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Nun, England hat uns ja bekanntlich bei der Pandemiebekämpfung bereits überholt. Ein Jahr ist inzwischen vergangen, Corona hat uns nach wie vor fest im Griff, ein Ende ist noch lange nicht in Sicht, wir sind alle erschöpft, stinksauer und hochgradig genervt, sowohl Vernünftige als auch Unvernünftige. Und doch müssen wir irgendwie durchhalten - weil es einfach nicht anders geht. Auch wenn es schwierig ist, wenn man das Gefühl hat, dass diejenigen, die ihre kostbare Freiheit über alles andere stellen, alles dürfen, während unsereins seit einem Jahr auf Sparflamme lebt und Jugendliche Verwarnungen kassieren, sobald sie versehentlich minimal den vorgegebenen Zwei-Meter-Abstand unterschreiten. Allerdings möchte ich heute nicht einfach noch eine Schimpftirade gegenüber den Querkaspern vom Stapel lassen - derer gibt es hier schon genug. Ich möchte meinen Ärger heute ein bisschen anders nutzen - ich möchte nämlich ein bisschen den Dingen auf den Grund gehen, die dazu geführt haben, dass die Situation heute so ist, wie sie ist bzw. wie sich unsere Gesellschaft zu dem entwickelt hat, was sie heute ist.
Wie die meisten von euch ja sicher wissen, bin ich ein großer Fan von Wissenschaft, Logik und Vernunft. Und da die allermeisten von euch ja nicht auf den Kopf gefallen sind *Schleimspur wegwisch*, habt ihr sicherlich auch festgestellt, dass ich kritisches Denken und Hinterfragen genau deswegen ebenso sehr befürworte - selbst wenn es um die drei eben genannten Begriffe geht. Oder gerade deswegen. In Zeiten wie diesen sind wir natürlich sehr auf die Wissenschaft angewiesen - denn sie ist die erste, die gefragt ist, wenn es darum geht, so schnell wie möglich aus der Misere wieder herauszukommen. Gleichzeitig jedoch kollidieren zwei wesentliche Interessen miteinander, die unsere Politik aktuell prägen: einerseits die Bestrebungen der Demokratie, Schwächere zu schützen, andererseits der Neoliberalismus, der die Wirtschaft über alle anderen Interessen stellt. Und für den nicht die Wahrung demokratischer Strukturen, sondern vor allem die Interessen des freien Marktes im Vordergrund stehen - denen demokratische Entscheidungen schon einmal geopfert werden können, siehe den Militärputsch in Chile 1973. Die aktuelle Pandemie offenbart vor allem die Schwächen einer neoliberalen Politik, die dem hemmungslosen Kapitalismus, der durch den Zusammenbruch des Kommunismus auch keinen richtigen Gegenpol mehr hat, Tür und Tor geöffnet hat: Gerade die USA und Großbritannien, die diesen am stärksten vorangetrieben haben, waren in der Anfangszeit der Corona-Krise am stärksten von der Pandemie betroffen. Entsprechend sind auch die selbst ernannten "Querdenker" nicht die Rebellen, als die sie sich gerne sehen: Denn sie fordern ihr Recht auf hemmungslosen Konsum und die Durchsetzung ihrer persönlichen Interessen zu Lasten aller anderen.
Und hier zeigt sich bereits ein weiteres Problem: Nämlich, dass die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte uns im Grunde genommen recht unmündig gemacht hat. Einerseits bin ich sehr dafür, das Wahlrecht in Anspruch zu nehmen, andererseits muss ich jenen, die sich gegen das Wählen entscheiden, auch ein bisschen Recht geben: Man hat zeitweise wirklich das Gefühl, dass es egal ist, wen man wählt, der größte Unterschied liegt in der Parteifarbe. Ich muss gestehen, dass ich ebenfalls hauptsächlich deshalb wählen gehe, um das Schlimmste zu verhindern. Auch viele gesetzliche Regelungen fußen auf der Vorstellungen von Politikern, die Bevölkerung "erziehen" zu müssen - denn was ist beispielsweise das Hartz-IV-Gesetz in Deutschland, mit dem auch die FPÖ geliebäugelt hat, anderes als der Versuch, die Leute zum Fleiß zu "erziehen", indem man sie unter Androhung der Streichung von Leistungen dazu zwingt, Jobs anzunehmen, die so schlecht bezahlt sind, dass sie noch zusätzlich mit Hartz IV aufstocken müssen? Ähnlich ist es ja auch mit der Verbrauchersteuer - indem man Zigaretten und Alcopops versteuert, will man die Bevölkerung zu einer gesünderen Lebensweise "erziehen". Und ein wichtiges Beispiel dafür ist auch die erstmals von Adorno und Horkheimer formulierte Kulturindustrie, die dazu dient, unser Verhalten ökonomischen Strukturen anzupassen - und die Teil einer Rationalisierung ist, die alles in eine gewisse Form pressen will und Abweichungen nicht duldet. Und die jeden Aspekt unseres Lebens kontrollieren will, bis hin ins Privateste, sogar Liebe und Sexualität sind inzwischen den Strukturen der Industrialisierung unterworfen. Am deutlichsten wird dies in erotischer Trivialliteratur á la Fifty Shades of Grey, das sich durch abweichende Sexualpraktiken als revolutionär darstellt, es in Wirklichkeit aber gar nicht ist - denn die Liebe folgt auch hier den klassischen Strukturen, im Zuschauer wird die Sehnsucht nach einer Welt geweckt, zu der er selbst nie gehören wird, und Sex gilt eigentlich nur als Ware. Die eigene Phantasie, freies Denken und natürliche Instinkte spielen hier keine Rolle mehr - man ist nicht mehr Rezipient, sondern nur noch der Konsument, der kurzfristig zufriedengestellt werden muss. Aus diesem Grund erklären viele Leute ja auch, Kultur sei nicht systemrelevant - weil heutzutage alles einem Zweck unterworfen sein muss und weil eine authentische Kultur den gedankenlosen Konsum nicht zulässt. Hinzu kommt sicher auch, dass die wenigsten Kulturschaffenden sich "Querdenker" schimpfen und viele sich klar von rechtsradikalem Gedankengut distanzieren - sie lassen sich nicht den Mund verbieten, deswegen sind sie für die selbsternannten "Rebellen" zu unbequem. Dabei sind es gerade diese Sonntagsrevolutionäre, die verkennen, dass sie damit in Wirklichkeit den Mechanismus des ihnen so verhassten "Systems" bereits verinnerlicht haben: Was nicht passt, wird passend gemacht; was nicht vom Mainstream (sic!) aufgesogen werden kann, wird rigoros aussortiert. Dies schürt auch die Angst vor dem Unbekannten, Unberechenbaren - alles, was man nicht kennt und nicht versteht, muss aus der eigenen Welt verbannt werden. Im schlimmsten Fall entstehen daraus rechtsradikale Strömungen - entsprechend verwundert es nicht, dass gerade so viele von ihnen bei den Querdenker-Demos anwesend sind.
Auf die Gesamtgesellschaft übertragen, bedeutet dies, dass wir dazu neigen, die Wirklichkeit in eine sehr grobe, einheitliche Form zu bringen - was sich vor allem durch die Algorithmen der Digitalwelt zeigt. Das ist auch der Grund, warum die Beschäftigung mit der Identität heutzutage so häufig passiert - unser Alltag ist inzwischen schon so sehr von diesem Reduktionismus geprägt, dass wir unser eigenes Selbst schon gar nicht mehr richtig begreifen. Und gleichzeitig wollen wir so wahrgenommen werden, wie wir sind mit allen Abweichungen vorgegebener Normen, die uns als Individuum auszeichnen. Und dies kollidiert sehr häufig mit der Welt der Rationalität, die alles einem Allgemeinbegriff unterordnen will. Dies führt dazu, dass inzwischen viele Stimmen laut werden, die nicht anstreben, durch Denken die Wirklichkeit zu verstehen, sondern die Wirklichkeit ihrem Denken zu unterwerfen. Auf diese Weise verkommt auch die Politik immer mehr zu einer Art Show, perfektioniert etwa in der Selbstinszenierung eines Donald Trump, der die Massen täuscht, um seine eigenen Interessen durchzusetzen. Leute, die diesem nachlaufen, halten sich häufig für Kritiker und Individualisten, sind es in Wirklichkeit aber nicht - denn sie sind einem Blender auf den Leim gegangen. Und deswegen auch unmündig geblieben. Sie beschweren sich, von der Politik gegängelt zu werden, haben sich aber jahrelang von einem kapitalistisch-neoliberalen System gängeln lassen.
Die Auswirkungen sehen wir mittlerweile fast wöchentlich auf der Straße - ganz ehrlich, wer von euch ist nie der Versuchung erlegen, einen Vergleich zu ziehen zwischen dem laut plärrenden, pöbelnden Mob auf diesen unsäglichen Demonstrationen, der sich nicht selten ernsthaft noch von Polizisten wegschleifen lässt, und kleinen Kindern, die sich kreischend auf den Boden werfen, wenn der bzw. die Erziehungsberechtigte ihnen etwas nicht kaufen will? Seit mittlerweile fast zwanzig Jahren haben wir die Etablierung einer Maschinerie, die zum heutigen Überwachungskapitalismus geführt hat, billigend in Kauf genommen - keiner hat protestiert, als Edward Snowden den Überwachungsskandal der NSA aufgedeckt hat; kaum einen scheint es gestört zu haben, zu erfahren, dass Facebook längst als Datenkrake entlarvt wurde. Klar - für uns hat sich ja gefühlt nichts geändert. Aber letzten Sommer, wo die Corona-Warn-Apps verfügbar wurden, teilte man elendslange Kettenbriefe auf eben dieser Datenkrake, in denen man erklärte, man lasse sich nicht mittels dieser App "überwachen". Weil es auf einmal etwas unbequem geworden ist. Ernsthaft? Andererseits hört man aber nach wie vor nicht auf, die ganze Welt ungefragt an seinem Privatleben teilhaben zu lassen, indem man jeden Aspekt seines Lebens in Social Media breittritt. Gleichzeitig begreift man auch die Außenwelt als riesengroßes Wohnzimmer: Jogginghosen außerhalb des eigenen Wohnbereichs, Essen und Trinken auf der Straße, lautstarke Telefongespräche, unfreiwillige Musikbeschallung in öffentlichen Verkehrsmitteln. Selbstverständlich will man da auch keine Maske tragen, keinen Abstand halten, keine Rücksicht nehmen und keinen Anstand wahren; man will sich überall aufführen wie daheim. Ich erinnere mich da an den jungen Kabarettisten Michael Buchinger, der sich einmal darüber beschwert hat, dass die Leute glauben, sich überall "wohlfühlen" zu müssen - selbst beim Zahnarzt oder auf dem Weg zur Arbeit. Entsprechend gelingt es uns häufig auch nicht einmal mehr, selbstironisch zu sein. Und auch das sieht man bei den Querdenker-Demos: Sie veralbern die Maskenpflicht, indem sie sich Tampons vors Gesicht hängen oder Mülleimer über den Kopf stülpen und nennen das "Humor". In Wirklichkeit nehmen sie das alles jedoch sehr ernst, selbst das, was sie als "Humor" bezeichnen - sie halten das für "Kunst" und glauben, damit besonders edgy und kontrovers zu wirken, aber in Wirklichkeit geben sie sich nur selbst der Lächerlichkeit preis. Denn auch hier zeigt sich das Infantile, das einem auf diesen Demos so häufig ins Gesicht springt: Sie erinnern an kleine Kinder, die sich die Unterhose über den Kopf stülpen, weil sie sich nicht anziehen und in den Kindergarten gehen wollen.
Wie ihr also seht, kommen durch die aktuelle Situation sehr viele strukturelle Probleme zutage, die in den Jahren zuvor bereits unter der Oberfläche gebrodelt haben, die aber seitdem sehr akut geworden sind. Nun - ich hoffe sehr, wir werden in absehbarer Zeit eine Lösung finden und können die Auswirkungen in halbwegs humanen Grenzen halten. Bis dahin - bleibt sicher und passt auf euch auf, wie schwer auch immer es fällt. Bis bald!
vousvoyez
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