![]() |
© vousvoyez |
Heutzutage ist es ja ein bisschen aus der Mode gekommen, zu Heiligen zu beten und Reliquien aufzubewahren, aber wie ich in meinem Artikel über die Pest schon ausgeführt habe, scheint es heute, zur Zeit der Corona-Pandemie, wieder häufiger vorzukommen, dass Leute zu der Pestsäule am Wiener Graben gehen, um zu beten. Nun, den Artikel habe ich vor zwei Monaten veröffentlicht, bin dabei aber nur am Rande auf den Seuchendoktor eingegangen, dessen Erscheinung bis heute eng mit dieser Zeit verknüpft wird. Und dieser Pestdoktor ist zur Zeit Gegenstand einer urbanen Legende, die aktuell Kinder, Jugendliche und auch deren Eltern in Angst und Schrecken versetzt. Aber mal zum Anfang.
Pestärzte wurden in Zeiten von Epidemien speziell in größeren Städten mit hohen Opferzahlen eingesetzt; sie waren für die Allgemeinheit besonders wertvoll, deshalb genossen sie spezielle Privilegien - auch wenn sie ihre Position mitunter ausnutzten. Die meisten von ihnen waren Ärzte oder Chirurgen, die sich zuvor noch nicht etabliert hatten; heilen konnten sie die Kranken nur selten, meist dokumentierten sie nur die Zahl der Fälle für die Demographie. Ihre "Heilmethoden" bestanden zumeist aus Aderlass und dem Aufsetzen von Blutegeln und Fröschen. Sie wurden in bestimmten Quarantänequartieren untergebracht, da die Ansteckungsgefahr aufgrund ihres Berufes natürlich sehr hoch war. Da man damals von einer Ansteckung über die Atemwege bzw. über Gerüche ("Pesthauch") ausging, hielten sie sich Duftschwämme, Kräuterbeutel oder Riechäpfel vor die Nase, wenn sie ihren Beruf ausübten. Die berühmte Maske mit dem krummen Schnabelfortsatz, in dem diese Kräuter untergebracht waren, wurde hauptsächlich in Frankreich und Italien getragen, war aber anscheinend eher eine Randerscheinung. Angeblich geht ihre Erfindung auf Charles de L'Orme zurück, der am Hofe Ludwigs XIII. als Arzt residierte; es waren aber wohl vor allem einige Kupferstiche im Bezug auf die Pest in Rom und Marseille, die etwa ab dem 19. Jahrhundert dazu führten, dass man Pestärzte mit dieser Schnabelmaske assoziierte. Manche dieser Masken, die heute in Museen ausgestellt werden, sind wohl nicht authentisch. Aber wenigstens sehen sie schön gruselig aus und passen in diese düstere Zeit, die wir uns trotz Corona heute kaum noch vorstellen können.
Vor kurzem jedoch tauchte auf Tik Tok ein Video auf, in dem eine Gestalt, die so ein Seuchendoktor-Kostüm samt Maske trägt, zu sehen ist - vermutlich stammt es aus Schottland. Seitdem wollen immer wieder mal Leute in Deutschland und Österreich ebendiesen Seuchendoktor gesehen haben, und nicht nur das - diese Person soll Menschen entführen oder gar ermorden. Mittlerweile heißt es sogar, dass es eine ganze Gruppe dieser als Seuchendoktoren verkleideten Personen geben soll, eine kriminelle Organisation oder Sekte, die Kindern und Jugendlichen auf Schulwegen auflauern, um junge Mädchen zu vergewaltigen und vielleicht sogar umzubringen. Nun - ich habe hier auf diesem Blog schon häufiger über die eine oder andere urbane Horrorgeschichte berichtet, denn diese tauchen immer wieder in regelmäßigen Abständen auf allen möglichen Social-Media-Plattformen auf. Das Problem hierbei sind aber meistens weniger die Geschichten selbst, sondern, dass es immer irgendwelche Trittbrettfahrer gibt, die sie für ihre Zwecke nutzen. So geschah es etwa im Jahr 2016 um Halloween, als vor den Horrorclowns gewarnt wurde, die angeblich mit Messern bewaffnet Menschen auf den Straßen auflauerten. Ähnlich war es auch mit der Blue-Whale-Challenge 2017, vor der sowohl Medien als auch die Polizei warnten, die es aber ebenfalls nie gegeben hat, und ich habe 2018 auch mal etwas über diese Momo-Geschichte geschrieben, die größtenteils aus Versatzstücken anderer Horrorgeschichten zusammengebastelt war - diese haben sich vor allem Trash-YouTuber zunutze gemacht, um mittels Angstgeschichten Klicks zu generieren. Diese Horrorgeschichte tauchte Anfang 2019 kurzzeitig wieder auf, und 2020 gab es mit der Jonathan-Galindo-Challenge, die auch nie jemand gesehen hat, eine Art Revival, das sich jedoch nicht durchsetzen konnte, da die Corona-Pandemie alles andere in den Schatten stellte. Was nun die Seuchendoktor-Geschichte betrifft, so verbinden sich hier die üblichen urbanen Horrorlegenden mit der Corona-Pandemie.
Der Ursprung der Seuchendoktor-Geschichte liegt anscheinend in Schottland selbst - in einem Artikel der Edingburgh Live wird von einer Person berichtet, die in so einer Verkleidung in Falkirk gesichtet wurde. Die Polizei hat diesen jungen Mann allerdings inzwischen ausfindig gemacht und auch aufgesucht - kriminelle Aktivitäten fanden jedoch augenscheinlich nicht statt. Aber durch das Video entstand natürlich wieder eine jener Horrorgeschichten, die ungeprüft geglaubt und geteilt werden. Deswegen sei euch gesagt: Es gibt keine nennenswerten Berichte über einen Anstieg von Entführungs-, Vergewaltigungs- oder Mordfällen, weder in Schottland noch in unserer Gegend, aber es gibt bekanntlich viele Möglichkeiten, mit den Emotionen von Menschen zu spielen, und zu den wirksamsten gehört es nun mal, jene glauben zu machen, dass Kinder in Gefahr seien. Allerdings ist im Sommer eine Gruppe von Leuten in diesen Kostümen durch London gelaufen, wahrscheinlich ebenfalls aus Protest gegen die Maßnahmen, und es gibt natürlich auch hierzulande Personen, die sich als Seuchendoktoren verkleiden, etwa auf den allseits bekannten Demos, weshalb die Geschichte natürlich genügend Aufhänger hat. Und anscheinend machen sich einige Leute auch in Deutschland und Österreich diese Geschichte zunutze, indem sie ebenfalls als Seuchendoktoren verkleidet herumgehen und gefilmt werden - beispielsweise ging vor kurzem das Video so einer Person aus Hamburg viral. An dieser Stelle möchte ich euch bitten, über Folgendes nachzudenken: Wie wahrscheinlich ist es, dass Mitglieder einer kriminellen Vereinigung, deren Erscheinungsbild inzwischen bekannt ist, weithin sichtbar herumspazieren, sich dabei filmen lassen und das Ganze dann auch noch auf TikTok hochladen? Na? Na? Eben.
Im letzten Jahr waren solche Horrorgeschichten ja, wie schon gesagt, nicht mehr so verbreitet - und auch die dummen, gefährlichen Challenges, die in der Zeit davor so beliebt waren, setzten eine Zeitlang aus. Was nicht verwunderlich ist - wir hatten schlicht und einfach andere Sorgen. Aber verschwunden sind diese Challenges deswegen nicht - leider. Im vorigen Jahrzehnt war es auf YouTube und später auf TikTok ja häufig so, dass Jugendliche irgendwelche dummen, häufig lebensgefährlichen Sachen gemacht haben, um anderen zu gefallen. Ich erinnere an die Tide-Pod-Challenge, wo man Waschmittelpods in den Mund nehmen musste, oder an die Deo-Challenge, wo man sich Deos oder Haarspray nahe an den Körper hielt und dann auf die Düse drückte, so dass die Haut durch Gefrierbrand verletzt wurde. Um die Mitte letzten Jahres kamen sie jedoch zurück, die dummen, gefährlichen Challenges - und zwar etwa in Gestalt der Choking-Challenge bzw. Blackout-Challenge. Dabei filmen sich vor allem Kinder und Jugendliche selbst, während sie sich bis zur Bewusstlosigkeit die Luft abschnüren - entweder, indem sie sich selbst mit der Hand die Luft abdrücken, schwere Gegenstände auf ihre Brust setzen oder sich mit Gürteln, Seilen und dergleichen strangulieren -, und laden das Video dann auf TikTok hoch. Sich selbst die Atemluft abzuschnüren, kann zu schweren körperlichen Schäden führen, sogar zu Hirnschäden, im blödesten Fall zum Tod - zumindest Letzteres sollte jetzt nicht überraschen. Und dies ist in diesem Jahr leider auch passiert: Im Januar 2021 starb ein zehnjähriges Mädchen aus Palermo, als sie sich mit dem Gürtel eines Bademantels strangulierte; im Februar verlor ein elfjähriger Junge aus Neunkirchen im Saarland bei dieser Challenge sein Leben; in Colorado, USA kämpft aktuell ein zwölfjähriger Junge, der ebenfalls mitgemacht hat, im Krankenhaus um sein Leben. Die Idee ist allerdings nicht neu: Schon 1948 beschrieb der südfranzösische Schriftsteller Jean Giono diese Methode in seiner Novelle Faust o village. Und auch um die Jahrtausendwende, als ich selbst noch Jugendliche war, gab es Teenager und junge Erwachsene, die sich selbst die Luft abschnürten - bei diesem "Choking Game" (Ohnmachtsspiel, Würgespiel) ging es allerdings nicht um eine Internet-Mutprobe, zumal es damals weder YouTube noch TikTok gab, sondern darum, sich durch das Ohnmachtsgefühl durch den akuten Sauerstoffmangel im Gehirn selbst in eine Art Rauschzustand zu versetzen. Auf dem Höhepunkt dieses Trends (1999 - 2007) starben dabei insgesamt 82 junge Menschen, weil sie dabei die Kontrolle verloren. Sich allen möglichen Blödsinn auszudenken, um sich irgendwie einen Kick zu verschaffen, war in meiner Jugend nichts Ungewöhnliches; wie schon erwähnt, wurden wir über die Gefahren von Drogen sehr gut aufgeklärt, aber wie es halt so ist, war man trotz allem doch irgendwie neugierig auf Rauschzustände. Und wenn man beispielsweise Hemmungen hatte, zu einem Dealer zu gehen, um sich Rauschmittel zu besorgen, griff man eben zu Ersatzhandlungen. Ich erinnere mich beispielsweise daran, dass es hieß, das Rauchen getrockneter Bananenschalen habe denselben Effekt wie Marihuana. Ja, schon früher haben Jugendliche jeden Scheiß geglaubt.
Ersatzmittel für Drogen scheinen allerdings auch heute noch zu trenden; Aus den USA gehen aktuell Videos auf TikTok viral, in denen Jugendliche sich mittels Benadryl in einen Rauschzustand versetzt haben. Benadryl ist ein Antihistaminikum, das hauptsächlich gegen Heuschnupfen verabreicht wird und in empfohlenen Mengen auch nicht gefährlich ist. Eine sehr hohe Dosis kann jedoch zu Halluzinationen führen - und viele Jugendliche versuchen aktuell, sich zu berauschen, indem sie extrem viel davon zu sich nehmen. Das Problem dabei ist jedoch: Die Menge, die notwendig ist, damit man halluziniert, ist sehr nahe an der, die nötig ist, um sich selbst in Lebensgefahr zu bringen. Und natürlich können diese Kinder nicht abschätzen, ab wann die Einnahme des Medikaments für sie tödlich sein könnte. Bereits im Mai letzten Jahres wurden in Texas mehrere Jugendliche mit einer Überdosis ins Krankenhaus eingeliefert - eine Vierzehnjährige hatte insgesamt vierzehn Tabletten eingeworfen. Natürlich hatte keiner von ihnen auch nur die geringste Ahnung über die Gefahren dieser Challenge - sie hatten einfach nur nachgemacht, was sie auf TikTok gesehen hatten, und natürlich hatte sie dort keiner darüber aufgeklärt, dass so eine Challenge im blödesten Fall tödlich ausgehen kann. Und auch dieser Trend forderte bereits ein Todesopfer: Ende August 2020 starb eine Fünfzehnjährige an einer Überdosis. Diese Challenge kommt seit dem letzten Jahr immer wieder in Wellen, und anscheinend geht sie diesen Monat wieder einmal viral.
Wir wissen, wie das ist - gerade in einem Alter, in dem man seinen Platz in der Welt sucht, ist es einem enorm wichtig, von anderen anerkannt zu werden. So stehen gerade Jugendliche häufig unter einem enormen Gruppenzwang - und tun Sachen, die ihnen eigentlich selbst nicht geheuer sind, damit andere sie cool finden. Hinzu kommt, dass man, wenn man noch sehr jung ist, gewisse Gefahren noch nicht abschätzen kann. Aber gerade deswegen ist es wichtig, und deswegen predige ich das auch immer wieder, Kindern und Jugendlichen Medienkompetenz zu vermitteln. Wir sehen aktuell, wie viele Erwachsene schon allen möglichen Scheiß glauben, weil man heutzutage alles ins Internet rotzen kann und viele das dann sehen und auch glauben - und das sind auch nicht zwangsläufig immer die Dummen. Medienplattformen haben inzwischen selbst festgestellt, dass es um die Medienkompetenz vieler Nutzer erbärmlich schlecht bestellt ist. Ich habe den Test, der dies ermittelt hat, übrigens auch mitgemacht - und werde euch jetzt bei jeder Gelegenheit unter die Nase reiben, das meine Ergebnisse deutlich über dem Durchschnitt lagen, ha! *angeb* Wie dem auch sei - wenn ich von diesen Challenges berichte, tue ich das auch in der Hoffnung, dass ich irgendwann einmal jemanden damit aufrütteln kann. Aber selbst wenn nicht - es hilft mit Sicherheit dabei, die schlimmsten Auswüchse des Informationszeitalters im Blick zu behalten. Im übrigen hoffe ich, dass ihr alle wohlauf seid und gut auf euch und eure Liebsten aufpasst. Wir sehen uns in Kürze wieder - denn ich arbeite auch noch an einem anderen Thema. Und ich muss ja die Zeit nutzen, die ich noch habe, nicht wahr? Bon voyage!
vousvoyez