Samstag, 20. Juni 2020

Ich kann die Komplexität meiner Gedanken nur in Emojis ausdrücken

Das Problem gesammelter und wöchentlich veröffentlichter Weisheiten ist, dass man oft vergisst, wer der Urheber ist. So geht es mir auch mit dieser hier - ich meine aber, dass sie aus der einst so beliebten und bis zum Erbrechen wiederholten Fernsehserie How I Met Your Mother stammt. Emoticons bzw. Emojis haben die schriftliche Kommunikation bekanntlich revolutioniert - als die SMS aufkamen, wurden sie in der ASCII-Zeichenkombination verwendet, mit der Zeit hatten aber immer mehr digitale Plattformen eigene Emojis zur Verfügung, so dass man heute eher selten mit solchen Kombinationen :-) arbeitet, die man nur erkennen kann, wenn man den Kopf auf die linke Schulter legt. Im Großen und Ganzen sind sie aber aktuell die gängigste Möglichkeit, Botschaften zu kommunizieren, die über den schriftlichen Inhalt hinausgehen - bekanntlich ist es ja bei der schriftlichen Form des zwischenmenschlichen Austauschs kaum möglich, nonverbale Botschaften zu vermitteln.

Emojis haben sich so sehr in der digitalen Kommunikation etabliert, dass vor drei Jahren sogar ein Animationsfilm in die Kinos kam, der von ihnen handelte. Wie ich schon häufiger ausgeführt habe, sind digitale Animationsfilme aktuell weitaus gefragter als die handgezeichneten. Wobei Disney jetzt zur Abwechslung mal nicht ein Remake nach dem anderen raushauen kann, weil die Filmindustrie aktuell mehr oder weniger stillgelegt ist - wer hätte das gedacht. Aber mit ihrer neuen Streaming-Plattform Disney + werden sie wohl genug Geld scheffeln, um auch diese Krise einigermaßen glimpflich zu überstehen. Ob ich mich darüber freuen kann, weiß ich nicht - wie ihr wisst, bin ich mit Disney-Filmen aufgewachsen, und es gibt sehr viele, die ich auch heute immer noch sehr gern sehe, aber wenn ich merke, wie dieser Multikonzern nahezu alles andere schluckt, bekomme ich, ehrlich gesagt, ein etwas mulmiges Gefühl. Trotzdem kommt bekanntlich schon seit mehr als achtzig Jahren kein Kind mehr an den Disney-Filmen vorbei. Wobei wir natürlich wissen, dass die abendfüllenden Disney-Filme auf ältere Vorlagen zurückgreifen und zum großen Teil auch stark verändert und teilweise auch entschärft wurden. Und dem will ich mich heute widmen.

Zu den Vorlagen, die für diese Filme verwendet werden, zählen etwa Klassiker der Kinderliteratur oder auch Märchen und Sagen. Und natürlich dürfen da die Märchen der Gebrüder Grimm nicht fehlen. Jacob und Wilhelm Grimm waren zwei deutsche Sprachwissenschaftler und Volkskundler, die im frühen 19. Jahrhundert nach alten Volksliedern für die Volksliedersammlung Des Knaben Wunderhorn suchten, die von Achim von Arnim und Clemens Brentano herausgegeben wurde. Dabei trugen sie auch alte Volksmärchen, mündlich tradierte Erzählungen und literarische Exzerpte zusammen, aus denen in Folge die berühmten von ihnen selbst herausgegebenen Kinder- und Hausmärchen entstanden, die bis heute zum Kanon der Kinderliteratur zählen, auch wenn sie ursprünglich nicht speziell für Kinder gedacht waren. Was auch erklärt, warum so viele von ihnen so unglaublich brutal sind; zudem werden etwa das antiquierte Frauenbild und die antisemitischen Stereotype, die in vielen dieser Geschichten transportiert werden, heutzutage durchaus kritisch betrachtet. Abgesehen davon sind viele dieser Märchen den allermeisten Menschen zwar bekannt, allerdings eher selten in der Originalform. Die vier Grimm-Märchen, die von Disney verfilmt wurden, sind beispielsweise in dessen Version bekannter. Ich denke, viele werden sich wundern, wenn sie erfahren, wie sehr sie in der Zeichentrick-Variante verändert und sogar entschärft wurden.

Schon der älteste Disney-Langfilm, Schneewittchen und die sieben Zwerge aus dem Jahr 1937 unter der Regie von David D. Hand, geht auf ein Grimm-Märchen gleichen Namens zurück - wobei dieses in den Kinder- und Hausmärchen lediglich als Schneewittchen angeführt ist. Von diesem Märchen sind in unterschiedlichen Kulturen verschiedene ältere Varianten bekannt; der älteste schriftliche Beleg ist in der Sammlung des Schriftstellers, Philologen und Literaturkritikers Johann Karl August Musäus unter dem Titel Richilde zu finden. In der Erstausgabe der Grimm-Märchen trug das Märchen noch den Titel Schneeweißchen, der jedoch wahrscheinlich später geändert wurde, um ihn von der Geschichte Schneeweißchen und Rosenrot zu unterscheiden. Unter dem Titel Schneeweißchen findet sich die Geschichte auch in Ludwig Bechsteins Deutschem Märchenbuch wieder. Die Filmversion von Disney weicht in einigen Punkten von der Volksmärchen-Version ab - so bringt der Jäger der bösen Königin nicht das Herz eines Schweines, sondern Lunge und Leber eines Frischlings. Und diese bewahrt sie nicht in einer Schatulle auf, sondern lässt sie kochen und verspeist sie dann in dem Glauben, die äße die Innereien Schneewittchens. Überdies ist Kannibalismus ein beliebtes Motiv in den Grimm-Märchen. Außerdem wird Schneewittchen, als sie bei den Zwergen lebt, nicht nur einmal, sondern gleich dreimal von der bösen Königin aufgesucht in der Absicht, sie zu ermorden - beim ersten Mal stranguliert sie sie mit einem Gürtel, beim zweiten Mal steckt sie ihr einen vergifteten Kamm ins Haar, beim dritten Mal teilt sie sich mit ihr einen Apfel, wobei sie ihr die giftige Hälfte gibt und selbst die ungiftige verzehrt. Wobei die Disney-Version mit dem unheimlichen Wald und der gemeinen Königin, die sich in eine furchterregende Märchenhexe verwandelt, ebenfalls das eine oder andere Kind in Angst und Schrecken versetzen kann. Ich war zum Glück nicht mehr ganz so klein, als ich den Film zum ersten Mal gesehen habe. Zudem wird Schneewittchen am Ende nicht vom Prinzen wachgeküsst - ihr rutscht das vergiftete Apfelstück aus dem Hals, als die Zwerge, während sie ihren gläsernen Sarg transportieren, über eine Wurzel stolpern, woraufhin sie ins Leben zurückfindet.

Die zweite Adaption eines Grimm-Märchens ist Cinderella aus dem Jahr 1950 unter der Regie von Clyde Geronimi, Wilfried Jackson und Hamilton Luske. Sie geht auf das Märchen Aschenputtel zurück, von dem eine ältere Version auch in den Histoires ou Contes du temps passé (Geschichten oder Erzählungen aus alter Zeit), einer Märchensammlung des französischen Schriftstellers Charles Perrault, zu finden ist, unter dem Titel Aschenputtel oder Der gläserne Schuh (Cendrillon ou la Petite Pantoufle de verre). Eine neuere Version ist unter dem Titel Aschenbrödel bei Bechstein angeführt. Die Disney-Version ist näher an der Fassung von Perrault als an der der Gebrüder Grimm - beispielsweise verliert Cinderella nicht, wie im Grimm-Märchen, einen goldenen, sondern einen gläsernen Schuh, und sie schüttelt das schöne Kleid und die Schuhe nicht von einem kleinen Baum auf dem Grab ihrer Mutter, sondern erhält diese von einer guten Fee. Auch das Motiv des von Mäusen gezogenen Kürbis, der in eine von Pferden gezogene Kutsche verwandelt wird, stammt aus dem Perrault-Märchen. Aber auch von seiner Fassung gibt es Abweichungen - Cinderella tanzt nicht drei Abende hintereinander, sondern nur an einem Abend mit dem Prinzen, ehe sie den gläsernen Schuh verliert, der sie letztendlich identifiziert. Und die doch ziemlich verstörende Episode mit den beiden bösen Stiefschwestern, die sich Zehen bzw. die Ferse abschneiden, um in den Schuh zu passen, fehlt gänzlich - allerdings hat auch Bechstein sie bereits ausgelassen.

Das dritte von Disney verfilmte Grimm-Märchen ist Dornröschen aus dem Jahr 1959 von Clyde Gernomimi, Les Clark, Eric Larson und Wolfgang Reithermann. Allerdings ist auch dieser Film der Version von Perrault, Die schlafende Schöne im Walde (La Belle au Bois dormant) näher als der deutschen, weshalb die Prinzessin auch den Namen Aurora trägt. Das erkennt man auch am Soundtrack, der aus der Musik von Pjotr Iljitsch Tschaikowskis Dornröschen besteht, dessen Handlung sich seinerseits an Perraults Version anlehnt. Ebenfalls bemerkenswert ist der für einen Disney-Film ungewöhnlich kantige Zeichenstil Eyvind Earles, der von der mittelalterlichen Architektur und Malerei inspiriert ist und sowohl Elemente der Gotik als auch der Renaissance enthält. Wie bei Perrault, so fehlt auch in diesem Film das Motiv der zwölf goldenen Teller, die daran schuld sind, dass nicht alle dreizehn Feen zu Dornröschens Taufe eingeladen werden. Auch die Freier, die in der Dornenhecke vor dem Schloss verbluten, kommen im Film nicht vor, auch wenn sie sowohl bei Perrault als auch bei den Gebrüdern Grimm erwähnt werden. Der zweite Teil der Perrault-Version kommt jedoch weder bei Grimm noch im Film vor - hier verheimlicht der Prinz nämlich die Hochzeit mit Dornröschen, und als er in den Krieg zieht, befiehlt seine Mutter, seine Ehefrau und die beiden Kinder, die sie inzwischen hat, töten und ihr als Mahlzeit anrichten zu lassen. Der Haushofmeister täuscht sie jedoch, und am Ende muss die böse Mutter sich selbst richten. Doch selbst Perraults Adaption ist schon erheblich geglättet - von der neapoletanischen Version Sonne, Mond und Thalia (Sole, Luna e Talia) aus Giambattista Basiles Sammlung Pentameron, in der die Prinzessin nicht wachgeküsst, sondern vergewaltigt wird, habe ich bereits an anderer Stelle berichtet.

Das vierte Grimm-Märchen wurde 2010 unter dem Namen Rapunzel - neu verföhnt von Disney adaptiert. Dieser Film orientiert sich optisch sehr am Stil der Rokoko-Malerei - die Vorlagen sind handgezeichnet, das Endergebnis präsentiert sich aber in zeitgemäßer 3D-Computeranimation. In dem Film fehlt die Episode, die der Titelfigur ihren Namen verleiht, nämlich den Heißhunger ihrer schwangeren Mutter auf Rapunzeln - hierbei ist wohl das gemeint, was gemeinhin als Feldsalat, bei uns in Österreich auch als Vogerlsalat bekannt ist -, die im Garten der Nachbarin, einer bösen Zauberin, wachsen. Außerdem hat Rapunzel ihr ungewöhnlich langes Haar nicht, wie im Film, durch einen Zaubertrank, den ihre Mutter in der Schwangerschaft eingenommen hat, sondern offenbar deswegen, weil es nie geschnitten wird. Auch das Motiv des In-den-Turm-Kletterns der bösen Zauberin und später des Prinzen an Rapunzels Haaren fehlt im Film, und auch sonst weicht er stark von der literarischen Vorlage ab. Wie Dornröschen, so hat auch Rapunzel eine ältere Version in Basiles Pentameron unter dem Titel Petrosinella. Hier wird die Titelfigur jedoch nicht nach dem Vogerlsalat, sondern nach der Petersilie benannt ("Petrosinella" bedeutet in etwa "Petersilchen"). Aber auch sie wird von einer bösen Hexe entführt und in einen Turm gesperrt, in den sie und später auch der Prinz nur hineinkommen kann, indem sie an Petrosinellas Haar hinaufklettern. Was muss das Mädel doch für eine robuste Kopfhaut gehabt haben, dass es dabei nicht skalpiert wurde!

Natürlich sind Grimm-Märchen, wie schon eingangs erwähnt, nicht die einzige Quelle für die beliebten Kinderfilme. So gibt es Verfilmungen beliebter Kinderbücher, wie etwa Pinocchio, Bambi oder Alice im Wunderland, Adaptionen von Sagen und Legenden wie Die Hexe und der Zauberer, Robin Hood und Hercules, und Arielle, die Meerjungfrau  und Die Eiskönigin sowie auch der Kurzfilm Das hässliche Entlein finden ihren Ursprung in den Märchen von Hans-Christian Andersen. Wobei den Andersen-Märchen in den Filmversionen einiges von ihrer Schwere und Melancholie genommen wurde. Ich denke, ich werde mich öfter mal auf die Spuren der Vorlagen der Disney-Filme begeben, denn ich finde es tatsächlich sehr spannend, und es macht Spaß, dafür Recherche zu betreiben. Inzwischen hoffe ich, dass ihr alle brav bleibt und gut auf euch aufpasst. Wir sehen uns bei der nächsten Gelegenheit wieder. Bon voyage!

vousvoyez

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