enorm viel Kraft, sich selbst einzugestehen, dass man ein Problem hat - vor allem eben deshalb, weil viele nicht akzeptieren wollen, dass sie ernsthaft krank sind. Und weil doch jeder, der zum Psychiater geht oder gar in die Psychiatrie muss, nur "bekloppt" sein kann. Ihr werdet überrascht sein: Man kann psychische Erkrankungen nicht pauschal an ihren Extremfällen messen - unter Psychiatrie-Patienten gibt es selbstverständlich die, die sich nach unserem Verständnis "seltsam" verhalten, aber die meisten, die dort in Behandlung sind, sind enttäuschend "normal".

Und im schlimmsten Fall kann so eine Depression zum Suizid führen - was mich zum nächsten Punkt bringt: So ein Suizid kommt keineswegs aus heiterem Himmel. Manchmal sind tatsächlich keine Anzeichen erkennbar - und im Nachhinein ist natürlich immer leicht reden. Aber ganz allgemein kann man sagen, dass man weitaus mehr Suizidfälle verhindern hätte können, hätte man ein bisschen öfter hingesehen. Um das zu verdeutlichen, möchte ich ein prominentes Beispiel bedienen - nämlich Kurt Cobain, einen jener Musiker, die in jungen Jahren für mich eine prägende Rolle gespielt haben. Ich war noch zu jung, um den Hype um Nirvana und Cobains tragischen Suizid aktiv mitbekommen zu haben, aber Grunge im Allgemeinen und Nirvana im Besonderen waren auch in meiner Zeit als Teenager und junge Erwachsene noch cool. Auch wenn es ein wenig schräg war, all die Girls zu erleben, die weiland noch zu Angelo Kellys An Angel dahinschmolzen und zehn Jahre später auf einmal Cobains kompositorisches Talent in den Himmel lobten. Aber jeder wie er mag. Jedenfalls - wenn ich mir heute Kurt Cobains Auftritte von damals ansehe, finde ich, der seelische Schmerz war ihm damals schon anzusehen. Und ich bin überzeugt davon, dass auch seine mysteriösen Magenprobleme, die er mit Heroin "kurierte", etwas damit zu tun hatten. Seit ich weiß, wie sich Depressionen anfühlen, tut es mir manchmal weh, ihn anzusehen - aber seine Musik finde ich trotzdem nach wie vor zu gut, um sie nicht mehr zu hören. Der gigantische, über Nacht einsetzende Erfolg überforderte den begabten jungen Künstler - ebenso wie wohl auch seine toxische Beziehung zu Courtney Love, die für die gnadenlose Öffentlichkeit schon bald zum Inbegriff der kaputten Drogen-Ehe wurde. Am 5. April 1994 erschloss sich Kurt Cobain mit einer Schrotflinte - und obwohl alle schockiert waren, war dies nach all den Berichten über Überdosen, Koma und Entzügen für niemanden mehr eine echte Überraschung. Ich erinnere mich in dem Zusammenhang auch an den Tag, als mich die Nachricht von Amy Winehouse' Tod erreichte - nach all den Exzessen, die lang und breit in der Klatschpresse ausgewalzt wurden, erwischte mich das weitaus weniger kalt als der Tod von David Bowie vor fünf Jahren, obwohl ich damals selbst erst 27 Jahre alt war. Zwei Tage vor Cobains Tod musste die In-Utero-Tournee von Nirvana wegen dessen Drogen- und Magenproblemen abgebrochen werden. Ein paar Wochen zvuor posierte die Band für den amerikanischen Fotografen Youri Lenquette - Cobain hatte den Lauf eines Sturmgewehres im Mund. Alle hielten das für einen Scherz. Schon zuvor hatte er mehrmals mit Suizid gedroht - aber keiner hatte das ernst genommen. Im November zuvor erschien auf dem Sampler The Beavis and Butt-Head Experience ein von Cobain komponierter Song namens I Hate Myself and Want to Die - "ich hasse mich und will sterben".

Schon allein diese Geschichte widerlegt einen Mythos, der bis heute immer noch in den Köpfen vieler weiterlebt: Wer einen Suizid ankündigt, will nur Aufmerksamkeit und meint es nicht ernst. Das ist ein fataler Trugschluss - wer einen Suizid ankündigt, sollte immer ernstgenommen werden. Und auch ein missglückter Suizidversuch ist weitaus mehr als nur ein weinerliches Betteln um Aufmerksamkeit - es ist Ausdruck tiefster Verzweiflung und Ausweglosigkeit, und das Bagatellisieren dieses kann dazu führen, dass der nächste Versuch erfolgreich ist. Deswegen meine Bitte an euch: Solltet ihr in eurem Umfeld jemanden kennen, der damit droht, sich selbst das Leben zu nehmen, nehmt ihn ernst! Denkt daran, dass diese Person möglicherweise niemanden hat, mit dem sie sprechen kann, und keinen Sinn mehr in ihrem Dasein erkennt! Holt sie aus der Isolation, gegebenenfalls mit professioneller Hilfe! Nehmt euch nicht heraus, zu urteilen, und denkt vor allem an eines: Nur, weil heutzutage alle glauben, sie müssten ihren geistigen Müll in den Äther blasen, braucht ihr das nicht auch noch nachzumachen. Denkt daran, dass es gerade die Stigmatisierung ist, die viele Menschen daran hindert, dieses Thema anzusprechen.

Kein völlig gesunder, selbstbewusster Mensch kommt einfach so auf den Gedanken, sich umzubringen. Depressionen und suizidale Gedanken können jeden irgendwann einmal treffen - ganz egal, wie schön, reich, intelligent, erfolgreich und beliebt man ist. Kein Mensch ist davor gefeit, irgendwann einmal Hilfe zu brauchen. Ich werde euch unten ein paar Kontaktdaten angeben für alle, die aktuell vielleicht mit dem Gedanken spielen, sich das Leben zu nehmen - oder die jemanden kennen, der gefährdet sein könnte. Sollte jemand von euch das Gefühl haben, dass vielleicht alles zu viel wird, oder gar daran denken, sein Leben zu beenden, dann bitte wendet euch an einen dieser Kontakte! Hier findet ihr Leute, die genau wissen, was in so einer Situation zu tun ist. Ich weiß, dass es manchmal Situationen gibt, in denen man denkt, dass es keinen anderen Ausweg gibt, als seinem Leben ein Ende zu setzen. Und dass keiner einen versteht und keiner helfen kann. Solltet ihr euch in einer akuten Krisensituation befinden, dann bitte sucht euch Hilfe! Und denkt vor allem daran: Ihr seid deswegen weder dumm noch schwach. Und vor allem seid ihr nicht allein!

vousvoyez


                   http://www.kriseninterventionszentrum.at/
                   https://bittelebe.at/
                   https://www.bleibbeiuns.at/Home.html



Samstag, 6. Februar 2021

Der Hallo ist schon gestorben

@alanking
Ein Spruch, den ich schon seit meiner Kindheit kenne - wahlweise auch "der He ist schon gestorben". Der Gedanke dahinter ist, dass vor allem die ältere Generation Worte wie "hallo" und "he" als flapsig und unhöflich empfindet. Was das Wort "he" betrifft, so empfinde ich das tatsächlich selbst so - meine Reaktion ist dann allerdings eher "Ich heiße nicht He!" Was mich an einen Bekannten erinnert, der aus der DR Kongo stammt und bereits seit ein paar Jahrzehnten in Österreich lebt. In seiner Anfangszeit hier wurde er einmal von der Polizei aufgehalten; sie riefen ihm "Passport" zu, woraufhin er in durchaus verständlichem Deutsch antwortete: "Ich heiße nicht Passport!" Das mit dem Hallo und dem He ist übrigens ein Spruch, den ich noch von meinem Vater kenne - der, wenn er nach Hause kam, immer "Grüß Gott" sagte, selbst wenn er wusste, dass niemand da ist.

Gutes Benehmen ist ja bekanntlich bis zu einem gewissen Grad der Schlüssel zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Nun wissen wir ja, dass gutes Benehmen für viele Leute leider ein Fremdwort ist - wie wir ja auf Social Media tagtäglich sehen. Aber schlechtes Benehmen ist nicht nur für das Internet bezeichnend - es ist auch das, womit bei gewissen Fernsehsendern die besten Einschaltquoten erzielt werden. Allen voran natürlich der deutsche Privatsender RTL. Dieser Sender, der 1984 an den Start ging und im Prinzip ein Ableger des deutschsprachigen Radioprogramms Radio Luxemburg ist, generiert einen nicht unwesentlichen Teil seiner Quoten durch Skandale - und natürlich durch den bekannten Fremdscham-Effekt, der in uns aber gleichzeitig ein Gefühl der Überlegenheit hervorruft. Für vieles, was auf diesem Sender zu sehen ist, habe ich, ehrlich gesagt, die Nerven nicht. Gestern bin ich allerdings zufällig über ein Format gestolpert, das für mich die Bullshit-Grenzen heftig überstrapaziert. Und ja, vielleicht sollte ich darüber gar nicht schreiben - damit das Thema keine Aufmerksamkeit bekommt. Aber es tut mir leid, ich kann nicht anders - ich weiß nicht, wie ich sonst Dampf ablassen kann. Allerdings möchte ich eines anmerken: Ich bin, was Kinder und Hunde betrifft, absolut nicht "vom Fach" - betrachtet also das, was ich schreibe, als Meinung und vielleicht Denkanstoß, nicht jedoch als professionelle Einschätzung. Nun gut.

Die Rede ist von einer "Doku-Reihe" mit dem Titel Train Your Baby Like A Dog - und ja, das Wort ist bewusst in Anführungszeichen gesetzt, denn Realitätsbezug hat diese Sendung keinen. Und schon allein der Titel ist maximal geschmacklos. Wie ihr euch sicher denken könnt, musste sich dieses Format schon vor der Erstausstrahlung eine Menge Kritik gefallen lassen - und das auch völlig zu Recht. Und dass schon der Titel so auffällig provokant ist, ist natürlich Absicht. Aber schauen wir uns den Sachverhalt trotzdem mal genauer an.

Nun, was ist das Konzept der Sendung? Im Prinzip hatten wir ein ähnliches Format nämlich schon einmal: und zwar mit der Reihe Die Super Nanny, die von 2004 bis 2011 auf RTL lief - einer von vielen Ablegern der gleichnamigen britischen Originalfassung (in Österreich gab es Die Super Nannys auf ATV). In diesem Format ging es mehr oder weniger um Erziehungsberatung - die Diplompädagogin Katharina Saalfrank besuchte Familien mit Kindern, die sich nicht so verhielten, wie die Eltern es gerne gehabt hätten, beobachtete die familiäre Interaktion und bot Hilfestellung in Form von Beratungsarbeit auf Basis von Systemtheorie und Sozialpädagogik. Schon diese Sendung stand einst heftig in der Kritik - nicht nur, weil sie suggerierte, dass es nur weniger Tage bedürfe, um komplexe Probleme zu lösen, sondern auch wegen einzelner Skandale. Eigentlich könnte man meinen, dass jedem klar sein sollte, dass eine Unterhaltungssendung, die mit Voyeurismus und Schadenfreude arbeitet, nichts mit seriöser Erziehungsarbeit zu tun hat - aber nachdem ich einmal ein Interview mit einer Scripted-Reality-Darstellerin gesehen habe, ist mir klar, dass ein nicht unwesentlicher Teil des RTL-Publikums das wirklich nicht versteht. Aber Frau Saalfrank ist zumindest "vom Fach" - und auch sie übte scharfe Kritik an Train Your Baby Like A Dog - das im Prinzip den gleichen Aufhänger nutzt, nämlich Krawall-Kids, die sich nonstop aufführen, als bräuchten sie keinen Pädagogen, sondern einen Exorzisten, und ihre überforderten, verzweifelten Eltern, die nicht verstehen, dass ein Kind keine Puppe ist, die nur macht, was sie wollen. Auch diese Kinder sollen zu braven Sonnenscheinchen umgemodelt werden - aber nicht durch eine Pädagogin, sondern durch eine Hundetrainerin.

Bitte was??? Ja, ganz recht - Aurea Verebes, die in dieser Sendung als "Retterin in der Not" auftritt, ist ausgebildete Hundetrainerin. Ihre Rechtfertigung, sich für ein solches Format herzugeben? Menschen sind ja im Prinzip, genauso wie Hunde, Säugetiere - und die Gehirne aller Säugetiere funktionieren gleich. Nun, eigentlich sollte einer ausgebildeten Hundetrainerin schon einmal aufgefallen sein, dass Hunde nicht sprechen können - zumindest  nicht so wie Menschen. Natürlich gibt es viele Parallelen zwischen den Gehirnen von Säugetieren - aber das bedeutet nicht, dass sie absolut gleich sind. Weiters hält sie eine professionelle Qualifikation für überschätzt - ihre "Expertise" liege darin, dass sie selbst Mutter sei, Kinderbücher geschrieben und wissenschaftliche Literatur übersetzt habe. Aber selbstverständlich operiert die gute Frau nicht alleine - "fachliches Backup" holt sie sich von Dr. Niko Hüllemann, seines Zeichens Kinder- und Jugendpsychotherapeut, dessen Einschätzungen dem Ganzen einen "seriösen" Anstrich geben sollen. Allerdings ist er nicht vor Ort, sondern berät Frau Verebes lediglich mittels Videocall - sprich, er lernt die Familien, die sie berät, nicht einmal persönlich kennen -, und so richtig überzeugt von der Methode wirkt er auch nicht. Sprich, im Prinzip fungiert er hauptsächlich als Ausrede, um das Format zu rechtfertigen.

Ein Hauptaugenmerk von Frau Verebes' Methode liegt auf dem Klickertraining, das nicht nur in der Hunde- sondern generell in der Tierausbildung nach dem Prinzip der operanten Konditionierung angewendet wird. Dies erfolgt eben mittels eines "Klickers", der meist aus einem Kunststoffgehäuse mit Knopf besteht, in das ein geprägter Stahlblechstreifen montiert ist, so dass beim Betätigen des Knopfes ein Klickgeräusch ertönt - ein Prinzip, das auch beim Knackfrosch zum Einsatz kommt, oder bei diesen Schraubdeckeln von Lebensmittelgläsern, wenn sie das erste Mal geöffnet werden. Angewendet wird der Klicker zur positiven Verstärkung - man betätigt den Klicker, wenn das Tier erwünschtes Verhalten zeigt, und gibt ihm gleichzeitig etwas zu fressen. Irgendwann reicht das Klickgeräusch aus, um dem Tier zu signalisieren, dass es erwünschtes Verhalten gezeigt hat. Dies hat zum einen den Vorteil, dass das Geräusch unmittelbar erzeugt werden kann und man auf diese Weise auch kleine Schritte in Richtung Ziel belohnen kann, zum anderen, dass es abgekoppelt ist von den Stimmungen und Emotionen des Ausbilders. Wer sich ein wenig mit Verhaltenspsychologie auseinandergesetzt hat, wird sich wahrscheinlich noch an den berühmten Versuch des Nobelpreisträgers Iwan Pawlow erinnern, der die klassische Konditionierung nachwies, indem er die Fütterung eines Hundes mit dem Läuten einer Glocke verknüpfte, bis der Speichelfluss des Hundes durch das bloße Läuten der Glocke auch ohne anschließende Fütterung angeregt wurde. Im Gegensatz dazu erfolgt die operante Konditionierung nach B. F. Skinner, indem spontanes Verhalten durch eine bestimmte Reaktion gefördert oder vermindert wird - wodurch neue Verhaltensmuster eintrainiert werden können. Es ist sicherlich nicht die schlechteste Methode, um ein Tier möglichst ohne Strafen und Zwänge zu erziehen - allerdings muss man sich vor Augen halten, dass dies für die Arbeit von Lebewesen gilt, die lernen sollen, mit einer anderen Spezies zusammenzuleben. Was ich im Zusammenhang mit der RTL-Sendung allerdings besonders interessant finde: Alle Tiertrainer, auf die ich beim Recherchieren gestoßen bin und die mit der Klickermethode arbeiten, sind sich darüber einig, dass diese nicht dazu geeignet ist, unerwünschtes Verhalten abzutrainieren. Behaltet das beim Weiterlesen unbedingt im Gedächtnis.

Aurea Verebes zieht also immer wieder Vergleiche zwischen dem Verhalten eines Kindes und dem eines Hundes und will Kleinkinder mittels eines Klickers aus dem Fachgeschäft für Haustierbedarf zu erwünschtem Verhalten ermutigen. Sie rechtfertigt diese Methode damit, dass sie beim Vokabeltraining mit einem ihrer Kinder darauf zurückgegriffen hat, und bezeichnet diese Methode als "innovativ" - nun, wir erinnern uns an das pawlowsche Experiment, das stammt übrigens aus dem Jahr 1905, ist also nicht so neu, und gehört zu den Grundlagen der modernen Verhaltenspsychologie. Nach den aktuellen Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie ist Kindererziehung allein durch Konditionierung ganz allgemein nicht innovativ, sondern im Gegenteil eher rückschrittlich, weil dadurch nur kurzfristig Erfolge erzielt werden können - sie reduziert das Kind rein auf sein Verhalten und wird weder seinem Charakter noch seinen Bedürfnissen in irgendeiner Art und Weise gerecht. Manche Experten sind sogar der Meinung, dass der Klicker sogar zur Belastung der Eltern-Kind-Beziehung führen kann, da er das Kind objektifiziert wird und dies somit eher für eine Entfremdung von der Bezugsperson sorgt. Natürlich werden in der einen Sendung, die bisher ausgestrahlt wurde, unmittelbar Erfolge erzielt - aber bereits am Ende dieser zeigt sich, dass sie nicht von Dauer sind. Zumal der Klicker bei den Kindern gar nicht so eingesetzt wird, wie er laut Frau Verebes eigentlich sollte. Darüber hinaus wird eines völlig außer acht gelassen - nämlich, der Ursache des Konflikts nachzugehen und die Verantwortung der Eltern diesbezüglich zu hinterfragen. Abgesehen davon verfolgt die Kindererziehung ja auch nicht dasselbe Ziel wie die Erziehung eines Hundes - einem Hund soll beigebracht werden, mit einem oder mehreren Menschen zusammenzuleben und ihr Verhalten entsprechend anzupassen. Ein Kind hingegen soll zu einem autonomen, reflektierten, selbstbewussten Erwachsenen werden - da reicht es doch nicht aus, erwünschtes Verhalten durch Klicken zu "belohnen"! Ein Hund weiß nicht, warum bestimmtes Verhalten erwünscht ist und anderes nicht - weil er auch nicht danach fragt. Das ist bei einem Kind komplett anders - das muss irgendwann verstehen lernen, warum bestimmtes Verhalten erwünscht ist und anderes nicht. Dazu reicht eine reine Symptombekämpfung, wie sie in dieser Sendung gezeigt wird, nicht aus. Wenn ihr mir nicht glaubt, dann stellt euch jetzt ganz in Ruhe vor, wie ein Teenager reagieren würde, wenn ihr plötzlich mit so einem Klicker ankommen würdet.

Train Your Baby Like A Dog stellt, ähnlich wie früher Die Super Nanny, zwei Familien mit jeweils einem "Problemkind" vor - in beiden Fällen ein kleines Mädchen, das in einem Alter ist, in dem es gerade erst lernt, sich zu artikulieren. Das eine Kind verweigert das Zähneputzen und will nicht alleine einschlafen; das andere ist äußerst impulsiv und auch aggressiv, was vor allem die kleine Schwester zu spüren bekommt. In beiden Fällen wird das Verhalten der Eltern gar nicht angesprochen, auf deren generelles Verhältnis zu den Kindern nicht eingegangen - stattdessen beschränkt man sich darauf, Kinder in punktuellen Problemsituationen zu "korrigieren". Ganz abgesehen davon, dass so manche Verhaltensweisen durch den Sender ganz augenscheinlich auch noch zusätzlich provoziert werden - denn welches zweijähriges Kind fängt nicht an zu brüllen, wenn es im Bett liegt, einschlafen soll und dabei von fremden Menschen umringt wird, die ihm eine Kamera ins Gesicht halten? Wie auch immer - jedenfalls setzt Frau Verebes den Klicker ein, um in den Kindern positive Assoziationen zu bestimmten Gegenständen zu wecken - etwa bei der Zweijährigen, die nicht alleine schlafen will, zu einer Decke, die dann ins Bett kommt, oder mit einer neuen Zahnbürste. Um die angeblichen Parallelen von Kindern und Hunden zu veranschaulichen, werden außerdem Aufgaben gestellt, die mit dem eigentlichen Problem gar nichts zu tun haben - so wird das Mädchen, das seine Aggressionen an der kleinen Schwester auslässt, dazu angehalten, zuvor in ihrem Zimmer versteckte Haargummis zu suchen und in ihrem Korb zu sammeln, weil Suchen laut der ausgebildeten Hundetrainerin das "Erkundungsverhalten" fördere. Außerdem führt Frau Verebes ein sogenanntes "Markerwort" ein, bei dessen Erwähnung das Mädchen seine Tätigkeit sofort unterbrechen und zur Mutter schauen soll. Zusätzlich wird das Kind auch noch mit Leckerlis belohnt - zum Glück allerdings mit Obst und nicht mit Hundekuchen, aber so etwas kann, wenn es ganz blöd kommt, zu Essstörungen führen. Man wartet eigentlich nur noch darauf, dass den Kindern Befehle wie "Sitz!", "Hol's!" und "Pfui!" zugerufen werden.

Der Witz dabei ist, dass diese Sendung keine neue Erfindung von RTL ist - dasselbe Format gab es bereits im Sommer 2019 auf dem britischen Fernsehsender Channel 4. Schon damals gab es heftige Kritik und eine Petition gegen die Ausstrahlung der Sendung - dasselbe geschah auch bezüglich des RTL-Formats. Wie in Deutschland, so wurde auch in Großbritannien nur die Pilotfolge ausgestrahlt - zu groß war der Druck der Öffentlichkeit auf die Sender. RTL war das alles bewusst - trotzdem kauften sie die Sendung ein, weil sie die Idee als "interessant" und "erzählenswert" klassifizierten. Ebenso ist dem Sender der fehlende wissenschaftliche Rückhalt der Klicker-Methode in Bezug auf Kinder bekannt. Auch Frau Verebes war sich der Kontroverse bewusst, wurde sogar von ihrer britischen Hundetrainer-Kollegin davor gewarnt - und erdreistete sich sogar, sich selbst diesbezüglich mit Herrn Dr. Drosten zu vergleichen. Was den ominösen Herrn Dr. Hüllemann betrifft, so hat auch er sich bisher nicht öffentlich von der Methode distanziert - und das, obwohl er den Klicker auf seinem Blog eher nicht befürwortet.

Die Intention der Sendung ist also relativ leicht zu durchschauen - RTL will bloßstellen und provozieren, um auf diese Weise Zuschauer zu generieren. Und missachtet dabei komplett die Menschenwürde. Das ist eine völlig andere Dimension als etwa Konzepte wie das Dschungelcamp, wo ausschließlich erwachsene Menschen mitmachen, die für die Wirkung ihres Tuns in vollem Umfang die Verantwortung tragen. Hier geht es um kleine Kinder, die einem Millionenpublikum vorgeführt werden, weil sie sich nicht wehren können. Was die Eltern betrifft, so kann ich über deren Intention nicht urteilen - möglicherweise sind sie selbst Opfer leerer Versprechungen. Aber meines Erachtens grenzt das Filmen von Kindern in ihren privatesten und intimsten Momenten an seelischer Misshandlung. Einen Aspekt sollten wir aber aus gutem Grund nicht vergessen: Es reicht nicht aus, selbst Kinder zu haben, um professionelle Erziehungshilfe zu leisten. Es gibt einen Grund, warum es einer umfassenden Ausbildung und praxisnaher Erfahrung bedarf, um sich Sozialarbeiter, Therapeut, Pädagoge, Innen und alle dazwischen oder sowas in der Richtung zu nennen: Diese Berufsgruppe trägt unheimlich viel Verantwortung - und muss sich bewusst sein, dass sie bei unprofessionellem Vorgehen großen Schaden anrichten kann, der häufig nicht wiedergutzumachen ist. Darüber hinaus stützt man sich in der sozialen Arbeit nicht auf eine einzige, "allgemeingültige" Methode, sondern sind mit einer Vielzahl an unterschiedlichen Methoden vertraut, weil kein Mensch wie der andere ist. So etwas kann eine Hundetrainerin nun einmal nicht leisten. Eine Hundetrainerin zu konsultieren, um Probleme mit seinem Kind zu bewältigen, ist in etwa so, als würde ich den Arzt rufen, weil mein Klo verstopft ist. Und eines noch: Soziale Konflikte sind häufig sehr spannend - ja, das stimmt, und das verstehe ich auch. Mir geht es ja mehr oder weniger genauso. Man sollte sich aber immer vor Augen halten, dass diesen häufig Schicksale zugrunde liegen, die nicht für das Auge der Öffentlichkeit bestimmt sind.

vousvoyez

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