Montag, 25. Januar 2021

Ich warte immer noch auf den Tintifax, der alle in eine Kiste sperrt

@jamesponddotco
Wie jeder, der gegen Ende des vorigen Jahrtausends in Österreich aufgewachsen ist, weiß, ist Tintifax der grüngesichtige Zauberer, der in Habakuks Kasperltheater den Antagonisten zum Kasperl darstellt. Erdacht wurde er von Arminio Rothstein, jenem Puppenmacher, Puppenspieler und Autor, der in den Kasperl-Sendungen immer als Clown Habakuk auftrat. Rothstein hat das österreichische Kinderfernsehen über mehr als zwei Jahrzehnte geprägt, bis er 1994 an Lungenkrebs starb. Ich denke, dass er kein pflegeleichter Zeigenosse war - Michael Mittermeier hat ihn einst als "depressiven Clown" bezeichnet und seinen Unglauben darüber ausgedrückt, dass so jemand in Kindersendungen auftritt. Nun, ich glaube, in diesem Witz steckt ein wahrer Kern - mit Sicherheit hat ihn seine Kindheit als Halbjude im Zweiten Weltkrieg, als er wegen seines Status aus dem Gymnasium geworfen wurde und sich schließlich mit seinem Vater in einem Keller verstecken musste, geprägt. Ich denke, wir unterschätzen manchmal viel zu sehr die traumatischen Erfahrungen jener Generation, die die Kriegszeiten noch bewusst miterlebt hat. Aber viele Figuren aus Habakuks Puppentheater werden uns wohl für immer in Erinnerung bleiben.

Angesichts der jüngsten Ereignisse habe ich tatsächlich manchmal das Gefühl, ich hätte es mit einem Kasperltheater zu tun. Zum Beispiel, wenn ich jene höre oder lese, die sich über den Wechsel des Staatsoberhaupts in den USA beklagen. Ich muss sagen - es ist eine Wohltat, dass wieder jemand im Weißen Haus sitzt, der in der Lage ist, wie ein Erwachsener zu sprechen, und die Erleichterung war auch während Joe Bidens Inauguration spürbar. Ich finde allerdings nicht, dass das ein Grund zum Jubeln ist - denn die Fähigkeit, sich einigermaßen erwachsen auszudrücken, sollte eine Grundvoraussetzung für ein Staatsoberhaut sein, zumal, wenn es um eine Weltmacht geht. Dies als erwähnenswerte positive Eigenschaft anzuführen, finde ich persönlich eher traurig. Und noch etwas: :Joe Biden ist nicht der Messias, genauso wenig, wie ein Trump oder ein Obama das gewesen sind. Es gibt immer noch genügend Rassisten im Land, und es gibt immer noch die Gefahr der Pandemie. Dennoch ist die Neuigkeit, dass die dicke Orange mit der Meerschweinchen-Frisur sich endlich verabschiedet hat, zweifelsohne eine Verbesserung der Lage - zumal er ja sogar Ronald Reagan und George W. Bush als schlechteste US-Präsidenten aller Zeiten übertroffen hat. Denn die haben im Zweifelsfall zumindest noch auf jemand anders gehört, während Trump jeden entlassen hat, der ihm nicht Recht gegeben hat. Kein Wunder, dass so seltsame Gestalten wie Betsy DeVos (die schon zuvor die Privatisierung und Entprofessionalisierung des Bildungssystems vorangetrieben hatte), Steve Bannon (Betreiber eines rechtsradikalen Verschwörungs-Blogs) und Mike Pence (der sich dafür eingesetzt hat, dass in den Schulen gelehrt wird, dass die Menschen vor 6.000 Jahren auf Dinosauriern geritten sind) in der Regierung sitzen durften.

Für eine Gruppierung ist der Machtwechsel hingegen alles andere als ein Grund zum Jubeln: Ich spreche hier natürlich von den QAnon-Schwurblern und ihren Mitläufern. Nachdem diese im letzten Jahr auch hier in Europa sehr viel Zulauf hatten, habe ich bereits im April darüber berichtet. Trotzdem fasse ich es an dieser Stelle noch einmal kurz zusammen: QAnon ist ein Netzwerk, das auf einen anonymen Benutzer des Messageboards 4chan zurückgeht, der seit Oktober 2017 immer wieder kryptische Botschaften veröffentlicht hat. Dieser nannte sich "Q", was in den USA die höchste Stufe der Zugriffsberechtigung für Mitarbeiter auf brisantes bzw. geheimes Material bedeutet; "Anon" wiederum ist ein Kürzel von "Anonymous". Nun - Leute, die behaupteten, Zugang zu geheimen bzw. vertraulichen Informationen der Regierung zu haben, gab es vorher auch schon, aber keiner hat dafür je irgendeinen Beweis geliefert, auch dieser ominöse "Q" nicht. Seine Identität ist bis heute noch nicht geklärt - vermutet werden aktuell Ronald Watkins, der Inhaber des Messageboards 8kun, zuvor 8chan, und sein Vater Arthur Watkins, die beide auf den Philippinen leben. (Ironischerweise stellte sich im letzten Jahr heraus, dass James Watkins über sein Unternehmen Web-Domains für Kinderpornographie und Pädokriminalität verwaltete und verkaufte.) Auf jeden Fall verfasste dieser "Q" auf 4chan und später auf 8chan bzw. 8kun immer wieder kryptische Botschaften sowie Vorhersagen, die nie eintrafen (ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft Trumps politische Gegner angeblich schon verhaftet worden sind) und die, nachdem sie sich nie bewahrheiteten, mit der Zeit immer nebulöser wurden - wobei Gläubige hinter diesen einen "tieferen Sinn" vermuteten, weshalb die schlechte Trefferquote eigentlich auch nicht schadete. Aber man sollte eben keine Risiken eingehen. Jedenfalls, der Inhalt dieser Kommentare sprach vor allem diejenigen an, die selbstverständlich überhaupt gar nicht rechts sind, auch wenn deren Aussagen eine erstaunlich hohe Schnittmenge zu rechtsextremen Narrativen aufweisen. Im Großen und Ganzen geht es um einen "Deep State" aus satanistischen, pädophilen Politikern und Hollywood-Stars, der die ganze Welt beherrschen soll; dem gegenüber steht Donald Trump, der heldenhafte Kämpfer für das Gute und gegen Satanisten, Juden, Homosexuelle und Pädokriminelle. Die rechte Radiomoderatorin und Trump-Anhängerin Tracy Diaz griff die Andeutungen des ominösen "Q" auf und verschaffte ihnen mittels ihres YouTube-Kanals noch mehr Reichweite. So wurde eine alternative Realität geschaffen, in der jeder einzelne unbedeutende Bürger Amerikas potenziell entscheidend zur Gestaltung der Weltgeschichte beitragen und sich mit einem Mal ganz wichtig fühlen kann - und in der alles, was auf der Welt geschieht, als Teil dieser Verschwörung interpretiert werden kann. Entsprechend wurden auch die dümmsten Aussagen und Tweets des heiligen Onkel Donald als "verschlüsselte Botschaften" aufgefasst. Und nachdem dieser schon Monate vor den Wahlen diese als "gefälscht" angeprangert hatte, sah man darin die Bestätigung seiner hellseherischen Fähigkeiten.

Da die QAnon-Gläubigen natürlich ganz in Mr. Trumps Sinne handelten, war er auch nicht bereit, an diesen Kritik zu üben bzw. sich von ihnen zu distanzieren - stattdessen erklärte er rechtsterroristische Vereinigungen wie QAnon zu den wahren Patrioten und griff deren Narrative auch gerne auf. Nach seiner Wahlniederlage wetterte er immer wieder gegen die "bösen Menschen", die seine Wahl "gestohlen" hätten und "zur Rechenschaft gezogen" werden müssten. So ließ sich seine Niederlage vor Wahlbehörden und Gerichten zu einem heroischen Kampf gegen das Establishment (dem er als Milliardär ja eigentlich selbst angehört) umdeuten, zu einer Art Auftakt des Endkampfes gegen die bösen Mächte des "Deep State". Und am 6. Jänner dieses Jahres gab Trump schließlich selbst den Marschbefehl - der in den "Sturm auf das Kapitol" gipfelte.

In diesen inzwischen über drei Jahren, in denen Leute einen anonymen Internet-Account anbeten, hieß es immer wieder "Trust" the plan" oder "Where we go one, we will go all" (WWG1WWGA), und man wartete sehnsüchtig auf den Tag des großen Showdowns, an dem der heilige Onkel Donald seine Feinde verhaften, vor Gericht stellen und hinrichten würde. Und das betraf nicht nur die QAnons aus den USA - denn inzwischen haben sich auch hier in Europa Leute zu Anhängern dieser Vereinigung erklärt, die meiner bescheidenen Ansicht nach die Züge einer Sekte trägt. Wie auf der anderen Seite des großen Teichs, wo QAnon bald zu einem Sammelpool für Trump-Fans, christliche Fundamentalisten, Rassisten, Faschisten, Antisemiten, Impfgegner, Leichtgläubige etc. wurde, so überschneiden sich die Gläubigen dieser Bewegung auch hierzulande häufig mit Leerdenkern (ich weigere mich, diese Mischpoche als "Querdenker" zu bezeichnen) und anderen Gruppierungen, welche selbstverständlich auch überhaupt nicht rechts oder so irgendwas sind!

Jedenfalls setzten die Q-Äugigen (geiles Wortspiel, nicht wahr? Bin ich nicht toll, hä? Hä?), ebenso wie die rechtsradikalen "Proud Boys" und andere Gruppierungen, die den heiligen Onkel Donald ganz toll finden, all ihre Hoffnungen in den 20. Januar 2021 - dem Tag der Angelobung Joe Bidens -, und bestätigte sich zwischendurch immer wieder via Telegram, dass alle anderen Unrecht hätten, man selbst aber natürlich nicht. Und jetzt dürft ihr raten, was an diesem Tag passiert ist - nun, da ich annehme, dass keiner von euch seit zwanzig Jahren in einer dunklen Höhle lebt oder gerade erst aus einem dreißigjährigen Koma erwacht ist, wisst ihr es natürlich längst: Nichts! Donald Trump verließ bereits vor der Inauguration das Weiße Haus und kehrte nicht wieder - er tauchte nicht auf, um den "Deep State" offenzulegen, es gab keinen prophezeiten "Sturm", keine Verhaftungen, keine Gerichtsverhandlung, keine Verurteilungen, keine Hinrichtungen. Die Vereidigung des 46. Präsidenten der Vereinigten Staaten ging durch die Corona-rise etwas ungewöhnlich, aber ansonsten reibungslos über die Bühne. Und unter all jenen, die einer ihnen unbekannten Person (oder mehreren Personen) blind nachgelaufen waren, machte sich Verwirrung und Enttäuschung breit.

Auch Ronald Watkins, der mutmaßliche "Q", veröffentlichte einen Post auf 8kun, in dem er empfahl, zu seinem alten leben zurückzukehren und die Verfassung zu respektieren - ein Hinweis darauf, dass selbst der Oberguru bereits das Handtuch geworfen hat? Möglich, möglich ... Und auch unter den Anhängern der Gruppierung machte sich Zweifel breit; viele bemerkten dass von den versprochenen Prophezeiungen keine einzige eingetroffen ist, Accounts wurden gelöscht, viele fühlen sich betrogen und demoralisiert - und haben damit selbstverständlich auch vollkommen Recht. Und so stehen die QAnon-Gläubigen aktuell vor einer schwierigen Entscheidung: Wollen sie die Realität nun endlich akzeptieren und wieder zu ihr zurückkehren, oder wollen sie diese weiterhin verweigern und an das Märchen von Superdonald glauben?

Denn selbstverständlich bedeutet diese Ernüchterung keineswegs das absolute Ende von QAnon - und übrig bleiben jene, die man mit Vernunft und Rationalität nicht mehr erreichen kann: Die Hardcore-Anhänger, denen keine Verschwörungstheorie zu abstrus und keine Behauptung zu wirr ist, als dass nicht doch "irgendwas dran sein" könnte. Zu ihnen gehören auch die Schwurbel-Promis Michael Wendler und Oliver Janich - die wohl endgültig nicht mehr zurückkönnen. Und so wird vermutet, dass auch die Inauguration Joe Bidens in Wirklichkeit nur Teil von Trumps genialem Plan ist: Etwa, dass Biden nur dessen Strohmann ist. Oder, dass Washington D. C. in Wirklichkeit gar nicht zu den USA gehört. Oder, dass Trump sich als Biden "getarnt" hätte - mittels einer Gesichtstransplantation, wie wir sie aus John Woos Actionfilm Face/Off kennen. Der selbstverständlich voll und ganz die Realität abbildet *zwinker zwinker*.

Fest steht jedoch - wir dürfen diese Strömung nach wie vor nicht unterschätzen. Denn auch wenn sich das alles nach wirren Hirngespinsten anhört, so haben wir schon mehrmals gesehen, wozu diese Hirngespinste führen können - sei es nun das Attentat in Hanau im Februar 2020, der versuchte "Sturm" auf den Reichstag im Sommer letzten Jahres oder auch das Ereignis in Washington am 6. Jänner. Und die Tatsache, dass wohl hauptsächlich jene übrig bleiben werden, die für logische Argumente überhaupt nicht mehr empfänglich sind, macht diese Bewegung eher noch gefährlicher - denn diese Menschen sind zum allem bereit, um ihre Agenda durchzusetzen, selbst wenn diese schon von vorn herein zum Scheitern verurteilt ist. Und findet in einschlägigen Online-Communities das passende Ventil für ihre Lügen und Gewaltphantasien - was die Sache natürlich noch bedenklicher macht. Und das ist auch der Grund, warum ich diesen Artikel hier schreibe. Denn auch ich habe bei Leuten, zu denen ich Kontakt hatte bzw. habe, bereits Tendenzen zu dieser Sekte - anders kann ich das gar nicht nennen - bemerkt. Und Überlegungen, ob da nicht doch was Wahres dran ist. Deswegen hier mein Appell an meine lieben Leser und Innen: Lasst euch nicht von irgendwelchen Fremden aus dem Internet irgendwas einreden! Hört nicht auf, zu zweifeln - und zwar nicht nur am bösen "Mainstream", sondern auch an all jenen, die von sich behaupten, jenseits dessen zu stehen! Denn glaubt mir - das sind nicht eure Freunde, auch wenn sie es noch so oft behaupten. Das ist so ein ähnliches Ding wie mit diesen Influencern, die ihren Fans erzählen, dass sie sie lieben - man kann keine Leute lieben, die man überhaupt nicht kennt. Genauso wenig, wie man mit Leuten befreundet sein kann, die man überhaupt nicht kennt. Natürlich bin auch ich nicht die Freundin von jedem, der das liest, aber hey: Just saying. Was ihr mit dieser Information anstellt, ist natürlich eure Sache - ich kann euch nur bitten, nicht allen blind zu vertrauen, nur weil sie zufällig eure Meinung bestätigen. Nicht einmal meiner Wenigkeit.

vousvoyez

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