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Wie ihr wisst, basiert die Handlung der meisten Disney-Klassiker auf Romanen, Märchen, Mythen und Sagen, während andere von ihren Autoren selbst erdacht wurden. Ein Film fällt dabei aber gänzlich aus dem Rahmen, da er sich mit einer Person befasst, die tatsächlich und nachweislich existiert hat: Ich spreche von Pocahontas, der 1995 erschien und bei dem Mike Gabriel und Eric Goldberg Regie führten. Dessen Handlung ist eine freie Interpretation der Lebensgeschichte einer jungen Frau aus dem Volk der Powhatan, das einst aus insgesamt mehr als dreißig verschiedenen Stämmen bestand und im Osten des heutigen US-Bundesstaates Virginia ansässig war. Wie frei die Geschichte tatsächlich interpretiert war, wussten damals aber wohl nicht einmal die Autoren selbst - obwohl sie natürlich von Anfang an sehr viel verdrehten, verkitschten und romantisierten. Deswegen empfehle ich auch, selbst wenn ich den meisten von euch das bestimmt nicht zu sagen brauche, den Film als eigenständige Geschichte zu betrachten und nicht als die Wiedergabe historischer Tatsachen. Denn letzteres ist er ganz und gar nicht. Aber schauen wir uns das Ganze doch einmal etwas genauer an.
Der Kulturwissenschaftler Klaus Theweleit beschrieb in seinem 2013 erschienenen Buch der Königstöchter den von ihm so genannten "Pocahontas-Komplex", eine Hypothese, die besagt, dass Eroberer ihre kolonialistischen Aktivitäten häufig durch Berichte über die Töchter indigener Herrscher zu legitimieren versuchten, die mit der Hingabe ihres Körpers an den bewunderten Fremden gleichzeitig dessen Besitzansprüche an deren Territorien besiegeln würden. Tatsächlich musste die historische Figur der Pocahontas oft für eine Verfälschung der Geschichte herhalten, die die europäischen Kolonialisten in einem weitaus positiveren Licht darstellte. Pocahontas wird hier als "edle Wilde" dargestellt, die praktisch von Natur aus nach den Wertvorstellungen der europäischen Kultur lebt und bereit ist, sich diesen zu unterwerfen, was jedoch durch die Mehrheit der anderen, bösartigen Native Americans zunichte gemacht wurde. Aufmerksame Leser meines Blogs werden es schon festgestellt haben: Der Mythos Pocahontas diente dazu, die gewaltsame Inanspruchnahme des amerikanischen Kontinents und den daraus resultierenden Genozid an den indigenen Völkern zu rechtfertigen. Sehr viele Bücher erheben den Anspruch, die angeblich wirklich wahre Geschichte der "Indianerprinzessin" zu erzählen - die vom Volk der Powhatan mündlich überlieferte, vierhundert Jahre lang vor einer breiten Öffentlichkeit verborgene andere Seite der Geschichte wurde allerdings erst im Jahr 2007 von einem der Überlebenden dieses Volkes, Dr. Linwood "Little Bear" Custalow, zusammen mit der Ethnologin Angela L. Daniel in dem Buch The True Story of Pocahontas niedergeschrieben. Und diese hat mit dem romantisch-verkitschten Produkt der Disney-Studios kaum noch etwas zu tun.
Matoaka, die Lieblingstochter des Sachem (Häuptlings) Wahunsenaca, die den Namen ihrer Mutter, Pocahontas, annahm, sobald sie in ihrem Volk als erwachsen galt, war erst zehn Jahre alt, als sie dem siebzehn Jahre älteren John Smith im Jahre 1607 das erste Mal begegnete - eine Liebesgeschichte zwischen den beiden hat es in Wirklichkeit nie gegeben. Damals landete Smith mit einer Crew an der Küste des Reichs der Powhatan, um Gold und andere Schätze zu suchen, und wurde, als er einmal allein auf der Jagd war, von Native Americans gefangen genommen und vor Wahunsenaca gebracht, wo er behauptete, er und seine Leute seien vor den Spaniern geflohen, die schon viel Leid über die indigene Bevölkerung gebracht hatten. Der Sachem sah in ihm einen Verbündeten und wollte ihn als Häuptling der Engländer in sein Volk aufnehmen, was allerdings das Misstrauen der anderen Engländer weckte, die das Aufnahmeritual sabotierten. Später schrieb Smith in seinen Memoiren, Pocahontas sei in ihn verliebt gewesen und deshalb zu seiner Verbündeten geworden, hätte ihm sogar das Leben gerettet, als ihr Stamm ihn hätte hinrichten wollen. Dass dies tatsächlich so gewesen sein soll, wird von Custalow allerdings entschieden dementiert - als Lieblingskind des Häuptlings stand Pocahontas unter ständiger Beobachtung, hätte also kaum die Möglichkeit gehabt, heimlich mit Smith Kontakt aufzunehmen oder auch nur ihre Stimme gegen die ihres Vaters zu erheben. Bereits ein Jahr später reiste Smith wieder nach England ab - angeblich, um eine Verletzung zu kurieren -, und soll in der Folge seinen Tod vorgetäuscht haben, um sich seinen Verpflichtungen gegenüber den Powhatan zu entziehen. Theweleit vermutet, dass Smith, der sehr belesen und auch in der Geschichte der griechischen Antike bewandert war, die Rettungsgeschichte um Pocahontas nach dem Vorbild der Medea-Sage konstruiert hat, die Geschichte jener Königstochter, die den griechischen Helden Jason ebenfalls vor einem Racheakt ihres Vaters rettete.
Mit zwölf Jahren heiratete Pocahontas einen Krieger namens Kocoum, zog mit ihm in dessen Dorf und wurde Mutter eines Sohnes. Dieses Glück währte jedoch nicht lange, da die Engländer den Stellenwert der jungen Frau schon früh erkannt hatten; sie rissen sich das Land der Powhatan unter den Nagel, plünderten ihre Dörfer, vergewaltigten und versklavten die Frauen und Kinder und schmiedeten einen Plan, um sich vor Vergeltungsschlägen der Natives zu schützen. Im Jahre 1613 überfielen die Engländer unter dem Kommando von Captain Saumel Argall Kocoums Hütte, töteten ihn und seinen Sohn, entführten seine Frau und hielten sie über ein Jahr als Geisel gefangen. Sie wurde vergewaltigt und Mutter eines Sohnes, man konvertierte sie zwangsweise zum Christentum und taufte sie auf den Namen Rebecca. 1614 wurde sei mit dem verwitweten John Rolfe verheiratet, der als Vater ihres Sohnes Thomas Rolfe bekannt ist, obwohl er es wahrscheinlich nicht war; dieser hatte durch die Kreuzung des von den indigenen Völkern angebauten Tabaks mit einer aus der Karibik mitgebrachten Sorte den heute bekannten Virginia-Tabak kultiviert. Er reiste mit Pocahontas nach England, wo sie der Königsfamilie als "Indianerprinzessin" vorgestellt wurde und später als Abgesandte und Mittlerin zwischen ihrem Volk und der englischen Kolonialmacht stilisiert wurde. Hier begegnete sie zum ersten Mal seit Jahren wieder dem totgeglaubten John Smith und erkannte, dass er sie und ihr Volk verraten hatte. Insgesamt verbrachte sie drei Jahre in England, ohne zu wissen, dass sie ihre Heimat nie wiedersehen sollte, denn sie starb auf dem Rückweg nach Virginia. Je nach Quelle, wird als offizielle Todesursache Tuberkulose, Typhus, die Pocken oder eine Lungenentzündung angegeben; Custalow geht von einer Vergiftung aus, die verhindern sollte, dass Pocahontas ihre Erkenntnisse über Smiths Verrat ihrem Volk mitteilte. Durch ihre Schwester, die sie auf der Reise begleitet hatte und der Vergiftung entgangen war, soll die Wahrheit aber dennoch zu ihrem Volk zurückgebracht worden sein, und 1622 holten die Powhatan zum Vergeltungsschlag gegen die englischen Siedler aus, was diese jedoch als Vorwand nutzten, um noch härter gegen die indigene Bevölkerung vorzugehen.
Der Disney-Film entstand mehr als zehn Jahre vor Veröffentlichung von Custalows Buch; die Geschichte von Pocahontas wurde damals ausgewählt, um einen Film mit einem etwas erwachseneren, ernsthaften Thema auf den Markt zu bringen. Pocahontas war allerdings nicht der erste Disney-Film, der die Native Americans thematisierte; bereits 1937 erschien im Rahmen der Cartoon-Reihe Silly Symphonies ein Kurzfilm mit dem Titel Little Hiawatha (deutsch: Klein Adlerauge), der in parodistischer Weise auf einem Epos des amerikanischen Schriftstellers Henry Wadsworth Longfellow, The Song of Hiawatha, basiert. Hiawatha ist eine mystische Figur, die als Mitbegründer und Führer des Irokesenbundes gilt, der zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert gegründet wurde und die Angehörigen der irokesischen Sprachgruppe miteinander vereinte. Die genaue Stammeszugehörigkeit des Hiawatha variiert von Erzählung zu Erzählung - mal wird er den Onondaga, mal den Mohawk oder den Anishinabe (Ojibwa) zurechnet -, vor allem aber wurde ihm eine spirituelle Verehrung zuteil, die auch in der amerikanischen Kunst Ausdruck fand. Tatsächlich plante Walt Disney selbst einen abendfüllenden Film über die Figur Hiawatha, eine Idee, die jedoch Ende der 1940er Jahre in den Archiven verschwand, da auch die Disney-Studios in der Nachkriegszeit mit finanziellen Verlusten zu kämpfen hatten. Wie in Pocahontas, so spielt auch in der Hiawatha-Geschichte die Befriedung zweier konkurrierender Völker eine Rolle, wenn auch nicht zwischen Natives und Weißen, sondern zwischen zwei indigenen Stämmen. Tatsächlich dienten die Entwürfe zu dem geplanten Hiawatha-Film ein halbes Jahrhundert später als maßgebliche Inspiration zur künstlerischen Darstellung des Pocahontas-Films. Bei der Gestaltung der Hauptfigur ließ man sich umfangreich von Historikern, Fachleuten und Angehörigen der indigenen Bevölkerung beraten, um Pocahontas zumindest äußerlich nicht verzerrt oder verfälscht darzustellen. Um dem Film einen reiferen Eindruck zu verschaffen, wurde auf sprechende Tiere verzichtet, außerdem sind die Figuren kantiger und geradliniger als sonst. Am markantesten ist allerdings die Farbdramaturgie, die vor allen von Rosa-,bzw.. Rot- und Blau-, aber auch von Grüntönen bestimmt wird und deren prägnantestes Stilelement der immer wiederkehrende, die Figuren mit farbigen Blättern umwehende Wind ist. Dieser unterstreicht vor allem emotionale Momente, seine Bedeutung wird vor allem im wichtigsten Lied des Films, Colours of the Wind (deutsch: Farbenspiel des Winds), noch einmal hervorgehoben.
Die Handlung des Films konzentriert sich vor allem auf die Liebesgeschichte zwischen John Smith und Pocahontas und umfasst das klassische dramaturgische Motiv zweier aufeinandertreffenden Welten - auf der einen Seite das indigene Volk, das im Einklang mit der Natur lebt und seinen spirituellen Prinzipien treu bleibt, auf der anderen Seite die Kolonialisten, die an den technischen Fortschritt glauben und rein materialistische Interessen verfolgen. Im Jahr 1607 erhält der berühmte englische Abenteurer John Smith von der Virginia Company den Auftrag, die Neue Welt zu erkunden, und macht sich zusammen mit seiner Crew unter der Leitung von John Ratcliffe auf den Weg. Die Intention der Engländer ist es, das Land zu ihrem Vorteil auszubeuten und nach ihren Vorstellungen zu gestalten - die indigene Bevölkerung halten sie für rückständig und ihnen kulturell unterlegen, freundschaftliche Beziehungen zu diesen sind nicht vorgesehen. Dies ändert sich jedoch, als Smith der Tochter des Indianerhäuptlings der Powhatan, Pocahontas, begegnet. Obwohl die beiden völlig verschiedene Sprachen sprechen, gelingt ihnen die Kommunikation, und sie entwickeln eine Freundschaft, aus der allmählich echte Liebe wird - eine Liebe, die aus John Smith, der von Pocahontas in die Geheimnisse der Natur und ihrer Kultur eingeweiht wird, einen anderen Menschen macht und ihn begreifen lässt, dass seine Ansichten über die Native Americans sowie sein Glaube, dass seine Auffassung von der Welt die einzig richtige sei, engstirnig und überheblich waren. Im Gegensatz zu ihm sind Radcliffe und die andren Engländer aber nicht so schnell bereit, ihre Vorurteile zu überdenken - sie geraten mit den Indigenen aneinander, und nur Pocahontas ist dank ihrer Liebe zu John dazu imstande, zwischen beiden Parteien zu vermitteln. Im Gegensatz zu den meisten anderen Disney-Filmen hat dieser nicht wirklich ein Happy End - es gelingt zwar, die kriegerischen Auseinandersetzungen zu beenden, doch John wird dabei schwer verwundet und muss nach England zurückkehren, so dass es keine gemeinsame Zukunft für ihn und Pocahontas gibt.
Wie aber soll man mit einem Film umgehen, der eine Geschichte erzählt, die es so nie gab? Nun - vielleicht habt ihr schon bemerkt, dass ich der Ansicht bin, dass man Verbote, wenn irgendwie möglich, besser vermeiden sollte. Und obwohl ich mich erinnere, dass ich von der im Gegensatz zu den anderen Filmen vergleichsweise einfallslosen Animation doch ein bisschen enttäuscht war, finde ich doch, dass es seine Richtigkeit hat, dass Disney die Geschichte der Häuptlingstochter adaptiert hat - denn gäbe es den Film nicht, wäre uns der Name Pocahontas wohl bis heute kein Begriff. Und wer weiß - vielleicht hat er außer mir noch andere dazu angeregt, sich mit der wahren Geschichte der Powhatan auseinanderzusetzen? Und selbst wenn nicht - ich finde nichts falsch daran, einen Film zu schaffen, der von gegenseitigem Respekt und Akzeptanz zwischen unterschiedlichen Kulturen und Lebensweisen handelt. Möglicherweise sollte man den Film, ähnlich wie Tarantinos Django Unchained, nicht mit realistischen Augen, sondern eher im Sinne von "Was hätte sein können" betrachten. Als eine Möglichkeit, sich die Welt ein kleines bisschen besser und toleranter zu erträumen, und wer weiß - vielleicht eröffnet uns auch das neue Möglichkeiten. Ich jedenfalls würde mich darüber freuen.
vousvoyez
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