Montag, 1. März 2021

Sie kommen jetzt neun Monate ins Gefängnis. - Nein!

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Das ist eine Weisheit, die ich an jedem Tag aufgeschnappt habe, an dem ich erfuhr, wer die Familie Ritter ist - da ich ja Reality TV normalerweise meistens aus dem Weg gehe. Aber vor einem Jahr sah ich auf YouTube ein recht spannendes Video des Kanals Simplicissimus, in dem über dieses Phänomen, das damals bereits seit 25 Jahren existierte, berichtet wurde - und ob die Art und Weise, wie das  Elend einer ostdeutschen Familie am Rande der Gesellschaft ausgenutzt wird, um Quoten zu generieren, überhaupt noch etwas mit gutem Journalismus zu tun hat. Der oben angeführte Satz stammt aus dem Interview einer Stern-Reporterin mit einem der Ritter-Söhne, der in Kürze eine neunmonatige Haftstrafe antreten würde müssen.

Geschichten, die "aus dem Leben gegriffen" sind, faszinieren uns ja bekanntlich schon immer. Mich auch - aber dafür braucht man nicht zwangsläufig Reality-TV. Vor allem, wenn man dazu, so wie ich, nicht wirklich die Nerven hat. Und man wahre Geschichten durchaus auch auf kunstfertigere Art und Weise erzählen kann. Und so habe ich einmal mehr die Kurve zum heutigen Thema gekriegt - ich möchte nämlich über eine Serie sprechen, die seit letzter Woche auf Amazon Prime Video zu sehen ist. Und die eine Reihe sehr gemischter Kritiken zur Folge hatte. Da ich, ehrlich gesagt, ein bisschen befangen bin, war ich mir nicht sicher, ob ich sie überhaupt thematisieren soll - aber nachdem ich bei einigen der Kritiker eine andere Art von Voreingenommenheit bemerkt habe, habe ich doch das Bedürfnis, ein wenig meine Ansichten darzulegen. In der Hoffnung, dass der eine oder andere seine Haltung vielleicht noch einmal ein wenig überdenkt.

Die Rede ist natürlich von der biographischen Geschichte Wir Kinder vom Bahnhof Zoo, die als achtteilige Streaming-Serie neu aufgelegt wurde und seit 19. Februar diesen Jahres auf Amazon Prime verfügbar ist. Ich schätze mal, so gut wie jeder Jugendliche von den späten 1970ern abwärts kam irgendwann einmal in seinem Leben damit in Berührung - zumindest im deutschsprachigen Raum - und kennt die Geschichte der Christiane Felscherinow, die in den Siebzigern in einer Sozialwohnung der Hochhaussiedlung Gropiusstadt im Berliner Stadtteil Neukölln aufwächst, mit dreizehn Jahren dem Heroin verfällt, mit vierzehn ihre Sucht auf dem Kinderstrich am Bahnhof Zoologischer Garten finanziert, bis ihre Mutter sie zu Verwandten aufs Land schickt und sie versucht, ihr Leben auf die Reihe zu bekommen, bis sie in einem Prozess gegen einen ihrer ehemaligen Freier aussagen muss und dabei die beiden Stern-Journalisten Kai Hermann und Horst Rieck kennenlernt, die sie interviewen und die Tonbandprotokolle zu einem Buch verarbeiten, das in der Folge ein Bestseller wird. Als es mir in die Hände fiel, war ich selbst noch ein Teenager, und obgleich meine Lebenswelt eine ganz andere war, war ich sofort gefesselt von den Schilderungen der kaum Sechzehnjährigen, deren Intelligenz und Fähigkeit zur Selbstreflexion weit über ihr junges Alter hinausging. Einen so offenen Einblick in die Drogenproblematik hatte es zuvor nicht gegeben - ich denke, er ist in dieser Form auch tatsächlich einzigartig, zumindest wenn ich ihn mit anderen Tatsachenberichten aus der Perspektive von der Suchtproblematik Betroffener vergleiche (wobei ich zugeben muss, dass ich an der Authentizität so mancher ein wenig zweifle). Allerdings hat er Frau Felscherinow für den Rest ihres Lebens als "Deutschlands berühmteste Drogensüchtige" stigmatisiert - was in ihrem Leben nicht immer von Vorteil war, wie man ihrem Nachfolgebuch Christiane F. - Mein zweites Leben entnehmen kann. Ich persönlich konnte mich von dem Buch Wir Kinder vom Bahnhof Zoo lange nicht losreißen und habe es immer wieder mal gelesen - nicht zuletzt im Zuge der Recherchen für diesen Artikel. Obwohl ich inzwischen erfahren habe, dass ein paar Passagen vor der Veröffentlichung wohl gestrichen wurden, ist es doch immer noch sehr schockierend, mitzubekommen, wie sich diese junge Menschen immer mehr in den Sumpf aus Sucht und Prostitution verstricken, und es fällt nicht schwer, mit diesem Mädchen mitzufühlen, das, der beinahe schon menschenfeindlichen Betonlandschaft der Berliner Trabantenstadt entfliehend, in den Drogencliquen der Diskothek Sound und des mittlerweile zu zweifelhaftem Ruhm gelangten Bahnhof Zoo die Sicherheit und Geborgenheit sucht, die sie in ihrem von Gewalt und Vernachlässigung geprägten Elternhaus vermisst - und erkennen muss, das die Sucht jede zwischenmenschliche Beziehung zerstört. Natürlich bin ich noch zu jung, um die Wirkung des Buches von Anfang an mitverfolgt zu haben - immerhin wurde es sechs Jahre vor meiner Geburt veröffentlicht. Aber wie die Zeit erklärt, hatte es damals eine ähnliche Durchschlagskraft wie einst Goethes Die Leiden des jungen Werther, und das kann ich mir durchaus auch vorstellen.

1981 kam dann die erste Verfilmung in die Kinos - Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo, ein frühes Werk des Erfolgsduos Bernd Eichinger und Ulrich Edel, die auch die Projekte Letzte Ausfahrt Brooklin und Der Baader-Meinhof-Komplex realisiert hatten, mit der jungen und damals schauspielerisch noch unerfahrenen Natja Brunckhorst in der Hauptrolle. Der Film setzte vor allem in seiner Bildsprache auf schonungslosen Realismus, der abschreckend wirken sollte - dies wurde mit Originalschauplätzen, teilweise Laiendarstellern, trashiger Inszenierung der Bilder sowie der ungeschönten Darstellung von Drogenkonsum (speziell dem Fixen), Entzugserscheinungen und Erlebnissen mit den Freiern erreicht. Zusätzlich war es sicher auch die Mitwirkung von David Bowie, der damals schon ein Megastar war und dessen Konzert in Berlin die echte Christiane Felscherinow besucht hatte, der die Leute zusätzlich noch in die Kinos lockte. Alles in allem ist der Film ein sehr gelungenes Produkt, allerdings auch nicht ohne Schwächen - wie ich schon an anderer Stelle erklärt habe, ist es immer eine besondere Herausforderung, ein Buch filmisch zu adaptieren. Und aus einem so umfangreichen Werk wie Wir Kinder vom Bahnhof Zoo, das mit einer so intensiven Geschichte aufwartet, einen zweistündigen Spielfilm herauszuarbeiten, bedeutet natürlich auch, Abstriche zu machen. Und das ist meiner Ansicht nach auch ein bisschen das Problem bei dem Film - er zeigt zwar in minutiöser Detailarbeit, wie so ein Absturz in die Sucht aussieht, geht aber ein bisschen zu wenig darauf ein, wie es überhaupt soweit kommt. Und so ist er eher eine durchaus relevante Milieustudie denn ein wirksames Mittel zur Prävention. Denn abschreckend wirkt er wohl hauptsächlich für diejenigen, die harten Drogen gegenüber auch so schon eine eher ablehnende Haltung entgegenbringen, aber darauf gehe ich im Laufe dieses Artikels noch ein wenig näher ein.

Ich muss zugeben - als ich vor etwa drei Jahren erfuhr, dass eine neue Adaption des Stoffes geplant ist, war ich auch skeptisch. Bis ich herausfand, dass es kein neuer Spielfilm, sondern eine Serie sein würde - und mir eine Person, die daran mitgearbeitet hat, versicherte, dass sie ganz anders werden würde als der Film. Das hat mich dann doch überzeugt, mich darauf einzulassen - und ich muss sagen, ich habe es nicht bereut. Natürlich musste auch ich mich anfangs an die polierte Ästhetik erst gewöhnen, die sich so völlig von der groben, in manchen Szenen geradezu ekelhaften Darstellung des Films unterscheidet. Ebenso verstehe ich, dass manche vom Alter der Darsteller nicht ganz so überzeugt sind - im Film waren es Jugendliche, deren Unbeholfenheit natürlich auch ein Stück weit zur Authentizität beitrug. In der Serie setzte man auf schauspielerisch erfahrene Darsteller, die alle ungeheuer begabt sind, aber halt schon junge Erwachsene - während Natja Brunckhorst, als sie als Christiane das erste Mal das Sound betritt, wie eine Vierzehnjährige aussieht, die versucht, mit viel Make-up älter zu wirken, als sie ist, sieht man, dass Jana McKinnon, die in der Serie die Christiane verkörpert, wohl schon in jede Disco reinkommen würde. Allerdings finde ich, dass die schauspielerische Leistung vor allem der drei jungen Frauen einiges dieser häufig beklagten Mängel durchaus wieder wettmacht - Jana McKinnon als Christiane, die zwischen der überforderten Mutter und dem verantwortungslosen Vater aufgerieben wird, nirgendwo ein offenes Ohr findet und am Ende zu hören bekommt, dass ihre Geburt ein Fehler war; Lena Urzendowsky als Stella, die Tochter einer alkoholkranken Mutter, die schon viel zu früh viel zu viel Verantwortung schultern muss und deren Missbrauchserfahrungen wohl auch dafür verantwortlich sind, dass sie am Ende darauf setzt, aus ihrem Körper Kapital zu schlagen; und nicht zuletzt Lea Drinda als Babsi, das künstlerisch begabte Mädchen aus gutem Hause, das sich nach seinem Vater sehnt, der offenbar Suizid begangen hat, und das den hohen Anforderungen ihrer Großeltern gerecht werden muss - und dessen Serien-Tod, wie ich finde, einer der emotionalsten Momente war. Wobei Stella hier eine Fusion zweier Charaktere aus Buch und Film ist - nämlich Kessi, die Christiane ins Milieu einführt, dann aber von ihrer Mutter noch rechtzeitig gerettet wird, und Stella die Christiane zusammen mit Babsi im Sound begegnet und in der Zeit, als Christiane von ihrem Vater eingesperrt und überwacht wird, ihre Komplizin ist. Insgesamt finde ich, dass es besonders die sechs jungen Schauspieler sind, die aus der Serie ein überaus sehenswertes Produkt machen. Allerdings sollte man dabei einen Fehler unterlassen - nämlich, den Film als Maßstab zu nehmen. Und das tun nach meinem Dafürhalten viel zu viele. Deswegen möchte ich euch hiermit auf eine etwas andere Sichtweise einladen.

Zunächst einmal bietet die Idee einer Serie natürlich einen vergleichsweise größeren Spielraum - schon im Vorfeld erklärte Drehbuchautorin Annette Hess, dass sie sich nicht nur auf die Biographie der Hauptfigur Christiane F. beschränken will. Was natürlich bedeutet, dass man auf diese Weise zeigen kann, wie vielschichtig so eine Suchtkrankheit eigentlich sein kann. Dies ist, wie ich finde, eine sehr zeitgemäße und fortschrittliche Herangehensweise. Und gleichzeitig etwas, das die Serie dem Film auch voraus hat - denn hier wird immer wieder bewusst gemacht, dass keine Suchtkrankheit wie die andere ist, weil ja auch jeder Mensch ein Individuum ist. Gleichzeitig erklärte die Autorin, dass sie bewusst Anachronismen einführte, um die Aktualität der Problematik hervorzuheben und so eine Brücke zur heutigen Zeit zu schlagen. Dies wird vor allem bei der Optik der Diskothek Sound sichtbar, die mit ihrem coolen Look und dem zeitgenössischen Techno-Sound eher an einen Club von heute erinnert und nicht an das versiffte Kellerlokal, das es wirklich war - während die modische Ausstattung der Schauspieler unübersehbar an die späten Siebziger angelehnt ist. Auch die Sprache ist eine für Ältere etwas seltsam anmutende Mischkulanz aus dem damaligen und dem heutigen Slang, während die technischen Geräte, vor allem die Kassetten, unübersehbar ein Relikt von damals sind. Die einzigen sichtbaren Anlehnungen an den Film sind hier der Bezug auf David Bowie - auch wenn er, da er zur Drehzeit bereits nicht mehr lebte, natürlich nicht persönlich auftreten konnte - sowie die dramatische Zuspitzung der Handlung durch den Tod der erst vierzehnjährigen Babsi, der der Auslöser für Christianes Suizidversuch ist. Im Buch dauert es ja wesentlich länger, bis sie versucht, sich den Goldenen Schuss zu setzen.

Eine der häufigsten Kritiken, die mir jedoch unterkam, ist die, dass die Serie Drogen verharmlose oder gar verherrliche. Und das finde ich, ehrlich gesagt, eine recht oberflächliche Betrachtungsweise. Klar - die Autorin hat selbst zugegeben, dass die Szenerie ganz bewusst ästhetisiert wurde. Aber der Eindruck der Verharmlosung relativiert sich, wie ich finde, mit jeder Folge mehr. Klar wirkt das "Happy End" ein wenig unmotiviert - aber im Großen und Ganzen wird doch recht deutlich, dass es in dem Reigen von Sucht und Prostitution keine Gewinner gibt. Und gerade die emotionale Nähe, die der Zuschauer im Laufe der Zeit zu den Figuren gewinnt, macht den endgültigen Absturz sowie den Tod von Axel (Jeremias Meyer), der als Einziger eine Perspektive außerhalb des Drogensumpfes zu haben scheint, und Babsi, deren romantische Phantasie sich am Ende mit ihrem Martyrium vermischt, doch sehr dramatisch. Man sollte sich bewusst machen, dass die Perspektive der Serie eine ganz andere ist als die des Films - Letzterer generiert eher eine Außenperspektive, Mitgefühl entsteht dadurch, dass man den körperlichen Verfall der Hauptfigur Stück für Stück miterlebt. Die Serie wiederum trifft eher den subjektiven Blick der Betroffenen auf die Thematik - und dies kommt der Art und Weise, wie die echte Christiane im Buch ihre Drogenerfahrungen beschreibt, doch recht nahe. Für sie waren Fixer anfangs Stars, zu denen sie aufsah und denen sie nachzueifern versuchte, bis sie selbst Fixerin war und sich ebenfalls als Star fühlte. Gleichzeitig distanzierte sie sich damit von der Außenwelt, die sie als gefühlskalt und spießig wahrnahm - eine sehr selektive Betrachtungsweise, die aber wohl dem Gefühl verschuldet ist, von Erwachsenen nicht verstanden zu werden. Entsprechend scheinen Süchtige für sehr junge Menschen mit Drogenaffinität auf eine verquere Art und Weise wohl tatsächlich mit so etwas wie "Glamour" umgeben zu sein. Im übrigen sieht man nicht allen Junkies ihre Sucht auch an - Christiane war nachmittags auf der Scene, vormittags jedoch ging sie nach wie vor in die Schule, und es dauerte ganz offensichtlich etwas länger, bis man draufkam, dass sie süchtig war. Abgesehen davon, dass die reale Christiane Felscherinow ein sehr hübsches Mädchen war - die Darstellung ist also nicht so unrealistisch, wie sie scheint. Ich muss zugeben, dass ich die surrealen Bilder - etwa die schwebenden Tänzer im Sound in der ersten Folge - anfangs auch irritierend fand. Aber je mehr ich in die Serie einstieg, desto mehr ergaben auch sie für mich letztendlich einen Sinn. Auch die Pferdegeschichte wirkt auf den ersten Blick etwas unmotiviert - allerdings entspricht auch dies bei genauerem Hinsehen dem Buch, denn auch dort gibt es Passagen, in denen die Diskrepanz des kindlich-unschuldigen Landlebens in direktem Kontrast zu der lauten, aggressiven Atmosphäre Berlins steht. Entsprechend ist es wohl auch die Intention der Serie, zu zeigen, dass Christiane hinter der Fassade der Stricherin und Fixerin immer noch ein ganz normales Mädchen mit Hoffnungen und Träumen ist. Ganz abgesehen davon: Selbst Quentin Tarantino, der Filme wie Kill Bill gedreht hat, hat im Laufe seines Schaffens verstanden, dass manche Dinge gerade dann ihre Wirkung am besten entfalten, wenn man sie nicht zeigt, sondern nur erahnen lässt.

Selbstverständlich wissen wir, dass es immer ein gewisses Risiko birgt, sich für eine Geschichte zu entscheiden, die in der Vergangenheit bereits adaptiert wurde - und sehr viel Resonanz erhielt. Denn bis zu einem gewissen Grad wird das Endprodukt immer mit schon früher existierenden Fassungen verglichen werden. Trotzdem sollte man das, wie ich finde, nicht auf Krampf machen - ich habe etwa mitbekommen, dass gerade viele der schärfsten Kritiker nur die erste Folge, häufig nicht einmal zur Gänze, gesehen und dann abgeschaltet haben, als sie merkten, dass sie nicht so ist wie der Film, und sie deshalb gleich blöd fanden. Auf diese Weise hat man natürlich nur ein unvollständiges Bild - und das dann wiederzugeben, finde ich, ehrlich gesagt, recht schwierig. Ganz abgesehen davon frage ich mich, warum die Serie überhaupt so sein sollte wie der Film - wenn ich den Film haben will, dann schaue ich mir doch den an und nicht eine Neuadaption, die sowieso nie völlig gleich sein kann! Und nicht zuletzt richtet sich die Serie auch an eine neue Generation, die man wahrscheinlich eher weniger mit Namen wie Ulrich Edel oder David Bowie locken kann - der Drang zur permanenten Selbstoptimierung ist es doch, der durch diese ganze Instagram-Ästhetik zum Ausdruck gebracht wird. Jungen Menschen, die mit solchen Idealen aufwachsen, wird man durch einen bewusst grottigen Film wohl eher nicht locken können. Entsprechend habe ich manchmal das Gefühl, dass viele die Serie hassen, weil sie sie unbedingt hassen wollen - und weil sie sich für diese Haltung bereits entschieden haben, ohne sich überhaupt eine Folge angesehen zu haben.

Um noch einmal auf die angebliche Drogenverherrlichung zurückzukommen, möchte ich allerdings noch eines klarmachen: Natürlich wollten sowohl das Buch als auch der Film eine abschreckende Wirkung erzielen. Aufgrund dessen, dass ich schon einige Menschen mit Drogenerfahrungen kennen gelernt habe, möchte ich allerdings eines klarstellen: Egal wie drastisch solche Filme dargestellt werden, sie schrecken Leute, die so oder so einen Hang zu Drogen haben, keineswegs ab. Im Gegenteil - wenn es blöd kommt, wecken sie sogar deren Neugierde. Entsprechend wirken Buch und Film, wie schon gesagt, wohl eher auf jene abschreckend, die ohnehin nicht die Absicht haben, jemals mit Drogen anzufangen. Ich finde, dass dies in dem Film doch ziemlich realistisch dargestellt wird: Hier geht es um sechs junge Menschen, die von den Erwachsenen nicht verstanden und nicht ernst genommen werden - und durch den Suizid in Babsis und Christianes Familie sowie durch die Suchtkrankheit von Stellas Mutter zeigt sich, dass diese Problematik oft mehrere Generationen umfasst. Im Drogenkonsum und dem damit verbundenen Gefühl der Anerkennung finden sie das, was sie zu Hause so schmerzlich vermissen: Sorglosigkeit, Unbeschwertheit und Geborgenheit. Angesichts dessen nimmt man die Strapazen, die mit der Sucht verbunden sind, billigend in Kauf - denn es ist dieser Moment, der zählt, dieser Augenblick, der süchtig macht. Und wie wir in der aktuellen Situation auch sehr gut sehen können, ist der Mensch dafür prädestiniert, Unangenehmes aus seiner Wahrnehmung zu filtern. Etwas aber sollte man nicht vergessen: Bücher, Filme und Serien sind ein wichtiges Mittel zur Bildung und Erziehung junger Menschen - sie sollten aber niemals die ausschließliche Bildungs- bzw. Erziehungsarbeit übernehmen. Wie ich in einem anderen Artikel schon erklärt habe, sind es größtenteils das Elternhaus und das soziale Umfeld, welches einen Menschen prägen - und vor allem die Serie macht deutlich, dass man Kinder und Jugendliche ernst nehmen, sie in Gespräche mit einbeziehen und ihnen zuhören sollte. Was den Film betrifft, so finde ich, dass er, bei aller Liebe, schon ein bisschen zu sehr den Anstrich des moralischen Zeigefingers hat - auf diese Art und Weise hat man meine Generation aufgeklärt: Indem man möglichst drastische Bilder einer Suchtkrankheit zeichnete, die unausweichlich sei, sobald man auch nur einmal einen Zug von einem Joint genommen habe - und was soll ich sagen, die Suchtproblematik ist nach wie vor vorhanden, auch wenn man heutzutage nicht so gern darüber spricht, weil es nicht zu unserem Anspruch der permanenten Selbstoptimierung passt. Wenn die Serie eines schafft, dann ist es, dieses Thema wieder ins Gespräch zu bringen.

Abschließend möchte ich euch daran erinnern, dass Voreingenommenheit nicht immer die beste Idee ist - und dass es, wie ich finde, keine so gute Idee ist, über etwas zu urteilen, von dem man nicht wirklich einen Gesamtüberblick hat. Für mich ist es, wie gesagt, vor allem die darstellerische Leistung, die diese Serie sehenswert macht - die sechs jungen Leute haben sich buchstäblich die Seele aus dem Leib gespielt. Und ich möchte daran erinnern, dass deutsche Serien - seien wir doch ehrlich - in der Gegenwart keinen sehr guten Ruf haben, und das leider auch nicht immer zu Unrecht. Jetzt haben wir einmal die Chance, eine gut gemachte deutsche Serie zu sehen, also sollten wir aufhören zu schmollen, dass sie nicht nach unseren Vorstellungen gestaltet wurde. Ähnlich verhält es sich auch mit Plattformen wie Amazon Prime: Hier wird kein neues Potenzial genutzt, sondern hauptsächlich Filmgeschichte ausgeschlachtet - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo beweist, dass selbst auf diese Weise ein gutes Produkt entstehen kann. Wir können den Film als Zeitdokument sehen und gleichzeitig auch als Milieustudie - und ich finde ihn nach wie vor sehr gut gemacht. Die Serie hingegen sollte als ein Versuch gesehen werden, Brücken zu einer neuen Generation zu schlagen - und als künstlerische Auseinandersetzung mit der Suchtproblematik sowie den Irrungen und Wirrungen des Heranwachsens.

vousvoyez

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