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An anderer Stelle habe ich ja schon erläutert, dass mich diese Zweifel auch befallen, sobald ich mich ein wenig tiefer ins World Wide Web bewege. Ich glaube, sogar mehrmals. Und ein Thema, das ich schon seit längerer Zeit immer wieder verfolge, sind die sogenannten Challenges.
Sprechen wir in diesem Zusammenhang einmal über Mutproben. Ich denke, so etwas hat jeder in seiner Kindheit und Jugend schon erlebt - Situationen, in denen man sich die Achtung seiner Altersgenossen erwerben musste, indem man seinen Wagemut unter Beweis stellte. Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich mich da meistens herausgehalten habe, weil ich eher ängstlich war. Heute betrachte ich die Dinge ein bisschen anders - natürlich sind die meisten dieser Mutproben schlicht und einfach dumm, aber ich glaube, dass dies eines der Dinge ist, die in unserem evolutionären Gedächtnis fest verankert sind - seine eigenen Grenzen ausloten einerseits und seinen Platz in der Gruppe sichern andererseits.
Seit meiner Kindheit hat sich recht viel verändert, und dazu gehören eben auch die Mutproben. Damals ging es hauptsächlich darum, auf diesen Baum zu klettern, jenen Nachbarn zu ärgern, sich in eine unheimliche Umgebung zu trauen oder sich einen Film anzuschauen, der nicht für das Alter des Sehers geeignet ist. Heute verbreiten sich Mutproben, wie so vieles, auch viral. Vor etwa zwei Jahren hörte ich über die nicht-digitalen Medien beispielsweise zum ersten Mal von der sogenannten Blue-Whale-Challenge, die viele Jugendliche in den Selbstmord trieb. In einem anderen Artikel habe ich ja auch schon die Momo-Challenge erwähnt, die ähnlich ablief. Die Blue-Whale-Challenge stammt ursprünglich aus Russland und lief über ein soziales Netzwerk - man meldete sich an und bekam einen bestimmten Nutzer, der sozusagen als Mentor fungierte, zugeteilt. Dieser stellte einem innerhalb von 50 Tagen bestimmte Aufgaben, die gruselig, aber harmlos anfingen und sich zu selbstverletzenden Aktionen steigerten, bis sie schließlich in den Selbstmord des Teilnehmers mündeten. Wer den Suizid verweigerte, der wurde bedroht. Ich weiß nicht, ob es diese Challenge noch gibt - ich habe schon sehr lange nichts mehr davon gehört. In unserer schnelllebigen Zeit ändert sich ja vieles auch von heute auf morgen.
Eine andere Challenge wird Run-the-Gauntlet-Challenge genannt. Sie ist auf der gleichnamigen Seite zu finden und besteht darin, dass man sich eine bestimmte Anzahl von Gore-Videos ansehen muss, die immer schlimmer werden - Videos mit ekelhaften Inhalten, die vor allem das Verletzen und Sterben von Tieren und Menschen zeigen. Ziel der Challenge ist es, herauszufinden, wie weit man kommt, ehe man abbrechen muss. Das erinnert ja noch beinahe an zwei meiner Freunde, die in der Zeit zwischen Kindheit und Pubertät eine Phase hatten, in der ihnen kein Horrorfilm brutal genug sein konnte. Ich habe mir übrigens mal die Herz-Rausreiß-Szene aus "Indiana Jones - Tempel des Todes" angesehen, die mir als so brutal und eklig erzählt wurde - und eigentlich nur lachhaft wirkt. Das ist allerdings auch was anderes, als echte Verletzungen, Verstümmelungen oder gar Tötungen anzusehen. Besonders sehr junge Menschen geben ja auch heute damit an, dass ihnen auch die brutalsten Splatter-Filme zu weich sind - aber ich wette, nicht einmal die Hälfte von ihnen würde einen richtig heftigen Splatter verkraften. (Nur zur Richtigstellung: Ich halte auch nicht alles aus) Echte Verletzungen und Tode zu sehen, war vor Erfindung des Darknet auch nicht so einfach - man hörte nur von dem Film "Gesichter des Todes", in dem manche (oder gar alle? Früher hieß es alle, inzwischen aber nicht mehr) Todesfälle echt sein sollen.
Der Gipfel der dummen Mutproben, die in den letzten Jahren im Netz kursierten, ist für mich aber die sogenannte Tide-Pod-Challenge. Tide Pods sind handelsübliche Waschmittelkapseln, also flüssiges Waschmittel in auflösbarer Folie. Die Challenge besteht darin, eine solche Kapsel in den Mund zu nehmen, bis sich die Folie auflöst und die Flüssigkeit austritt. Nun lernt man ja eigentlich schon im Kindergarten, dass Waschmittel nicht zum Trinken da ist, und spätestens mit zehn Jahren sollte man eigentlich schon kapiert haben, dass dieses Zeug nicht in den Körper gehört - und im schlimmsten Fall einen äußerst schmerzhaften Tod verursacht. Und auch, wenn man das Waschmittel ausspuckt, nachdem sich die Kapsel aufgelöst hat, ist es sehr wahrscheinlich, dass man doch etwas davon schluckt. Mit einem Wort: Die Tide-Pod-Challenge ist eigentlich nicht viel mehr als der Versuch, dumme Menschen zu beeindrucken - und nur weil man heute dafür gefeiert wird, ist man morgen nicht unbedingt, überspitzt ausgedrückt, der neue Held der Nation.
Die neueste Challenge basiert auf dem post-apokalyptischen Netflix-Horrorfilm Bird Box mit Sandra Bullock, der Ende letzten Jahres herauskam. In diesem Film geht es um irgendwelche Monster, die man nicht sieht, die aber diejenigen, die sie ansehen, in den Selbstmord treiben. In der Bird-Box-Challenge geht es hauptsächlich darum, so zu tun, als wäre dieser Film Realität; wie die Schauspieler in dem Film verbindet man sich die Augen, wenn man das Haus verlässt, und fährt sogar mit verbundenen Augen Fahrrad oder Auto. Dies ist in gewisser Weise sogar noch dümmer, als Waschmittel in den Mund zu nehmen - denn keiner kann behaupten, er wüsste nicht, was passieren kann, wenn man nichts mehr sieht. Die Geschichte geht offensichtlich schon so weit, dass öffentlich vor der Gefährlichkeit dieser Challenge gewarnt werden muss.
Nun ist es ja so, dass viele Leute extrem leichtgläubig sind, wie wir hier schon mehrmals erörtert haben. Und dass man mit YouTube-Videos, in denen man so tut, als würde man mit verbundenen Augen Auto fahren, besonders sehr junge Zuschauer auf dumme Ideen bringt. Aber ist unsere Jugend in den letzten Jahrzehnten tatsächlich dümmer geworden?
Ich denke nicht. Die meisten dieser Trends schwappen ja aus den USA zu uns rüber, und dort ist der Umgang mit Kindern schon seit geraumer Zeit extrem von Angst geprägt - eine Haltung, die wohl auch damit zu tun hat, dass man ziemlich schnell eine Klage am Hals haben kann. Man traut Kindern kaum noch etwas zu und ist äußerst versessen darauf, ihr Leben zu kontrollieren und rund um die Uhr darauf zu achten, dass sie sich nur ja nicht wehtun - und dadurch eben auch keine Erfahrungen machen. Diese beinahe schon wahnhaft anmutende Kontrolle wird durch die moderne Technik natürlich auch ungemein erleichtert - Eltern können ihre Kinder bspw. im Kindergarten via Tablet beobachten und sogar aktiv in die Arbeit der Betreuer eingreifen. Selbst Eltern, die ihre Kinder anders erziehen wollen, haben nicht viele Möglichkeiten, dies auch durchzusetzen - weil es ja immer wieder so Leute gibt, die nichts anderes zu tun haben zu scheinen, als etwa das Jugendamt zu informieren, wenn das zwölfjährige Kind alleine in die einen Häuserblock entfernte Schule geht (was ich bereits mit sieben Jahren tat). Und die Behörden da auch nicht unbedingt hilfreich sind. In einem solchen von Angst geprägten Klima haben junge Menschen natürlich nicht viele Möglichkeiten, ihre körperlichen und psychischen Grenzen auszutesten - und kommen wahrscheinlich deswegen auf dumme Ideen.
Eine sehr verbreitete Kritik in der heutigen Zeit ist ja, dass die Kinder viel zu sehr in Watte gepackt werden. In gewissem Sinne stimmt das wohl auch. Klar, man argumentiert das gerne damit, dass die Welt früher viel sicherer war - aber war sie das wirklich? Der größte Unterschied war wohl, dass es früher noch kein Internet gab, wo man praktisch täglich mit Horrormeldungen bombardiert wurde. Das Problem ist meines Erachtens, dass Kindererziehung eines der vielen eigentlich ganz alltäglichen Dinge ist, die heutzutage fast schon zur Religion geworden sind. Jeder will recht haben, keiner akzeptiert die Meinung anderer, und alle mischen sich in fremde Angelegenheiten, weil sie glauben, es besser zu wissen. Wie weit wird das noch gehen? Ich weiß es nicht. Wir werden sehen.
vousvoyez

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