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Was auffällt, ist, dass mache dieser Wandersagen eine moralische Komponente enthalten - ähnlich wie die altbekannten Märchen, nur mit dem Unterschied, dass Letztere keinen Anspruch auf Wahrhaftigkeit haben. Häufig geht es allerdings auch um menschliche Gefühle wie Scham oder Ängste, beispielsweise in der Geschichte mit dem toten Kaninchen. Diese kursiert schon seit Jahrzehnten in mehreren Ländern, und wie bei anderen, so gibt es auch bei dieser mehrere Varianten. Wie immer geht es um die Bekannten der Nachbarn des Kollegen eines Freundes - bei diesen fand dereinst eine Gartenparty statt. Während der Feier tauchte plötzlich der Hund des Hauses mit einem feuchten, erdverschmierten toten Kaninchen im Maul auf - jemand aus der Familie, welche das Haus mit zugehörigem Garten bewohnte, erkannte darin das Karnickel der Nachbarn. Um nicht deren Ärger auf sich zu ziehen, wusch man das Tier mit Shampoo und Seife, föhnte das Fell, kämmte es, schlich auf das Grundstück der Nachbarn und legte den geföhnten Kadaver wieder in seinen Käfig. Tags darauf traf man dann einen der Nachbarn, der ganz aufgeregt erzählte, dass vor zwei Tagen sein geliebtes Karnickel verstorben sei - man habe dem Tier ein würdiges Begräbnis im Garten beschert, und heute habe man es sauber und geföhnt wieder in seinem Käfig gefunden und verstehe die Welt nicht mehr. Die Basis der Geschichte ist immer dieselbe, nur der Ort und die Rahmenhandlung variiert, ebenso wie die handelnden Personen. Die Moral ist offensichtlich: Sag immer die Wahrheit, auch wenn sie noch so unangenehm ist - denn jeder Versuch, sie zu vertuschen, kann peinlich enden. Diese Geschichte fand übrigens bereits Verwendung in einem Spielfilm, nämlich Nach Fünf im Urwald von 1996 mit der jungen Franka Potente in der Hauptrolle.
Da viele Wandersagen vor irgendetwas warnen sollen, nennt man sie häufig auch "Warnsagen". Einige Beispiele habe ich ja in älteren Artikeln schon genannt, etwa die Geschichte mit dem Auto, das Kinder entführt oder die mit der Spritze, die AIDS übertragen soll. Gerade die Angst um Kinder und Jugendliche wird immer wieder zur Verbreitung dieser Warnsagen genutzt. Eine Geschichte, die mit einem verschwundenen Kind zu tun hat, existiert etwa schon seit mehreren Jahrhunderten: Ursprünglich handelte es davon, dass eine Hochzeits- oder sonst irgendeine Partygesellschaft mit dem Pferdeschlitten oder Pferdewagen nach Hause fährt. Bei ihnen befindet sich auch ein kleines Kind, und die Leute sind schon so angesäuselt, dass sie nicht bemerken, dass das Kind irgendwann vom Gefährt fällt. Am nächsten Tag stellt sich heraus, dass dem Kind irgendetwas Schlimmes passiert ist, etwa dass Raben ihm die Augen ausgehackt haben. Diese Geschichte findet sich heute wieder in den Märchen von den verschwundenen Kindern bei IKEA - jene sind so zahlreich, dass die Möbelhauskette bereits vor zwanzig Jahren eine Anzeige dagegen geschaltet hatte. Auch hier ist der Kern der Sage immer derselbe: Ein Kind verschwindet bei IKEA und wird einige Stunden später auf einer Toilette der Filiale wieder gefunden - völlig verstört und mit gefärbten oder gar abrasierten Haaren. Ähnliche Geschichten kursieren übrigens auch über Vergnügungsparks wie etwa Disneyland oder Legoland. Immer wird das Kind buchstäblich im letzten Moment gefunden, ehe es entführt werden kann - denn das Färben oder Abrasieren der Haare soll verhindern, dass es wiedererkannt wird. Das erinnert natürlich an die Kettenbriefe auf Social Media, die buchstäblich seit es Social Media gibt in regelmäßigen Abständen dort kursieren und die ebenso regelmäßig von Faktenchecker-Seiten wie mimikama oder correctiv widerlegt werden: Kettenbriefe, die vor einem unauffälligen weißen Lieferwagen warnen, der Kinder vor Schulen ansprechen und entführen soll. Wie viele, so eignet sich natürlich auch diese Geschichte hervorragend dazu, politisch instrumentalisiert zu werden, etwa von Rechtsgestrickten und QAnon-Gläubigen. Möglicherweise wurden auch Elemente aus einer wahren Entführungsgeschichte transferiert - nämlich jener von Natascha Kampusch, die bekanntlich als Zehnjährige von einem Mann in einem weißen Kastenwagen mit getönten Scheiben entführt worden war. In eine ähnliche Richtung geht auch die Geschichte über den amerikanischen Online-Shop Wayfair, die voriges Jahr auf Twitter und Reddit verbreitet wurde: Hintergrund dieser Geschichte ist, dass damals Leute im Online-Katalog Möbel mit absurd hohen Preisen entdeckt haben - offenbar ein Fehler der Website. Da die Produkte überdies auch noch größtenteils weibliche Vornamen trugen, vergleichbar etwa mit dem beliebten Billy-Regal von IKEA, entstand sehr bald die Phantasie, hier würden in Wirklichkeit keine Möbel angepriesen, sondern es finde versteckter Kinderhandel statt. Denn selbstverständlich würde niemals jemand derart hochpreisige Möbel kaufen - es sei denn, er sei "eingeweiht" und wüsste, dass es sich bei den angepriesenen "Waren" in Wirklichkeit um Kinder handle, die hier "verkauft" werden sollten. Sofort wurden natürlich überall "Beweise" gesichtet - so wollte man herausgefunden haben, dass Wayfair-Standorte sich häufig in der Nähe von Abschiebezentren von Kindern befänden, außerdem hätte Wayfair angeblich Verbindung zu Personen, die im Zusammenhang mit der QAnon-Geschichte gerne einmal grausamer Taten bezichtigt werden, wie etwa Hillary Clinton, George Soros oder Tom Hanks. Außerdem gab man die Artikelnummern in der russischen Suchmaschine Yandex ein, die daraufhin auf Datenbanken mit Bildern vermisster junger Mädchen verwies. Das Ding ist halt - dasselbe Ergebnis kam auch nach der Eingabe beliebiger Nummernkombinationen heraus. Die Geschichte blieb natürlich nicht in den USA, sondern fand ihren Weg über den Atlantik und findet heute vor allem in der Türkei noch größeren Anklang. Natürlich erinnert es an die Pizzagate-Geschichte, die mit einem bewaffneten Überfall auf eine Pizzeria endete. Wie ihr euch vielleicht erinnert, habe ich außerdem in einem anderen Beitrag die polnische Geschichte vom schwarzen Wolga erzählt, die ja ähnlich ist wie die vom weißen Lieferwagen.
Eine weitere Geschichte, die bereits seit mehr als einem Jahrhundert kursiert, ist die des verschwundenen Anhalters, die übrigens bereits in den 1940er Jahren im angelsächsischen Raum erforscht wurde und die auch in der Serie Supernatural verarbeitet wurde. Die Rede ist von einem Mann, der mit dem Auto auf einer einsamen Waldstraße unterwegs ist; plötzlich taucht eine Gestalt auf und möchte mitgenommen werden. Meist handelt es sich um eine sehr junge Frau, häufig trägt sie ein weißes Kleid. Der Fahrer lässt sie einsteigen; sie nennt daraufhin eine Adresse, an der sie abgesetzt werden will. Als sie ihr Ziel erreicht haben, bemerkt der Fahrer, dass die Person verschwunden ist - manchmal spurlos, manchmal lässt sie aber auch eine Jacke oder so was Ähnliches zurück. Neugierig geworden, geht der Fahrer zu dem Haus, das die junge Frau angegeben hat, und klingelt an der Tür, die von einer Person oder einem Ehepaar geöffnet wird - als der Fahrer sich nach der Anhalterin erkundigt, erwidern die Angesprochenen dann, dass es sich bei der gesuchten Person um ihre Tochter handle, die allerdings vor mehreren Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen sei. Teilweise fügen sie auch noch hinzu, dass sie jedes Jahr an ihrem Todestag versuche, nach Hause zu kommen. Manchmal kommt der Fahrer allerdings nicht in eine Wohngegend, sondern zu einem Friedhof, wird aber zuvor von dem Anhalter bzw. der Anhalterin noch um einen Gegenstand gebeten, etwa eine Jacke oder einen Mantel. Meist findet der Fahrer diesen Gegenstand dann auf einem der Gräber wieder, in dem die Person, die er soeben mitgenommen hat, bereits seit längerer Zeit begraben ist. In anderen Fällen verschwindet der Anhalter auch bereits auf halber Strecke - nachdem er dem Fahrer zuvor einen wertvollen Tipp gegeben hat, etwa bei familiären oder Beziehungsproblemen. Eine seltenere Version erzählt, dass es sich bei dem Anhalter um eine lokale Gottheit handle, die den Fahrer dafür belohnt, dass er ihn mitgenommen hat. In älteren Versionen wird der Anhalter nicht im Auto, sondern in der Kutsche oder auf dem Pferd mitgenommen - ihr seht also, dass diese Sage wirklich schon uralt ist. Wer meinen Blog schon länger verfolgt, wird sich auch sicherlich noch an die Geschichte von der Schwarzen Frau im Pinzgau erinnern.
Eine Sage, die durch ein gleichnamiges Buch berühmt wurde, ist die von einer Frau, die eine Yucca-Palme kauft oder geschenkt bekommt. Als sie die Pflanze wässert, hört sie ein seltsames Geräusch aus dem Blumentopf, und da ihr das unheimlich vorkommt, ruft sie die Polizei, die ihr rät, sich von der Palme fernzuhalten. Irgendwann tauchen dann Polizisten in Schutzanzügen auf - hinterher erfährt die Frau, dass sich im Topf der Yucca-Palme eine exotische Spinnenfamilie, meist Taranteln oder Vogelspinnen, eingenistet hätte. Nun ist erwiesen, dass der Biss dieser Spinnen nur in den seltensten Fällen tödlich ist - auch wenn ein allergischer Schock oder eine Infektion, die durch die Beißwerkzeuge der Tiere hervorgerufen wird, durchaus gesundheitliche Risiken bergen können. Im 14. und 15. Jahrhundert glaubte man, der Biss der Apulischen Tarantel sei verantwortlich für ein Phänomen, das als "Tanzwut", damals auch als "Veitstanz", bekannt ist und bei dem große Gruppen von Menschen bis zum Zusammenbruch tanzten; diese Behauptung ist allerdings schon längst widerlegt. Was jedoch ab und zu tatsächlich vorkommen kann, ist, dass die brasilianische Wanderspinne, auch Phoneutria genannt, vereinzelt in Bananenkisten ihren Weg nach Übersee und in europäische Supermärkte findet. Da diese Spinnenart tatsächlich ziemlich aggressiv und zudem hochgiftig ist, mussten nach ihrer Entdeckung in Bananenkisten tatsächlich bereits Supermärkte geschlossen werden, um die Tiere möglichst risikofrei entfernen zu können. Manchmal verirren sich jedoch auch Fischerspinnen oder Riesenkrabbenspinnen in Bananenkisten - diese sind im Gegensatz zur Phoneutria allerdings für Menschen harmlos. Da sich diese Spinnenarten jedoch ähneln und auch für europäische Verhältnisse beängstigend groß sind, werden sie häufig auch unter dem Begriff "Bananenspinne" zusammengefasst. Ich bin ja, was Insekten, Spinnen, Raupen, Würmer und anderes Kleingetier betrifft, noch verhältnismäßig schmerzfrei - ich habe in Westafrika einen Nachmittag lang eine hübsche schwarz-gelb gemusterte Spinne auf meiner Hand herumkriechen lassen, eine Wohnung voller erwachsener Männer vor einem verängstigten Weberknecht gerettet und einen gesamten Kohlkopf-Bestand auf Raupenbefall untersucht -, aber ich muss zugeben, würde mir unvermutet so ein Riesenvieh entgegenkrabbeln, würde ich mich genauso erschrecken.
Ein Gerücht, das immer noch häufig erzählt und auch geglaubt wird, weil man es immer von Leuten gehört hat, die "absolut verlässlich" sind, ist tatsächlich in vielen Gegenden zu einem ernsthaften Problem geworden - so sehr, dass sogar schon Belohnungen ausgesetzt wurden für denjenigen, der einen Beweis dafür liefern kann, dass es stimmt. Meist sind es Paare, die das erlebt haben wollen - man leistete sich ein gemeinsames Essen in einem renommierten Haubenrestaurant, und wie es halt so ist, wenn man sich was Besonderes gönnt, hat der eine vom Teller des anderen probiert. Als es dann ans Bezahlen ging und die Gäste die Rechnung bekamen, befand sich am unteren Ende des Zettels ein dezenter Hinweis: "Bitte beehren Sie uns nie wieder." Angeblich, weil es in der feinen Gesellschaft ein Fauxpas sei, sich am Teller des anderen zu bedienen. Meist sind es Restaurants mit einer hohen Medienöffentlichkeit, etwa von Schuhbeck oder Erfort, in denen das passiert sein soll. Nun, ich bin vielleicht nicht reich, aber ich habe durchaus auch schon gehobene Küche gespeist, und ich kann versichern: Es gibt kein ungeschriebenes Gesetz, das es verbietet, vom Teller eines anderen zu kosten, und kein Restaurant würde sich erlauben, auf diese Weise seine Gäste zu vergraulen, weil es ansonsten bald keine mehr hätte. Etliche Gastronomen bemühen sich bereits seit Jahrzehnten, zu versichern, dass es sich hierbei um eine erfundene Geschichte handelt, und sind trotzdem immer wieder mal mit wütenden Mails konfrontiert, die diese Ungeheuerlichkeit anprangern. Deswegen möchte ich euch an dieser Stelle warnen: Solche Dinge zu verbreiten, für die man keine Beweise hat, ist für Gastronomen nicht nur lästig, es ist schlicht und einfach rufschädigend. Wir leben im Handy-Zeitalter - sollte wirklich einmal der unwahrscheinliche Fall eintreten, dass ihr eine solche Rechnung erhaltet, macht ein Foto davon und wendet euch damit an die Öffentlichkeit. Sagt das auch all jenen, die so etwas behaupten. Warum jemand solche Geschichten verbreitet, ist nicht immer so leicht zu beantworten - möglicherweise ist es Eifersucht auf diese Etepetete-Gesellschaft sowie das Bedürfnis, sich an dieser zu rächen. Ähnlich ist es wohl auch bei Hollywoodstars, die Kinderblut trinken sollen, oder bei der Geschichte mit dem schwarzen Wolga, den sich damals nur die wenigsten leisten konnten. Übrigens wurde der schwarze Wolga in den 1990er Jahren zu einem schwarzen BMW, und im erzkatholischen Polen gehörte dieser selbstverständlich Satan persönlich - oder auch der russischen Mafia.
Eine Wandersage, die in der DDR und der Sowjetunion sehr häufig erzählt wurde, lässt sich bis ins Dritte Reich zurückverfolgen und hängt mit Ausfällen der Kartoffelernte zusammen. Als diese nämlich 1950 zu einem großen Teil durch Kartoffelkäfer vernichtet wurde, setzte man das Gerücht in die Welt, dass dies die Schuld der Amerikaner sei - diese hätten die Käfer nämlich aus Flugzeugen abgeworfen, um die Ernte zu vernichten und auf diese Weise das kommunistische Paradies zu diskreditieren und die Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen. Jede Gemeinde wurde daraufhin verpflichtet, Leute zu stellen, die sich am Einsammeln der Kartoffelkäfer beteiligten und so eine noch größere Verbreitung verhinderten. Tatsächlich gab es schon im Ersten Weltkrieg die Idee, Kartoffelkäfer als Biowaffe einzusetzen - man ließ jedoch davon ab, da man fürchtete, dass die Schädlinge auch die eigene Ernte vernichten könnten. Später vermutete man, dass es vor allem der Mangel an geeigneten Schädlingsbekämpfungsmitteln und die nachkriegsbedingte Desorganisation die Zunahme der Käferpopulation begünstigte - ebenso wie die Witterung, die zu dieser Zeit herrschte.
Wie ihr also seht, gehen mir die Geschichten nach wie vor nicht aus - und auch diesmal sind es wieder genug, dass ich in absehbarer Zeit noch mehr davon erzählen kann. Einstweilen möchte ich euch eine gute Zeit wünschen und freue mich auf ein baldiges Wiederlesen, oder wie man so sagt. Bleibt mir schön brav, erzählt keine abstrusen Geschichten weiter und geht nicht bei Rot über die Straße. Bon voyage!
vousvoyez