Mittwoch, 13. Oktober 2021

Die Corona-Infektion eines Tigers dürfte das geringste Problem sein, wenn der Abstand von 1,5 m unterschritten wird

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Tatsächlich kann man sich über manche Nachrichtenmeldungen nur wundern. Und in den letzten Tagen hatte ich als Österreicherin bekanntlich sehr viel, worüber ich mich wundern konnte. Nicht nur in meinem eigenen Land - auch meine werten Nachbarn hatten viel zu berichten. Etwa zu dem, was sich am Dienstag in Leipzig abspielte: Der deutsche Rockmusiker Gil Ofarim soll nach eigener Aussage an der Rezeption eines Hotels der Kette Westin aufgefordert worden sein, seine Davidstern-Kette abzunehmen, um einchecken zu dürfen. (Kleiner Fun Fact: Ich habe erst nach zwei Tagen gecheckt, dass es sich bei Ofarim tatsächlich um jenen Typen handelt, der in meiner Jugend durch eine legendäre Bravo-Foto-Love-Story bekannt wurde.) Er schilderte diesen Vorfall in einem Instagram-Video, lautstarke Empörung und Solidaritätsbekundungen waren die Folge. Der beschuldigte Mitarbeiter streitet ein solches Verhalten ab und erstattete Anzeige gegen Herrn Ofarim wegen Verleumdung - dieser hat mittlerweile eine Gegenklage eingereicht. Was mich betrifft, ich möchte Herrn Ofarim keine Unredlichkeit unterstellen - es wird sich hoffentlich bald herausstellen, wer hier im Recht ist und wer im Unrecht -, da ich jedoch nicht dabei war, möchte ich auch keine Spekulationen anstellen. Ich finde es allerdings durchaus bemerkenswert, wie die Westin-Kette selbst mit den Vorwürfen umgeht.

Schon kurz nachdem Ofarims Video viral ging, veröffentlichte diese nämlich ein Statement auf ihrem Instragram-Account. Schon dieses war äußerst seltsam, da Antisemitismus hier nicht einmal thematisiert wurde; stattdessen fiel das Wort "integrieren", wobei man sich fragt, was es bei einem gebürtigen Deutschen zu integrieren gibt. Noch peinlicher wurde es allerdings später am Tag, als sich Mitarbeiter hinter einem Banner vor das Hotel stellten - das Banner zeigte die Israel-Flagge sowie den muslimischen Halbmond. Wie um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, fand anschließend eine Kundgebung statt, für die Sicherheitsleute der Pro GSL beauftragt wurden, von der bekannt ist, dass ihre Geschäftsführung nicht nur in der rechtsextremen Szene involviert ist, sondern auch Verbindungen zu militanten Neonazi-Gruppierungen hat.

Ähnlich wie der Anschlag in Halle an der Saale im Jahr 2019, so hat auch dieser Vorfall eines deutlich gemacht - nämlich, dass Antisemitismus kein Problem der Vergangenheit ist, sondern immer noch fortdauert. Bevor aber hier wieder Leute Schnappatmung bekommen, möchte ich eines klarstellen: Es geht mir weder darum, mich in Schuldgefühlen zu suhlen, noch möchte ich, dass ihr euch schlecht fühlt. Mir ist bewusst, dass der Zweite Weltkrieg seit mehr als einem dreiviertel Jahrhundert vorbei ist, und ich weiß, dass niemand von uns, die wir viel später geboren wurden, am damaligen Völkermord an den Juden schuld ist. Es geht mir darum, antisemitische Strukturen aufzuzeigen und zu erklären - wir sind nicht verantwortlich für die Vergangenheit, aber wir sind verantwortlich für die Zukunft. Und ich hoffe, dass ich den einen oder anderen ein wenig für dieses Thema sensibilisieren kann.

Nun, ich denke, es ist für niemanden mehr neu, dass Judenfeindlichkeit keine Erfindung von Hitler und den Nazis ist. Und auch heute betrifft sie nicht ausschließlich Nazis und Rechte, sondern durchaus auch Leute, die sich selbst eher im linken Spektrum verorten. Antisemitismus ist schon so alt und auch so globalisiert, dass früher oder später auch jeder Verschwörungsmythos damit in Berührung kommt. So kennt man antisemitische Vorurteile bereits aus der Spätantike und dem Urchristentum. Die Gründe für den Hass gegen Juden sind vielfältig, sie können religiöser, sozialer, politischer, kultureller genauso wie verschwörungsideologischer Natur sein - generell ist Antisemitismus aber so ungewöhnlich anpassungsfähig, dass die Tendenz, den Juden die Schuld für alles Schlechte in der Welt zu geben, bis heute nicht ausgestorben ist. Auch antijüdische Stereotype ähneln sich über die Jahrhunderte hinweg immer stark, selbst wenn sie mit der Realität nichts zu tun haben. Schon der Begriff "Antisemitismus" zeigt die pseudowissenschaftlichen Tendenzen dieser Ideologie: Der Begriff "Semiten" bezeichnet seit dem 18. Jahrhundert eine Sprach- und Völkergruppe, um sie von jener der "Arier" zu unterscheiden. Christian Lassen und Ernest Renan etablierten den ideologischen Begriff des Semitismus, um der vermeintlichen Minderwertigkeit jener Bevölkerungsgruppe wissenschaftliche Legitimation zu verliehen. Wie wir es ja auch vom Kolonialismus schon kennen.

Bereits die Lektüre der Thora und des Alten Testaments lässt erkennen, dass die Israeliten sich stets als Fremdkörper in einer feindlichen Umgebung begriffen. Bis 1945 gingen viele Historiker und Theologen davon aus, dass Judenfeindlichkeit einzig daraus resultierte, dass das Volk Israel sich als von Gott auserwählt verstand - was angesichts dessen, dass sich nahezu jede Religion als die einzig richtige sieht, allerdings mehr als merkwürdig liest. Festgestellt werden kann allerdings, dass der jüdische Monotheismus um 1000 v. Chr. inmitten all der anderen polytheistischen und synkretistischen Kulturen eine Sonderstellung einnahm - und ein wesentliches Element für Juden im Exil war, um die eigene Identität zu bewahren. Der christliche Antijudaismus wiederum entwickelte sich etwa um 100 n. Chr. durch die zunehmende Eigenständigkeit des Christentums und die darauffolgende Christianisierung Europas. Seit dem 4. Jahrhundert, jener Zeit, in der das Christentum im Römischen Reich zur Staatsreligion erhoben wurde, wurden Juden in Europa rechtlich, sozial und ökonomisch benachteiligt, ausgegrenzt und in der Folge auch vertrieben und ermordet. Gerechtfertigt wurde dies in erster Linie damit, dass die Juden Jesus Christus als Erlöser abgelehnt und seinen Tod herbeigeführt hätten. Entsprechend sah man die Geschichte der Judenverfolgung als "Strafe Gottes" an und kultivierte gleichzeitig das Bild des kriminellen, mordlustigen Juden.

Im Mittelalter genossen Juden in Frankreich als Händler besondere Privilegien, weshalb in anderen Regionen, in denen ihnen nach wie vor misstraut wurde, geglaubt wurde, allen Juden gehe es besser als dem Rest der Bevölkerung. Da für die meisten von ihnen nur das wenig angesehene Geldwesen übrig blieb, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, und deshalb viele Christen Schulden bei ihnen hatten, setzte sich allmählich das Stereotyp des habgierigen Juden fest. Während der Kreuzzüge im 11. Jahrhundert wurden zahlreiche jüdische Gemeinden niedergemetzelt, als vermeintliche Verbündete mit dem Feind standen Juden auch im Inland unter Generalverdacht. Juden mussten Schutzsteuern zahlen und wurden in den meisten Städten in Ghettos verbannt, die mit Mauern abgetrennt waren. Etwa ab Mitte des 12. Jahrhunderts wurden Juden immer wieder verschiedener religiöser Vergehen beschuldigt; so dichtete man ihnen beispielsweise an, christliche Kinder zu schlachten und deren Blut in ihrem Passahbrot zu verarbeiten. Eine Behauptung, die schon angesichts dessen, dass der Verzehr von Blut laut jüdischer Speisevorschriften nicht gestattet ist, und des Sinns des Passahfestes, welches unter anderem die Ablösung von Menschen- durch Tieropfer thematisiert, erschreckend unterkomplex ist, aber zu Folterungen und Hinrichtungen führte. Neben Hostienschändung und Gotteslästerung wurden sie außerdem im Jahr der großen Pestepidemie der Brunnenvergiftung beschuldigt, obwohl ihre Ghettos genauso von der Pest betroffen waren wie die übrigen Städte. Im 13. und 14. Jahrhundert kam es vermehrt zu Pogromen gegen und Vertreibungen der Juden, wodurch gegen Mitte des 14. Jahrhunderts nur noch wenige von ihnen in Mitteleuropa lebten. Der Antisemitismus der damaligen Zeit wurde übrigens häufig auch mit Antifeminismus verknüpft, wodurch die Vorstellung von Hexensabbaten aufkam, in denen Hexen zusammen mit Juden aus christlichen Kindern angeblich eine "Hexensalbe" herstellten. Eine beliebte Darstellung des Hochmittelalters war das Bildmotiv der "Judensau", welche das Verbot des Verzehrs von Schweinefleisch für Juden aufgriff und diese damit verhöhnte.

Humanismus und Reformation versprachen zunächst mehr Toleranz gegenüber Juden, Bestrebungen, die von Inquisitoren torpediert wurden. Martin Luther warb zunächst für die respektvolle Behandlung und gesellschaftliche Integration von Juden, doch nach jüdischen Missionserfolgen machte er eine Kehrtwendung; jetzt unterstellte er Juden heimliche Raub- und Mordabsichten gegen Christen und rief Fürsten dazu auf, Synagogen, jüdische Schulen und Wohnungen zu zerstören und ihre jüdischen Untertanen zu internieren, vertreiben oder zu Zwangsarbeit zu verpflichten - was diese jedoch mehrheitlich nicht befolgten, da ihnen sonst deren Steuereinnahmen entgangen wären. Auch die Aufklärung übernahm antisemitische Stereotype, im 19. Jahrhundert gingen christlicher und rassistischer Judenhass ineinander über - so wurde etwa die mittelalterliche Ritualmordlegende wiederbelebt. Die Einschränkung beruflicher Möglichkeiten für Juden, die diese in den Handel und ins Geldwesen drängten, bediente bereits im Mittelalter das Vorurteil, alle Juden seien machthungrig und geldgierig. Daraus entwickelte sich allmählich die Vorstellung, die Juden hätten sich zusammengeschlossen, um die Weltherrschaft anzustreben - oder sie zögen in Wirklichkeit bereits im Hintergrund die Fäden. Auch irritierende Neuerungen im kulturellen Bereich wurden gern den Juden angelastet - etwa die von den Nationalsozialisten so bezeichnete "entartete Kunst". Aufklärerische Philosophen wie Voltaire und Hegel wiederum warfen den Juden die Erfindung einer Gottesfigur und des monotheistischen Glauben vor - ich wiederhole es noch einmal, der Prozess der Aufklärung ist noch lange nicht abgeschlossen und sollte trotz aller Errungenschaften auch kritisch betrachtet werden.

All diese historischen Verwicklungen führen uns hin ins frühe 20. Jahrhundert; das Ende der Monarchien nach dem Ersten Weltkrieg stürzte sowohl Deutschland als auch Österreich in große Unsicherheit, mit dem Nationalismus erlebte auch der Antisemitismus neuen Auftrieb und richtete sich vor allem gegen jene Juden, die in Führungspositionen aufgestiegen waren. So wurden alle Krisenphänomene dem "Weltjudentum" angelastet; all diese Strömungen waren der perfekte Nährboden, auf denen die Ideologie des Nationalsozialismus prächtig gedeihen konnte. Entsprechend konnte die Kirche den judenfeindlichen Bestrebungen der NS-Propaganda nichts entgegensetzen, und es gab nur wenige Persönlichkeiten aus dem christlichen Lager, die sich aktiv gegen diese Vernichtungspolitik stellten, und diese konnten den Holocaust nicht aufhalten, der im Nachhinein wie die logische Konsequenz aus jahrhundertelang geschürtem Judenhass erscheint. Wie schon zuvor angemerkt, ist Antisemitismus allerdings kein rein abendländisches Phänomen; die Protokolle der Weisen von Zion, ein antisemitisches, auf fiktionalen Texten basierendes Pamphlet, das den antisemitischen Diskurs bereits vor der NS-Zeit bestimmt hatte, stammen aus dem Russischen Kaiserreich und sind heute auch in islamistischen Kreisen sehr angesehen. Allgemein war die Toleranz in muslimischen Gesellschaften gegenüber den Juden weitaus größer als in christlichen, die Expansion nach Europa etablierte jedoch teilweise auch unter Muslimen antisemitische Tendenzen, in größerem Ausmaß jedoch erst seit der Staatsgründung Israels. Dass Islam deswegen nicht gleichzusetzen ist mit Judenhass, braucht eigentlich nicht erwähnt zu werden, aber heutzutage kann man sich da bekanntlich nie sicher sein.

Nun halten wir uns ja alle für ausreichend aufgeklärt, um den Vorwurf des Antisemitismus weit von uns weisen zu können. Antisemiten, das sind immer die anderen. Und häufig glauben und verbreiten Leute antisemitische Verschwörungsmythen, während sie überzeugt sind, keine Antisemiten zu sein. Tatsächlich sind diese auch häufig nicht auf den ersten Blick als antisemitisch erkennbar - nicht selten werden sie durch Codes verschleiert, die bei näherem Hinsehen richtig erschreckend sein können. Ein beliebtes Kleidungsstück der Proud Boys, jener rechtsextremen Organisation, die an dem Sturm auf das Kapitol im Januar dieses Jahres beteiligt war, ist etwa ein gelb-schwarzes Poloshirt mit der Aufschrift 6MWE. Dies ist eine Chiffre für "Six millions were not enough" (sechs Millionen waren nicht genug), womit die Opfer des Holocaust gemeint sind. Auch Xavier Naidoo, die singende Beileidskarte, verbreitet in seinen Songs gerne mal antisemitische Codes; als er deswegen vor Gericht stand, kam er allerdings mit der Behauptung davon, dass er dies nicht gewusst habe und seine Texte falsch interpretiert worden seien. Irgendwie fängt man angesichts solcher Ausreden an, an der Wehrhaftigkeit des Rechtsstaates zu zweifeln.

Der heutige Antisemitismus ist, wie schon gesagt, in vieler Hinsicht eine Wiederholung dessen, was wir bereits seit dem Mittelalter kennen - nur geht es heutzutage nicht mehr um Brunnenvergiftung, sondern um Chemtrails, und die alte Ritualmordlegende findet sich in den QAnon-Geschichten wieder. Nach wie vor sind Leute geneigt, einen Schuldigen zu brauchen, um sich negative Entwicklungen zu erklären, und nach wie vor sind die Juden hier dankbare Opfer. Das haben wir vor allem jenen Verschwörungsmythen zu verdanken, die zwei wesentliche Urängste der Menschen ansprechen: Einerseits die Angst vor dem vermeintlich Fremden und Unbekannten, andererseits die vor Mächten, die uns manipulieren. Obwohl die meisten von uns kaum Kontakt zum jüdischen Leben haben, gehören antisemitische Ressentiments für Juden auch heutzutage zum Alltag. Aktuell ist Antisemitismus noch dazu schwer von Antizionismus zu unterscheiden, denn auch Juden, die keinen Bezug zum Nahen Osten haben, werden heutzutage gerne mit dem Staat Israel in Verbindung gebracht und für den Nahost-Konflikt verantwortlich gemacht. Auf diese Weise wird Antisemitismus gerne als Israel-Kritik getarnt. Dazu ist zu sagen - natürlich ist Kritik an der Politik Israels erlaubt, aber wer alle Juden pauschal dafür verantwortlich macht und ausschließlich Israel als Feindbild bemüht, ist gar nicht an einem offenen Diskurs interessiert, sondern nur daran, antisemitische Ressentiments zu steuern. Denn die Menschenrechte in anderen Ländern scheinen solchen Leuten nicht so wichtig zu sein. Um nicht in die Falle des Antisemitismus zu tappen, empfiehlt sich übrigens der sogenannte 3-D-Test.

Ich habe ja bereits ausgeführt, dass Linkssein oder sich der politischen Mitte zuzuordnen keineswegs vor Antisemitismus schützt, ebenso wenig wie Bildung - die Corona-Proteste haben beispielsweise ein äußerst heterogenes Publikum, aber hier finden sich viele Verknüpfungen zum Antisemitismus. Hinzu kommt, dass sich die Grenzen des Sagbaren vor allem seit 2015 immer weiter verschoben haben. Auch die Präsidentschaft Donald Trumps führte zu einer Enthemmung der Bevölkerung, und mittlerweile ist es so, dass man schnell in der linksgrünversifften Ecke landet, wenn man Anstand fordert, weil andere sich dadurch in ihrer so hochgehaltenen Meinungsfreiheit eingeschränkt fühlen. Fest steht jedoch, dass Antisemitismus immer noch da ist und in seiner Gesamtheit genauso grausam, wie er es auch früher schon war, auch wenn sich der Diskurs verschoben hat - und dass er selbst in Gesellschaften ohne jüdischen Anteil toxisch wirken kann. So wird Antisemitismus häufig auch zur Schuldabwehr genutzt - man wirft den Juden vor, durch die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Holocaust die eigene nationale Identität zu diffamieren. Geleugnet wird die Shoah mittlerweile nicht mehr so häufig, sieht man mal von alten Nazi-Tanten wie Ursula Haverbeck ab - heutzutage geht die Tendenz eher dahin, zu behaupten, die Juden bzw. die Rothschilds hätten den Holocaust ausgelöst, um den Staat Israel gründen zu können. Andere wiederum vergleichen sich selbst mit den Opfern, tragen Judensterne mit der Aufschrift "ungeimpft" - was man von den Dieselfahrern übernommen hat -, setzen die Impfung mit dem Holocaust gleich und halten sich für die neue Sophie Scholl. Bisher war die Justiz der Meinung, dass dies nicht strafbar ist - zumindest in Deutschland scheint sich das Bewusstsein jedoch inzwischen gewandelt zu haben. Und ja, auch ich werde immer wieder einmal mit antisemitischen Verschwörungsmythen konfrontiert - denn wenn man an eine Verschwörung glaubt, fängt man schnell einmal an, die Rothschilds dafür verantwortlich zu machen, auch wenn deren politische Macht längst nicht mehr so groß ist wie im 19. Jahrhundert, oder auch den amerikanischen Investor George Soros, der bereits seit Beginn der 1990er Jahre für weitaus mehr verantwortlich bemacht wird, als ein einzelner Mensch bewerkstelligen könnte.

Reflektieren wir also noch einmal: Antisemitismus ist seit Jahrtausenden in unserer Gesellschaft verankert, so dass er in jedem Zeitalter und jeder Generation wiederkehrt - weshalb er etwas ist, was uns nach wie vor alle angeht. Viele antisemitische Motive werden unwissentlich verbreitet, was einen allerdings nicht von Eigenverantwortung entbindet. Und noch einmal: Es geht nicht darum, dass wir bis zum Ende unserer Tage ein schlechtes Gewissen haben müssen - es geht darum, zu verhindern, dass sich Verbrechen wie die Shoah irgendwann wiederholen. Und dabei geht es nicht nur um die Juden, sondern um uns alle; es geht darum, Hass und Verschwörungsmythen weniger Platz in unserer Welt zu geben, damit wir endlich freier miteinander umgehen können. Es geht darum, dass Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit keine Selbstverständlichkeit sind, sondern immer wieder aufs Neue erkämpft werden müssen. Es kommen Zeiten auf uns zu, die für uns alle sehr herausfordernd sein werden - und sie werden nicht leichter, wenn wir uns andauernd gegenseitig beschuldigen. Ich weiß, dass die Auseinandersetzung mit diesem Thema keinen Spaß macht, aber wir sehen doch bereits, dass sie notwendig ist - im Sommer wurde auf dem Hauptplatz in meiner Stadt ein jüdischer Gebetstempel aufgestellt, der von der Polizei bewacht werden musste. Und ganz allgemein sind jüdische Gebetshäuser heutzutage wieder vermehrt auf Polizeischutz angewiesen. Das Problem ist, dass man Juden in unserer Gesellschaft bis heute viel zu selten wahrnimmt - wahrscheinlich, weil es seit Ende des Zweiten Weltkriegs in unseren Breiten nicht mehr allzu viele gibt. Aus der Schulzeit verbindet man Juden größtenteils mit Leichenbergen und schlechtem Gewissen - Greifbarkeit sowie einen Abbau von Fremdheit gab es hier kaum, moralische Fragen wurden häufig nicht beantwortet. Mitleid reicht nicht aus, um dieses Thema aufzuarbeiten, denn dieses trennt uns mehr, als es uns verbindet. Wir müssen uns bewusst sein, dass jede Weltanschauung in Fanatismus umschlagen kann, weil immer die Gefahr besteht, sich die Welt durch Feindbilder einfacher zu gestalten - und dass Verschwörungsmythen eine Gefahr für die Demokratie Europas bedeuten.

vousvoyez

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