Donnerstag, 14. Januar 2021

Die Erde war früher ein Würfel, bis besorgte Eltern die Ecken abgerundet haben

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Wieder einmal ein Satz, den ich von einem Kabarettisten "gemopst" habe - in diesem Fall war es Gery Seidl. Ich finde, dass diese Weisheit auf charmante Art und Weise zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt - einerseits greift er satirisch die eigentlich völlig überflüssige Debatte nach dem Aussehen des Planeten Erde auf, andererseits das in unserer heutigen Zeit sehr präsente Thema unterschiedlicher Erziehungsstile. Und tatsächlich wachsen Kinder heutzutage - auch unabhängig von der aktuellen Gesundheitskrise - in vieler Hinsicht anders auf als meine Generation oder die davor. Beispielsweise werden, wie ich schon häufiger angeführt habe, sehr ausufernde Debatten darüber geführt, was man seinen Kindern heutzutage an Filmen und Serien überhaupt noch zeigen darf und was nicht. Und ich denke, ihr ahnt es schon - es geht wieder einmal um mein Lieblingsthema. Ich möchte fortsetzen, was ich im letzten Jahr angefangen habe und was, wie ich bemerke, sehr gut anzukommen scheint - ich möchte wieder einmal über die Hintergründe der Disney-Klassiker sprechen.

Es gibt einen Film, den ich aus zwei Gründen noch nicht behandelt habe - erstens war es nicht so leicht, etwas über die Ursprungsgeschichte herauszufinden, zweitens muss ich zugeben, dass dieser Film mich als Kind weitaus mehr getriggert hat als das als so verstörend dargestellte Bambi. Die Rede ist von Dumbo, dem vierten abendfüllenden Zeichentrickfilm der Disney-Studios unter der Regie von Ben Sharpsteen, der 1941 in die Kinos kam. Ich liebe Elefanten, aber obgleich dieser Film gut ausgeht, finde ich bis heute, dass es kaum einen gibt, der trauriger ist - ein Elefantenkind, dessen einziger "Makel" darin besteht, das es zu große Ohren hat, wird deswegen gehänselt, verspottet und ausgegrenzt, und nicht nur das - als seine Mutter genau das tut, was jede Mutter tun würde, die noch alle Tassen im Schrank hat, nämlich ihr Kind zu verteidigen, landet sie hinter Gittern. Bis heute ist für mich die Szene, in der Dumbos Mutter versucht, ihren Sohn durch die Gitterstäbe hindurch zu trösten, eine der schmerzlichsten Filmszenen überhaupt. Ich glaube, dass Dumbo einen Grundstein dafür gelegt hat, dass ich bis heute ein gestörtes Verhältnis zum Zirkus habe - neben jenem Nachmittag, als ich im Alter von etwa acht Jahren mit einer befreundeten Familie im Zirkus war und dort Löwen auftraten, denen man die Zähne gezogen hatte und die die Gesichter tieftrauriger alter Männer hatten. Aber auch negative Film-Erlebnisse gehören nun mal dazu. Und deswegen möchte ich hier das anführen, was mir meine Mutter vor Jahren erklärt hat: Es ist wichtig, dass Kinderfilme gut ausgehen, weil man damit zeigt, dass es nicht nur Probleme, sondern auch Lösungen gibt. Dass ich die Originalgeschichte doch noch gefunden habe, verdanke ich übrigens wieder einmal dem Buchperlenblog.

Die Vorlage für den Film ist das Kinderbuch Dumbo, the Flying Elephant von dem Autoren-Ehepaar Helen Aberson und Harold Pearl und wurde von der Geschichte des afrikanischen Elefantenbullen Jumbo inspiriert, der in den 1860er Jahren als Jungtier von Abessinien nach Paris gelangte und ein paar Jahre später zur Hauptattraktion des Londoner Zoos wurde. 1882 wurde er an den amerikanischen Schausteller Phineas Taylor Barnum verkauft und in die USA verschifft, wo er Teil einer Wandermenagerie wurde. Drei Jahre später wurde Jumbo Opfer eines Zugunglücks in Ontario; bei einer Umladeaktion wurde er von der Lokomotive eines Güterzuges erfasst und starb. Barnum ließ das Tier präparieren und schenkte das Skelett dem American Museum of Natural History in New York. Der ausgestopfte Elefant war noch eine Weile Teil der Wandershow, ehe er 1889 einen dauerhaften Standort im Tufts College in Medford, Massachusetts in der sogenannten Barnum Hall fand. Diese fiel 1975 einem Brand zum Opfer - von dem Präparat blieb nur noch ein Stück des Schwanzes übrig, das bis heute im Tufts College aufbewahrt wird. Jumbo war schon zu Lebzeiten eine Legende - bedingt dadurch, dass afrikanische Elefanten zur damaligen Zeit in Europa in den USA äußerst selten waren. Ich denke, das liegt wohl daran, dass der afrikanische im Gegensatz zum asiatischen Elefanten kaum erziehbar ist - zudem sind afrikanische Elefantenbullen, sobald sie die Geschlechtsreife erreicht haben, in der Fortpflanzungsphase häufig aggressiv und unberechenbar. Nachdem Jumbo in Ontario von dem Zug erfasst worden war, erzählte Barnum, er sei gestorben, während er das Leben eines kleineren Elefanten gerettet habe, der zuvor auf die Gleise gelaufen war, und habe, bevor er starb, noch seinen Wärter mit dem Rüssel umarmt.

"Jumbo" ist eine Ableitung des Swahili-Wortes Jambo (Hallo), während "Dumbo" im Grunde genommen eine Verunglimpfung dieses Namens ist - es leitet sich vom englischen Wort dumb (dumm) ab. Sowohl das Buch als auch der Film beginnen damit, dass alle Tiere im Zirkus Junge bekommen - im Film werden die Jungen vom Klapperstorch gebracht (und nein, ich habe trotzdem nie an den Storch geglaubt), darunter auch der kleine Jumbo jr., der jedoch wegen seiner übergroßen Ohren von den anderen Elefanten bald nur noch "Dumbo" genannt wird. Aufgrund seiner Ohren wird der wehrlose kleine Elefant bald zur Lachnummer des Zirkus - als ein paar Kinder das Jungtier auslachen und an den Ohren zerren, werden diese von seiner Mutter angegriffen. Die Zoowärter sperren sie daraufhin in einen Käfig und machen ihren armen Sohn zum Darsteller einer Clowns-Show, woraufhin dieser endgültig aus der Gemeinschaft der Elefanten ausgeschlossen wird. Der einzige Freund, den Dumbo hat, ist im Buch das Rotkehlchen Red, während ihm im Film die Maus Timothy zur Seite steht. Mit ihrer Hilfe gelingt es dem unglücklichen Elefanten allmählich, aus seiner Not eine Tugend zu machen - er entdeckt, dass er mit seinen riesigen Ohren fliegen kann und wird zum Star des Zirkus, und am Ende wird auch seine Mutter wieder freigelassen. Auch von diesem Film gibt es bereits eine Realversion unter der Regie von Tim Burton, die ein wenig mehr an die heutigen Wertvorstellungen angepasst ist und die ich mir vielleicht, obwohl ich das sonst ja verweigere, tatsächlich einmal ansehen werde.

Die Originalgeschichte von Aberson und Pearl wurde 1939 herausgebracht, und zwar zunächst nicht als ein Buch, wie wir es kennen, sondern als sogenanntes "Roll-a-Book" - das man sich vielleicht wie die sehr vorsintflutliche Version einer Smartphone-YouTube-App vorstellen kann: Ein Kasten mit einer eingerollten Leinwand, die mittels einer Kurbel herausgedreht werden konnte, so dass man die Geschichte so ähnlich wie einen Film betrachten konnte. Leider scheint man diese Dinger nirgends mehr zu bekommen, jedenfalls habe ich vergeblich nach wenigstens einem Foto gesucht. Von der Print-Ausgabe existierten nur wenige Exemplare - bei allen Büchern, die nach der Verfilmung veröffentlicht wurden, wurden die Namen der ursprünglichen Autoren durch das Disney-Logo ersetzt. Aberson und Pearl hatten kein weiteres Mitspracherecht mehr an ihrer Geschichte - nicht der einzige Fall, bei dem Disney sich an der Kreativität anderer bereicherte. Was wohl auch der Grund ist, warum man so schwer an das Original herankommt. 1942 erhielt der Film einen Oscar in der Kategorie "Beste Filmmusik".

Der nächste Film, den ich heute besprechen möchte, könnte nicht gegensätzlicher zu dem vorhergehenden sein: The Great Mouse Detective (dt. Basil, der große Mäusedetektiv) aus dem Jahr 1986, bei dem John Musker, Ron Clements, Burny Mattinson und David Michener Regie führten, ist ebenso einfallsreich gestaltet, aber deutlich dynamischer und witziger - und darüber hinaus technisch äußerst innovativ. Für mich war und ist dieser Film ein absolutes Highlight unter den Disney-Erzeugnissen - allein schon wegen der Sherlock Holmes nachempfundenen Hauptfigur Basil und seinem Vertrauten Dr. Dawson (in der deutschen Ausgabe Dr. Wasdenn), dem Pendant zu Dr. Watson, dem bösen Antagonisten Professor Rattenzahn und seinem Gehilfen, der holzbeinigen Fledermaus Greifer. Dieser Film basiert auf der achtteiligen Kinderbuchreihe Basil of Baker Street (dt. Basil, der Mäusedetektiv) der amerikanischen Autorin Eve Titus, die hoffte, mit ihren Geschichten Kinder dazu zu ermutigen, später die berühmten Sherlock-Holmes-Romane des britischen Arztes und Schriftstellers Arthur Conan Doyle zu lesen. Entsprechend ist Basil auch eine Art Sherlock-Holmes-Geschichte mit Mäusen - sowohl die Bücher als auch der Film enthalten zahlreiche Anspielungen auf das berühmte Vorbild.

Die berühmte Sherlock-Holmes-Reihe umfasst vier Romane und 56 Kurzgeschichten, die von 1886 bis 1927 entstanden und von Edgar Allan Poes Geschichten um den französischen Detektiv Dupin inspiriert sind. Die Hauptfigur dieser Geschichten gilt bis heute als Prototyp des Privatdetektivs; ihre große Bekanntheit verdankt die Reihe vor allem durch die präzise Beschreibung der auf detailgenauer Beobachtung und nüchterner Schlussfolgerung basierenden forensischen Arbeitsmethode. Wie es heute bei fast allen Detektivgeschichten üblich ist, ist Holmes häufig die letzte Instanz, die dann ins Geschehen eingreift, wenn die Lösung eines Falls nahezu unmöglich erscheint. Da die Geschichten vor der Kulisse des viktorianischen London spielen, detailliert auf dieses Zeitalter eingehen und auch Ereignisse mit einfließen lassen, die zur damaligen Zeit aktuell waren, können sie der Tradition des literarischen Realismus zugerechnet werden. Sowohl die von Standesdünkeln, Chauvinismus und Xenophobie geprägte Mentalität als auch das große Vertrauen in Rationalität und Wissenschaft sind typisch für das frühe Industriezeitalter. In Titus' Kinderbüchern wohnt Basil (ein Name, den Sherlock häufig zur Tarnung benutzt) zusammen mit Dr. Dawson im selben Haus wie Sherlock selbst - in der berühmten Baker Street 221b in London (die zu Doyles Lebzeiten eigentlich nur 85 Hausnummern hatte) und hat wie sein menschliches Pendant die Gabe, Dinge zu sehen, die anderen verborgen bleiben. Seine Fähigkeiten perfektioniert er, indem er regelmäßig Sherlocks Ausführungen lauscht. So, wie in den meisten Sherlock-Holmes-Geschichten Dr. John H. Watson als Erzähler fungiert, so werden auch die Basil-Geschichten von seinem Mäuse-Pendant Dr. Dawson erzählt; beide Figuren sind die praktisch veranlagten Partner, die den verkopften Detektiven die nötige Bodenhaftung verleihen. Auch die Gespräche zwischen Basil und Dawson erinnern an die pointierten Dialoge zwischen ihren menschlichen Vorbildern, die den Holmes-Geschichten das "gewisse Etwas" verleihen. Ein zusätzliches komisches Element im Disney-Film stellt die kurze, korpulente Figur des Dr. Dawson zu der (selbstverständlich auch Sherlock entsprechenden) hochgewachsenen, schlanken Gestalt Basils dar. Und Basil tritt natürlich stilecht getreu den Illustrationen von Sidney Paget (der Holmes' Erscheinungsbild übrigens nach dem Vorbild seines Bruders Walter zeichnete) mit Deerstalker-Mütze und Inverness-Mantel auf. Im Film gehorcht Holmes' Spürhund Toby neben seinem eigentlichen Herrn auch dem Mäusedetektiv - auch wenn die von Doyle beschriebene hässliche Promenadenmischung hier als niedlicher Basset dargestellt wird. Und natürlich erkennt der passionierte Holmes-Leser in dem fiesen, machthungrigen Professor Ratigan (dt. Professor Rattenzahn) das kriminelle Genie Professor James Moriarty wieder, das ursprünglich von Doyle erdacht wurde, um die Holmes-Reihe abzuschließen - was geschehen sollte, indem dem Protagonisten ein ebenbürtiger Gegner gegenübergestellt wird, durch dessen Hand er den Tod finden soll. Ein Vorhaben, das jedoch nicht gelang - auf Proteste seiner Fans hin ließ Doyle den berühmten Detektiv wieder auferstehen. Das Finale findet sich auch im Film wieder - als Basil und Rattenzahn im Uhrwerk des Big Ben aufeinandertreffen. In der Originalfassung des Films ist sogar die Stimme des berühmtesten Holmes-Darstellers Basil Rathbone aus alten Filmaufnahmen zu finden. 

Der Film hat eine eigenständige Handlung, auch wenn einzelne Szenen aus Titus' Büchern eingestreut wurden. Er ist auch einer der ersten Disney-Filme, in denen die größtenteils noch handgezeichneten Szenen bereits durch Computeranimation unterstützt werden - zu sehen in der Szene im Uhrwerk, das in dieser Detailgenauigkeit wohl niemals in Handarbeit hätte dargestellt werden können. Auch bei der Weiterverarbeitung von Bild und Ton wurde Computertechnik eingesetzt, was die Entstehungszeit des Films erheblich verkürzte.

Der letzte Film, um den es heute gehen soll, war gleichzeitig einer meiner allerersten Kino-Erlebnisse, die ich als Kind genießen durfte. Oliver & Company (dt. Oliver & Co.) ist die Disney-Version von Charles Dickens' berühmtem Gesellschaftsroman Oliver Twist, die allerdings sehr frei interpretiert ist und zwei Unterschiede aufweist, die sofort ins Auge springen: Die Geschichte wird vom viktorianischen London ins New York der 1980er Jahre verlegt, und aus dem hungernden und gequälten Waisenkind wird ein heimatloses Kätzchen. Der 1988 erschienene Zeichentrickfilm unter der Regie von George Scribner macht aus dem traurigen Dickens-Roman eine charmante, actionreiche Komödie mit einem spritzigen, zeitgemäßen Soundtrack, der die Standesdünkel des berühmten Autors außen vor lässt. Um Gemeinsamkeiten mit der literarischen Vorlage zu entdecken, muss man wirklich ganz genau hinsehen. Als Vierjährige hatte ich davon natürlich noch keine Ahnung - bis ich etwa zehn Jahre später im Gymnasium mit der Originalgeschichte in Berührung kam, als wir im Englischunterricht das viktorianische Zeitalter durchnahmen. Damals zeigte uns der Englischlehrer die Filmadaption von David Lean aus dem Jahre 1948 - so wurden die Weichen zur Lektüre des Originals gestellt. Auf Deutsch und auf Englisch. (Bin ich nicht toll? *angeb*)

Dickens' Oliver Twist erschien 1837 bis 1839 als Fortsetzungsroman in der Zeitschrift Bentley's Miscellany und schildert drastisch die Problematik von Verelendung, Kriminalität und Kinderarbeit im frühen Industriezeitalter. Diese wird erzählt anhand des Werdegangs des Waisenjungen Oliver Twist, der nach dem Tod seiner Mutter ohne Wissen um seine Herkunft unter katastrophalen Umständen im Armenhaus aufwächst. Im Kontrast zu seiner niederträchtigen Umgebung wird er als rein, edel und wohlerzogen dargestellt, die perfekte Identifikationsfigur, allerdings sind diese Charakterzüge für ein Kind, das weder Zuneigung noch Erziehung genossen hat, denn doch ziemlich unrealistisch. Sein Leben ist von Nahrungsknappheit und Schlägen geprägt, bis er als billige Arbeitskraft an einen Sargtischler verkauft wird und von dort aus nach London flieht. Im Gegensatz dazu ist Oliver aus dem Disney-Film der Letzte aus einem Wurf von Kätzchen, der kein neues Zuhause gefunden hat und auf den überfüllten Straßen von New York City seinem Schicksal überlassen bleibt, bis er auf den Hund Dodger trifft, dem Anführer einer Hundebande, dessen literarisches Pendant der Taschendieb Jack Dawkins ist, der ebenfalls Dodger (Herumtreiber, Gauner) genannt wird und der zu einer Bande aus Straßenjungen gehört. Aus dem jüdischen Hehler Fagin, der Oliver in seine Diebesbande integrieren will, wird im Film ein liebenswerter Obdachloser und Kleinganove, der sich aufopfernd um seine Hunde kümmert und auch das herrenlose Kätzchen vorbehaltlos bei sich aufnimmt. Aus Fagins Spießgesellen Sikes wird ein skrupelloser Schurke, dem Fagin eine horrende Geldsumme schuldet, und aus dessen Partnerin, der Prostituierten Nancy, die als einzige in dem Roman eine nennenswerte Entwicklung durchmacht, die afghanische Windhündin Rita, auf die vor allem einer der beiden Dobermänner von Sikes ein Auge geworfen zu haben scheint. Im Roman will der skrupellose Fagin den heimatlosen Oliver für seine Diebesbande ausbilden, während der nette Fagin aus dem Film die Unterstützung seiner Hunde benötigt, um seine Schulden bei Sikes bezahlen zu können. Im Laufe des Romans findet Oliver Liebe und Zuneigung bei dem gütigen Mr. Brownlow - das Pendant dazu ist im Film das kleine Mädchen Jenny aus der gut situierten 5th Avenue, das sich sofort in das niedliche Kätzchen verliebt und es bei sich aufnimmt. Im Gegensatz zu Dickens verzichtet man bei Disney jedoch darauf, aus dem Protagonisten einen Abkömmling vornehmer Herkunft zu machen, der nur durch Zufall ins Armenhaus gelangte, und nimmt dem Film somit die Standesdünkel, von denen der Roman geprägt ist. Allerdings findet sich auch Olivers Halbbruder Monks, der sein Erbe nicht mit jemand anders teilen will, im Film wieder - in Gestalt von Jennys Pudeldame Georgette, die den kleinen Kater aus Eifersucht aus dem Haus vertreiben will.

Oliver Twist folgt in seiner drastischen Darstellung sozialer Missstände der damaligen Tradition des Realismus - der Roman erinnert in seiner fast schon übertriebenen Tragik an die Werke des deutschsprachigen Naturalismus, im Gegensatz zu diesen geht Dickens' Roman aber zumindest gut aus. Auffällig ist, wie schon gesagt, der Kontrast des liebenswerten Oliver zu dem rohen, gewalttätigen Milieu, in dem er sich bewegt - was sich durch die eigentlich vornehme Herkunft des Jungen erklärt. Der somit zur gutwilligen, mitfühlenden Oberschicht gehört, die letztendlich auch seine Rettung ist. Was trotz des sozialkritischen Charakters des Romans bezüglich der Armenpolitik bezeichnend ist für die stereotypische Sichtweise der oberen auf die untere Gesellschaftsschicht, die zur damaligen Zeit in etwa so gnadenlos war wie das hinduistische Kastenwesen. Am häufigsten kritisiert wird aber Dickens' Darstellung der Figur des Fagin, die eindeutig den gängigen antisemitischen Stereotypen folgt.

Der Disney-Film wiederum war ursprünglich als eine Art Fortsetzungsgeschichte von Bernhard und Bianca gedacht, die sich um das Mädchen Penny drehen sollte. Tatsächlich weist Jenny einige auffällige Ähnlichkeiten zu Penny aus dem Film mit dem Mäusepaar auf - die ursprünglich geplante Geschichte wurde jedoch ziemlich bald wieder verworfen, da sie die Produzenten nicht überzeugte. Oliver & Co. war zudem der erste Disney-Trickfilm, der über eine eigene Abteilung für Computeranimationen verfügte, da diese in diesem Film weitaus häufiger eingesetzt wurden als in den vorigen - etwa in der Darstellung von Fahrzeugen und Hochhäusern. Für diese Animation wurden zuvor Fotos von New York sozusagen aus der Hundeperspektive gemacht. Die zeitgenössische Gestaltung manifestierte sich nicht nur in der Stadtkulisse und der jugendlichen Sprache, sondern auch in der Synchronisation: Der Titelsong wird von Huey Lewis gesungen, dessen Musik auch schon zuvor in Back To The Future (dt. Zurück in die Zukunft) zu hören war; Georgette wird im Original von der Komödiantin Bette Midler gesprochen, während der Sänger Billy Joel Dodger seine Stimme leiht (ich finde es schade, dass in der synchronisierten Fassung nicht wenigstens die Lieder in der Originalfassung bleiben). Auf diese Weise gewinnt der Film eine weitaus positivere Grundatmosphäre, als es in seinem literarischen Vorbild der Fall ist.

Ich hoffe, es ist mir wieder gelungen, euch die Zeit, die mir selbst schon lang wird, ein wenig zu verkürzen und euch zumindest für ein paar Minuten von der lästigen Situation abzulenken. Ich für meinen Teil war eigentlich ziemlich gut abgelenkt - immerhin hat dieser Artikel einen ganzen Nachmittag in Anspruch genommen, aber ich wollte eben unbedingt alle drei Filme in einem Post unterbringen, weil es sich irgendwie angeboten hat. Ich hoffe, es hat euch wieder Spaß gemacht und wir sehen uns beim nächsten Mal, wenn es wieder heißt: Bon voyage!

vousvoyez

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