Mittwoch, 10. März 2021

Johann Gudenus ist ein so schlechter Tänzer, dass seine Freunde in der Waldorfschule jahrelang glaubten, sein Name sei Renate

@evablue
Jaja, die Ibiza-Witze waren noch monatelang lustig - und manche sind es bis heute. Wobei wir ja wieder mal einen großen Finanzskandal zu verzeichnen haben, nachdem die Geschichte mit Schönling Karl-Heinz Grasser nach Ewigkeiten nun endlich abgeschlossen ist. Aber ich denke, niemand von euch ist hier, um über österreichische Finanzskandale aufgeklärt zu werden. Und ich habe keine Lust, darüber zu schreiben. Zumal es etliche gibt, die das besser können. Allerdings ist mir aufgefallen, dass bezüglich eines anderen Themas Redebedarf herrscht. Deswegen möchte ich mich diesbezüglich wieder einmal äußern - auch auf die Gefahr hin, dass ihr am Ende eure verfaulten Tomaten auspackt - aber lasst mich erst mal erklären.

Letzte Woche gab es einen Riesenshitstorm gegen Marieke Lucas Rijneveld, eine niederländische Schriftstellerin und Übersetzerin, die den Auftrag bekam, die Werke der überaus talentierten jungen Poetin Amanda Gorman vom Englischen ins Niederländische zu übertragen. Amanda Gorman ist vielen von euch möglicherweise noch durch ihren wortgewaltigen Auftritt bei Joe Bidens Angelobung bekannt; der Vortrag ihres Gedichts The Hill We Climb ließ den Überlegenheitsglauben von Donald Trump und Konsorten noch lächerlicher erscheinen, als er ohnehin schon war. Der Grund für den Shitstorm gegen Rijneveld: Sie ist eine weiße Frau, die die Texte einer Schwarzen übersetzen soll - und zwar einer, deren künstlerische Arbeit geprägt ist von ihrer Identität als Schwarze Frau. So etwas, behauptete die niederländische Journalistin Janice Deul, könne eine weiße Frau niemals authentisch übersetzen. Rijneveld war von den heftigen Reaktionen, die die Entscheidung, sie mit dem Übersetzungsauftrag zu betrauen, so schockiert, dass sie sich davon zurückzog. Der Witz dabei: Amanda Gorman war mit der Auswahl Rijneveld durchaus einverstanden. Mit andern Worten, der 23jährigen wurde das Recht abgesprochen, selbst zu entscheiden, wer ihre Gedichte übersetzen darf. Man kann sich, glaube ich, denken, was losgewesen wäre, wenn man einer schwarzen Übersetzerin die Fähigkeit abgesprochen hätte, die Texte einer weißen Autorin zu übersetzen - es hätte einen Riesen-Shitstorm gegeben, und das auch völlig zu Recht. Denn das wäre eindeutig als Rassismus identifizierbar gewesen. Da es sich aber umgekehrt verhält - also, der Shitstorm gegen eine Person gerichtet ist, die ethnisch dem Lager der Unterdrücker zuzuordnen ist -, verhält es sich natürlich anders. Aber ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich Janice Deuls Vorgehensweise eher kritisch betrachte - und ich möchte euch auch erklären, warum. Deshalb will ich über ein weiteres Schlagwort im Kampf gegen Rassismus sprechen - nämlich über cultural appropriation bzw. "kulturelle Aneignung".

Nun, was versteht man unter kultureller Aneignung? Man spricht von kultureller Aneignung oder Appropriation, wenn ein Individuum oder eine Gruppe bestimmte Merkmale einer anderen Kultur oder Identität adaptiert. Im Prinzip ist es also das, was eigentlich schon geschieht, seit es Kulturen gibt - und doch ist cultural appropriation immer wieder Gegenstand heftiger Kontroversen. Die Debatte umfasst alle kulturellen Genres, sei es Mode, Musik, bildende Kunst, Literatur, Film oder Tanz, um nur einige zu nennen. Und zwar vor allem dann, wenn sich an den Errungenschaften einer unterdrückten Kultur bedient und diese dadurch ihrem Kontext entrissen werden. Dies zu kritisieren, ist selbstverständlich nicht nur legitim, sondern auch wichtig. Trotzdem schießen manche dabei über das Ziel hinaus, was besonders durch Social Media wieder sichtbar wird. Denn das Thema ist überaus komplex und kann nicht allein auf ein Für und Wider reduziert werden.

Der Begriff cultural appropriation entstand in den 1970er und 1980er Jahren im angelsächsischen Sprachraum im Zuge der amerikanischen Bürgerrechts- und der Critical-Whiteness-Bewegung. Es geht in erster Linie darum, dass sich vor allem die weiße Populärkultur bereits seit vielen Jahrzehnten fleißig am kulturellen Erbe der von ihr unterdrückten Identitäten bedient, ohne diesen Wertschätzung entgegenzubringen - wobei Weißen, die kulturelle Appropriation betreiben, die Diskriminierung häufig erspart bleibt, die der Ursprungkultur aufgrund derselben Merkmale widerfuhr, und sie andernfalls äußere Attribute anderer Kulturen jederzeit wieder ablegen können. So sahen sich Afro-Amerikaner und Native Americans sehr lange Zeit gezwungen, sich dem weiß geprägten Normativ anzupassen, da ihnen verboten wurde, ihre Kultur in der Öffentlichkeit auszuüben. So wurde das Nutzen indigener Sprachen in amerikanischen Schulen bestraft, während BPoC ihre traditionellen Flechtfrisuren (Braids) nicht tragen durften, die in afrikanischen Kulturen die Zugehörigkeit zu bestimmten Volksgruppen oder auch den gesellschaftlichen Stand symbolisieren. Noch heute gibt es junge Natives, die sich aus Angst vor dem Spott anderer die Haare schneiden lassen, während in vielen Berufssparten Braids oder Dreadlocks als "unprofessionell" oder gar "unhygienisch" gelten. Ein anderes Problem wird darin gesehen, dass gewisse Attribute nicht mehr mit der zugehörigen Kultur verbunden werden, sondern mit der Person, die sie adaptiert hat - und diese Anerkennung erhält für etwas, wofür andere zuvor diskriminiert wurden. Ein Beispiel ist etwa Bo Derek, die in dem Film 10 aus dem Jahr 1979 Braids mit eingeflochtenen Muschelschalen trägt. Bis heute wird diese Frisur in der öffentlichen Wahrnehmung mit einer weißen amerikanischen Schauspielerin in Verbindung gebracht, obwohl sie schon seit Jahrhunderten vom westafrikanischen Volk der Fulbe getragen wird. Ebenfalls problematisch gesehen wird die Gefahr der Stereotypisierung - so erzeugen Indianerkostüme im Fasching die Illusion einer einheitlichen indigenen Bevölkerung auf dem amerikanischen Kontinent, obwohl diese in Wirklichkeit eine große Vielfalt aufweist (ähnlich, wie man auch nicht die Gesamtbevölkerung Europas in einen Topf werfen kann). Ich erinnere mich daran, wie meine Großmutter mir als Kind das Foto eines indigenen Jungen zeigte, der kurze Haare und ein Polo-Shirt trug - und ich fragte, warum er denn keinen Federschmuck trage. Und ich erinnere mich an Filme wie Winnetou, die ich damals gesehen habe und in denen Indianer ausschließlich von Weißen dargestellt wurden.

Ein populäres Beispiel für kulturelle Appropriation, die der adaptierenden Kultur ursprünglich mehr Vorteile brachte als der adaptierten, ist mit Sicherheit der Rock'n'Roll. Dieser entwickelte sich in den 1950er Jahren aus dem afroamerikanischen Rhythm'n'Blues, der sich in den 1940ern aus Versatzstücken von Jazz, Boogie, Swing und Gospel entwickelt hatte. Das Problem dabei ist weniger, dass weiße Musiker wie etwa Elvis Presley oder Scotty Moore sich an der schwarzen Musik orientierten, sondern dass sie finanziell davon profitierten, im Gegensatz zu vergleichbar populären schwarzen Künstlern wie Little Richard oder Bo Diddley. Verständlich, dass dies für BPoC frustrierend ist - andererseits muss man allerdings auch sagen, dass die Adaption von Elementen schwarzer Musik durch weiße Künstler erheblich dazu beitrug, die Hemmschwelle des weißen Publikums vor schwarzer Musik abzubauen sowie dem darauf spezialisierten Label Motown und somit auch vielen großen schwarzen Talenten wie Tina Turner, Aretha Franklin, Otis Redding und Stevie Wonder den Weg zum Erfolg ebnete. Darüber hinaus darf man nicht vergessen, dass Elemente der schwarzen Kultur, insbesondere Rhythm'n'Blues, in der etablierten weißen Gesellschaft als primitiv, ja sogar anrüchig galten - die Adaption dieser war für weiße Jugendliche, die in der allgemeinen Wahrnehmung keine eigene Stimme hatten, eine Form der Abgrenzung und des Protests. Es hat also alles seine zwei Seiten - wobei die eine die andere selbstverständlich nicht relativieren soll. Ein weiteres Beispiel ist der Tanzstil Vogue; in den 1970er Jahren im New Yorker Stadtviertel Harlem von schwarzen und lateinamerikanischen Homosexuellen entwickelt, fand er Ende der Achtziger durch Madonna und Malcolm McLaren den Weg in den Mainstream. Heute werden Vogue-Stunden bereits von heterosexuellen weißen Tanzlehrerinnen angeboten, die von den Ursprüngen dieses sehr körperbetonten Stils nicht die geringste Ahnung haben. Dies sehen viele Angehörige der schwarzen und lateinamerikanischen Queer-Szene kritisch, da sie erkennen müssen, dass sie von heteronormativen Personen, die Voguing betreiben, nach wie vor abgelehnt werden.

Stellen wir also fest: Der Hauptvorwurf, wenn es um kulturelle Appropriation geht, ist der Diebstahl von Attributen marginalisierter Kulturen bzw. der Profit an diesen bei gleichzeitigem Fehlen von Authentizität sowie Desinteresse an deren Ursprüngen. Wobei die Meinungen darüber, wo kulturelle Aneignung anfängt, natürlich weit auseinandergehen - für manche reicht es schon, wenn eine weiße Person Dreadlocks trägt, während es für andere davon abhängt, aus welchem Grund diese Frisur getragen wird. Im Zeitalter des Internets werden vor allem prominente Persönlichkeiten häufig kritisch beäugt - sei es Kim Kardashian, die ihre Cornrows nicht mit der afrikanischen Kultur, sondern mit Bo Derek in Verbindung brachte; sei es Beyoncé, die in einem Musikvideo in indischer Tracht auftrat; Pharrell Williams, der 2014 auf dem Cover der britischen Elle mit einem Warbonnet abgebildet wurde oder auch Sascha Lobo, der einen roten Irokesenschnitt trägt, ja sogar Carola Rackete, deren Haare zu Dreadlocks gedreht sind. Nun wissen wir, dass Attribute fremder Kulturen schon seit längerer Zeit Bestandteil von Mode sind - erinnern wir uns doch nur an die Hippie-Kultur, in der unterschiedlichste Stile von Kulturen aus aller Welt wahllos zusammengewürfelt wurden, oder an meine eigene Jugendzeit, als pubertierende Jungs sich kleideten wie die Gangsta-Rapper in den Musikvideos. Der Engländer John Lennon kleidete sich in seinen letzten Jahren gerne im japanischen Stil, während der Deutsche Tilmann Otto unter dem Künstlernamen Gentleman seit Jahrzehnten mit Reggae-Musik große Erfolge feiert. Und wir sehen schon anhand dieser vielen Beispiele, wie vielschichtig das Thema eigentlich ist: Carola Rackete widersetzte sich der italienischen Regierung und rettete trotzdem das Leben afrikanischer Flüchtlinge; John Lennon war bekanntlich mit einer japanischen Künstlerin verheiratet und setzte sich aktiv mit ihrer Kultur auseinander; Gentleman ist oft nach Jamaika gereist, hat sich mit der dortigen Kultur auseinandergesetzt und auch viele jamaikanische Kollegen gefördert. Absurd wird es allerdings, wenn beispielsweise Rap genutzt wird, um rassistische Botschaften zu transportieren - obwohl diese Musikrichtung bekanntlich ursprünglich ein Instrument der BPoC war, um gegen ihre fortwährende Unterdrückung anzukämpfen.

Die Problematik, die ich in der Debatte sehe, ist, dass ein legitimer Gedanke, der in einen Begriff zusammengefasst wurde, der einen wissenschaftlichen Anklang hat, droht, zu verbaler Munition zu verkommen. Darüber hinaus hat Janice Deul im Großen und Ganzen ja auch gar nicht so Unrecht - natürlich sollten Schwarze Übersetzer/innen und alle dazwischen bessere Chancen bekommen. Der Gedanke ist halt leider nicht zu Ende gedacht - sollen diese denn dann nur die Texte Schwarzer übersetzen dürfen? Es ist wichtig, die Dynamik kultureller Appropriation zu verstehen - wir müssen uns bewusst sein, dass die eigene Kultur etwas sehr Persönliches ist, und dass es sehr verletzend sein kann, wenn andere, die nicht Teil dieser Kultur sind, sich dieser gegenüber respektlos verhalten. Anderseits laufen wir in unserer wokeness bisweilen Gefahr, die Fehler rechtsradikaler Gruppierungen zu wiederholen: Indem wir unterschiedliche Kulturen zu homogenen Konstrukten erklären, exotisieren wir Minderheitskulturen und nehmen damit sowohl uns als auch anderen die Entscheidung, die Zugehörigkeit zu Kulturen und Identitäten anzunehmen oder auch nicht. Dass gewisse Attribute nicht genau zugeordnet werden können, zeigt schon das Beispiel der Dreadlocks, die nicht nur von Jamaikanern und Afrikanern, sondern auch von Persern, Azteken und Tataren getragen wurden. Indem wir uns zu sehr darauf versteifen, welchen Kulturen bestimmte Objekte und Traditionen vorbehalten bleiben dürfen, nähern wir uns meiner Ansicht nach gefährlich der rechtsradikalen Ideologie des Ethnopluralismus an, in deren Vorstellung verschiedene Ethnien und Kulturen zwar existieren, sich aber auf keinen Fall austauschen oder gar vermischen dürfen. Womit wir wieder beim Ausgangsthema wären: Die Entscheidung für Marieke Rijnefeld als Übersetzerin für Amanda Gorman wurde verurteilt, ohne sich die Mühe zu machen, in Erfahrung zu bringen, wer diese Entscheidung überhaupt getroffen hat und wie Amanda Gorman, um deren Werke es schließlich geht, dazu steht. Indem an Anstoß an der Hautfarbe der Übersetzerin nimmt, tut man gleichzeitig das, was man bei anderen zu Recht kritisiert, nämlich, die Dichterin auf ihre Hautfarbe zu reduzieren. Gleichzeitig laufen wir auf diese Weise in eine Richtung, die meines Erachtens auch im künstlerischen Bereich problematisch werden kann: Ein Künstler wird nicht mehr nach seinem Werk beurteilt, sondern nur noch nach seiner Identität. Fazit: Es ist wichtig, den Ursprung kultureller Ausprägungen zu respektieren und wenn möglich dafür Sorge zu tragen, dass die Urheber dieser in Erscheinung treten, es ist aber ebenso wichtig, eine gewisse Ambivalenz auszuhalten und nicht bei jeder Gelegenheit den moralischen Zeigefinger zu schwingen. Und bevor ihr mich fragt: Ich trage im Sommer bisweilen afrikanische Tücher, ich nutze in der Kommunikation mit meinem Partner manchmal Worte der in der Kongo-Gegend heimischen Bantu-Sprache Lingála und ich spiele die westafrikanische Djembé. Gleichzeitig lese ich Bücher über afrikanische Kulturen, interessiere mich für die verschiedenen Musikrichtungen, besuche Lesungen, Ausstellungen, Theaterveranstaltungen und Festivals, die mich den vielfältigen Kulturen des afrikanischen Kontinents näherbringen. Weil Menschen, die aus Afrika stammen, inzwischen schon längst zu unserer Gemeinschaft gehören, weil ich mit einem Mann zusammen bin, dessen Wurzeln dort liegen und weil ich der Ansicht bin, dass man persönlich nur wachsen kann, wenn man die gewohnten Pfade auch mal verlässt. Lasst mich daher mit den Worten der jungen Amanda Gorman schließen: "The new dawn blooms as we free it/for there was always light/if only we're brave enough to see it/if only we're brave enough to be it."

vousvoyez

https://www.youtube.com/watch?v=ANfCZB3XYKA

https://rosa-mag.de/cultural-appropriation/

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/amanda-gormans-the-hill-we-climb-zwei-uebersetzungen-17162456.html

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen