Mittwoch, 24. Januar 2024

Das ist keine Kunstperformance für Grundrechte, das ist der Betriebsausflug des Arlequin-Kasperltheaters

Foto von David Holifield auf Unsplash

Was den Deutschen die Augsburger Puppenkiste, ist uns das Arlequin-Kasperltheater - eine Institution, welche die Kindheit von Generationen geprägt hat. Das Niveau der Kunstperformances mit den Schutzanzügen und weißen Masken bei den Corona-Demos  hat mich damals ein wenig daran erinnert - allerdings muss man den Teilnehmern zugute halten, dass sie auf Gebrüll und Gepöbel wenigstens verzichtet haben. Wären alle Demos so abgelaufen, wären sie weitaus erträglicher gewesen.

Nun haben wir das ja alles zum Glück schon hinter uns, auch wenn die Zeiten nach wie vor nicht leicht sind und Leute aktuell wegen allem möglichen auf die Straße gehen. Und leider scheint es für manche wieder normal zu sein, gegen Juden zu hetzen. In meinem letzten Artikel habe ich mich ein wenig mit den Hintergründen des aktuell grassierenden Antisemitismus auseinandergesetzt, heute aber will ich konkreter auf die verschiedenen Unterarten und ihre Methoden eingehen. Wenn wir uns die aktuell stärksten antisemitischen Strömungen ansehen, dann können wir feststellen, dass diese aus insgesamt drei ideologischen Richtungen kommen. Am bekanntesten sind uns hierbei mit Sicherheit die antisemitischen Aspekte des Rechtsradikalismus; daneben ist Antisemitismus allerdings auch in radikal-islamistischen Kreisen sehr präsent, ebenfalls wie in bestimmten linksradikalen Ideologien. Die Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank unterscheidet wiederum drei zeitlich initiierte antisemitische Strömungen: Einerseits den "klassischen" Antisemitismus, dem ich mich in meinem schon erwähnten Artikel bereits gewidmet habe und welcher größtenteils auf uralten Vorurteilen basiert; außerdem den Post-Holocaust-Antisemitismus, der vor allem das Leid der Opfer verharmlost oder gar leugnet; und nicht zuletzt den israelbezogenen Antisemitismus, der aktuell wieder sehr beliebt ist und sich vor allem in als Israelkritik getarntem Judenhass manifestiert. Im Rahmen dieses Artikels möchte ich, so gut es mir möglich ist, auf all diese Aspekte eingehen, indem ich einige Vorurteile und Behauptungen behandle, welche uns bei diesem Thema immer wieder begegnen.

Eines der hartnäckigsten klassischen Vorurteile ist, dass alle Juden reich oder zumindest geldgierig seien - wie schon in meinem ersten Artikel über Antisemitismus erklärt, geht dieses bis ins Mittelalter zurück, als viele von ihnen mangels anderer Möglichkeiten ihren Lebensunterhalt im wenig angesehenen Geldwesen bestritten. Seit damals zieht sich das Motiv des habgierigen, hinterlistigen Juden durch alle historischen Epochen und wird natürlich auch heute noch sehr fleißig reproduziert. Außerdem ist es eng verknüpft mit dem Narrativ der jüdischen Weltverschwörung, welches bis heute in gewissen Kreisen ebenfalls sehr präsent ist - obgleich die Chiffren sich vor allem nach Ende der Shoah verschoben haben, so dass viele antisemitisch motivierte Verschwörungsmythen heutzutage nicht mehr so leicht als solche zu erkennen sind. Ein sehr altes Motiv ist in diesem Zusammenhang die im 19. Jahrhundert etablierte Erzählung, laut derer die Welt heimlich von der jüdischen Bankiersfamilie Rothschild gelenkt würde - eine Behauptung, welche den beliebten Verschwörungsmythos einer kleinen Elite bedient, welche Macht über Medien und Politik oder gar die Weltherrschaft innehabe. Eine sehr dankbare Quelle, wenn es um Phantasien einer "jüdischen Weltverschwörung" geht, sind vor allem die von mir ebenfalls schon erwähnten Protokolle der Weisen von Zion, ein Pamphlet aus dem zaristischen Russland des frühen 20. Jahrhunderts, auf welches sich bis heute gerne bezogen wird, selbst wenn sein Inhalt schon kurz nach seinem erstmaligen Erscheinen als rein fiktional entlarvt worden war. Ein sehr altes Symbol dieser Erzählung ist übrigens das erstmals 1938 eingesetzte Bild des Kraken, welches aktuell leider auch von Greta Thunberg und anderen Fridays-for-Future-Aktivist:innen unreflektiert verbreitet wird, was meinem Respekt für diese Bewegung einen ordentlichen Dämpfer versetzt hat.

Nun wissen wir, dass das Märchen von der jüdischen Weltverschwörung eines der wesentlichen Rechtfertigungen für antisemitische Gesetze im Dritten Reich und in der Folge auch für die Shoah ist. Mit dieser schweren historischen Last im Hinterkopf kann man heutzutage selbstverständlich nicht mehr offen über eine jüdische Weltverschwörung phantasieren; an Chiffren, die genau diese Behauptung aufgreifen, mangelt es jedoch nicht: so wird gerne von der "Hochfinanz", "Globalisten", "raffgierigen Bankern" oder der "Ostküste" gesprochen. Gemeint ist hier die Ostküste der USA, speziell New York City, welches in Kreisen jener, die diesem Verschwörungsmythos anhängen, gerne als vermeintliches Zentrum des jüdisch beherrschten Weltkapitals genannt wird.

Damit einher geht auch die Behauptung, "die Juden" würden nicht nur die Welt beherrschen, sondern diese auch bewusst ins Unglück stürzen wollen. Auch diese Tendenz, ihnen die Schuld an allem Übel dieser Welt zu geben, ist sehr alt - denken wir nur an die Brunnenvergifter-Geschichte aus dem Mittelalter, welche die Juden für die Pest verantwortlich machte. Und auch die Schuld an der Corona-Pandemie wurde in manchen Communities auf die Juden abgewälzt - so trendete im Frühjahr 2020 eine Zeitlang vor allem auf Twitter (today superfluously known as X) der Hashtag #Covid1948, ein Datum, welches sich auf das Gründungsjahr Israels bezieht, in Wirklichkeit aber ebenfalls schon auf eine viel ältere Strategie zurückgeht, welche Juden entweder für Seuchen verantwortlich macht oder sie gar mit diesen gleichsetzt, sie also dämonisiert oder gar entmenschlicht. Eng verknüpft ist damit natürlich auch die Ritualmordlegende, welche uns schon in meinen Artikeln über QAnon oder die Satanic Panic begegnet ist. Sie hat ihre Ursprünge bereits im 12. Jahrhundert und baut auf jenem Thema auf, welches besonders stark emotionalisiert und deshalb auch sehr beliebt (und gleichzeitig wahnsinnig ekelhaft) ist, nämlich auf der Angst um das Wohlergehen von Kindern. So werden die Juden schon seit gut einem Jahrtausend immer wieder gerne als Kindermörder dargestellt, aktuell auch im Zusammenhang mit der Israel-Offensive im Gazastreifen, dessen Bevölkerung zur Hälfte noch nicht volljährig ist. Das soll das Leid von Kindern in dieser Region weder negieren noch minimieren - aber natürlich wird auch hier über die Maßen emotionalisiert, beispielsweise durch TikTok-Videos von leidenden Kindern, die teilweise durchaus echt, teilweise aber auch KI-generiert sind, aber auch über die Dämonisierung des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, welcher als skrupelloser Kindermörder dargestellt wird. All dies bedeutet nicht, dass man Netanjahu nicht kritisch gegenüberstehen darf, und auch das Leid der Kinder in Gaza ist, wie schon gesagt, unbestritten - allerdings gehört es zur anti-israelischen Propaganda dazu, dass die quantitative Anzahl künstlich in die Höhe getrieben wird, indem man Personen über vierzehn, teilweise sogar über achtzehn Jahre ganz locker-flockig zu den "Kindern" dazurechnet. All dies sollte jedoch nicht die Verteufelung der gesamten israelischen Bevölkerung oder gar aller Juden dieser Welt rechtfertigen, ebenso wenig wie die Behauptung, die Ermordung von Kindern sei das Hauptmotiv der Israelis. Darüber hinaus dürfen wir nicht vergessen, dass auch israelische Kinder Opfer der Terroranschlage der Hamas geworden sind - teilweise sogar ganz gezielt. Und dass die Hamas die palästinensische Bevölkerung als Schutzschild missbraucht - für sie sind möglichst viele tote Kinder wünschenswert, weil ihnen das die Dämonisierung der Israelis erleichtert.

Wir stellen also fest - antisemitische Verschwörungsmythen bedienen nicht nur Vorurteile, sondern bauen ein ganzes Weltbild mit einem sehr plakativen Gut-Böse-Schema auf. Dazu gehört, wie schon gesagt, auch die Entmenschlichung von Juden, welche als Ratten, Schweine oder Ungeziefer, teilweise sogar als Viren oder gar Krebsgeschwüre bezeichnet und/oder dargestellt wurden und werden. Natürlich sind die Algorithmen der meisten Social-Media-Kanäle so konzipiert, dass eindeutig antisemitische Codes tendenziell schnell erkannt und entfernt werden - aber findige User haben natürlich ihre eigenen Methoden, um ihre Motive zu verschleiern und ursprünglich harmlose Emojis in antisemitischem bzw. NS-verherrlichendem Kontext zu missbrauchen. Beliebt ist etwa die Nebeneinanderstellung zweier aufsteigender Börsenkurse, welche als verschlüsselte Darstellung einer SS-Rune verwendet wird und gleichzeitig das Ostküsten-Motiv bedient, außerdem das Nebeneinander-Posten einer Nase und eines Geldsacks, welches nicht nur auf die vermeintliche Geldgier der Juden anspielt, sondern auch auf die bekannten judenfeindliche Karikaturen, welche Juden gerne mit überlangen Nasen darstellen, oder das Posten eines Duschkopfes unter dem Post einer Person jüdischer Herkunft, welcher auf die Gaskammern im Holocaust anspielt.

Anspielungen auf die Shoah sind ganz allgemein ein Kennzeichen des Antisemitismus nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Umgang mit jener erfährt dabei mehrere Abstufungen: So gibt es die, welche den Holocaust leugnen ("Holocaust-Lüge"), was in Deutschland und Österreich als Straftat gehandelt wird, in den USA allerdings nicht; daneben gibt es jene, die den Holocaust relativieren, indem sie beispielsweise behaupten, damals seien weitaus weniger als 6 Millionen jüdische Menschen ermordet worden, obwohl diese Zahl eigentlich ziemlich gut belegt ist. Häufig wird stattdessen etwa die Zahl 271.000 angeführt - diese bezieht sich auf ein Dokument des Roten Kreuz aus dem Jahr 1979, welches ausschließlich Opfer anführt, von denen eine Sterbeurkunde existiert: Es leugnet allerdings nicht die Existenz der übrigen Opfer. Daneben gibt es auch noch diejenigen, welche den Schuldigen am Holocaust Absolution erteilen wollen: Sie sprechen von einem "Schuldkult", wollen ausschließlich stolz auf die positiven Errungenschaften der Geschichte sein, die es zweifelsohne auch gibt, ohne sich mit den negativen Aspekten der Vergangenheit auseinandersetzen zu müssen, bezeichnen Mahnmale als "Denkmal der Schande" und den Mord an 6 Millionen Juden als "Vogelschiss". Aber es gibt auch noch eine Steigerung der Geschmacklosigkeit, nämlich diejenigen, welche den Holocaust toll und lustig finden. Häufig wird Juden auch vorgeworfen, sie hätten den Holocaust erfunden, um davon zu profitieren, etwa um Kritik an Personen jüdischen Glaubens zu verunmöglichen. Beliebt ist auch die Täter-Opfer-Umkehr, bei der behauptet wird, die Juden seien selbst schuld am Holocaust gewesen, oder sie seien selbst schuld am heutigen Antisemitismus - so werden im aktuellen Nahost-Konflikt Israelis schon mal ganz locker von so sympathischen Figuren wie Arafat Abou Chaker mit den damaligen Nazis gleichgesetzt, während Palästinenser als die "neuen Juden" gehandelt werden.

Auffällig ist seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober letzten Jahres die Verschiebung des Antisemitismus in Richtung des islamistischen Lagers, welche auch Einfluss auf einige Gruppierungen hat, die sich selbst als "linksextrem" bezeichnen. Diese betrachten sich vor allem als anti-zionistisch - ohne zu berücksichtigen, dass Kritik an der Politik Israels sehr wohl auch ohne Antisemitismus möglich ist. Eine wirksame Methode, das eine vom anderen zu unterscheiden, ist der von mir schon erwähnte 3D-Test, welcher 2003 formuliert wurde: die Überprüfung kritischer Statements auf Doppelstandards (wird hier mit zweierlei Maß gemessen?), Delegitimierung (wird Israel das Existenzrecht abgesprochen?) und Dämonisierung (werden Israelis als das absolute Böse dargestellt?). Als weiteres "D" könnte man auch noch die De-Realisierung nennen, also die Verfälschung der Geschichte. Ein wesentliches Merkmal, dem man heute immer wieder begegnet, ist allerdings die Gleichsetzung aller Juden mit Israel, die heute vermehrt mit alten den Stereotypen konfrontiert werden - vor allem auf Social Media. Gleichzeitig wird das Symbol der Israel-Flagge mit Emojis wie der Flamme, der Toilette oder Klopapier, dem Schuh, Geldsack, Dollarschein, dem Kotz- oder Kack-Smiley oder der Nase kombiniert. In Videos wird Israel das Existenzrecht abgesprochen, der Nahost-Konflikt und vor allem die Nakba werden absichtlich falsch gedeutet, und man unterschlägt historische Fakten, um Juden als Eindringlinge darzustellen. Ein beliebter Spruch auf Demos ist "from the river to the sea", häufig mit dem Zusatz "palestine will be free". Gemeint ist damit das Gebiet zwischen Jordan (river) und Mittelmeer (sea); der Satz wurde in den 1960er Jahren von der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) geprägt und bedeutet nichts anderes als die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus dem Gebiet Israels.

Gleichzeitig wird auch gern so getan, als sei Kritik an Israel generell verboten, und Leute prophezeien Zensuren, wo gar keine stattfinden - das kennen wir ja auch von diversen Verschwörungsgläubigen. Als Grund für dieses angebliche Kritikverbot wird natürlich der Holocaust angegeben, welcher Juden generell die Absolution erteile, selbst wenn dies zu Lasten anderer gehe. So ist Israelkritik ein willkommener Vorwand für Antisemitismus und die Relativierung des Holocaust, indem man die Palästinenser mit den Opfern dieses vergleicht. So kursieren aktuell auch viele Schlagworte, welche der Situation zwar überhaupt nicht gerecht, dafür aber häufig unreflektiert übernommen werden. Dazu gehört etwa der von Amnesty Interantional formulierte Begriff "Apartheid". Historisch beschreibt dieser die Trennung der Bevölkerung Südafrikas nach Hautfarben bei gleichzeitiger Dominanz durch den eingewanderten Teil aus rassistischen Motiven. Nun kann man nicht generell sagen, dass Rassismus in Israel nicht existiere - eine legale Unterdrückung der arabischen Bevölkerung nach südafrikanischem Vorbild gibt es dort allerdings nicht: so sind im israelischen Parlament durchaus auch Araber vertreten. Ein weiterer Begriff, welcher historische Fakten verdreht, ist das Wort "Kolonialismus", welches die Unterwerfung und Ausbeutung eines fremden Landes bezeichnet. Israel war jedoch als Schutzraum für Juden nach dem Holocaust gedacht, und selbst wenn des dabei nicht immer gerecht zuging, war das Ziel doch nie die Unterdrückung der Palästinenser. Der dritte Begriff, welcher an der Realität vorbeigeht, ist der des "Genozids"; natürlich passieren in einem Krieg auch Kriegsverbrechen, weshalb ich die Definition eines "gerechten Krieges" auch ablehne - das Ziel dieses Krieges ist jedoch nicht die generelle Vernichtung der palästinensischen Bevölkerung, sondern die Ausschaltung der Hamas.

Halten wir also fest: Wir alle machen Fehler, und wenn man mal versehentlich einen antisemitischen Begriff nutzt, heißt das noch lange nicht, dass man generell antisemitisch eingestellt ist - möglicherweise wusste man es nicht besser, und der antisemitismus hat sich so sehr in unserer Sprache und Gesellschaft festgesetzt, dass solche "Schnitzer" mit Sicherheit jedem schon passiert sind. Eines sollte aber klar sein: Kommentare wie "free Palestine" haben unter Artikeln, welche über die Shoah aufklären sollen, oder Posts von Personen jüdischen Glaubens nichts zu suchen - das sollte, denke ich, jedem einleuchten, selbst wenn er (sie, es) meine Meinung nicht teilt -, ebenso wenig wie Davidsstern-Symbole auf Hausmauern oder antisemitische Parolen auf Demonstrationen. Und den Tod von Menschen jüdischen Glaubens zu feiern ist ebenso unangebracht wie Rassismus gegen Muslime. Vor allem aber reicht es nicht, nur im Internet Haltung zu zeigen: Noch wichtiger ist es, draußen in der realen Welt Stellung zu beziehen. Denn "nie wieder" darf keine hohle Phrase bleiben.

vousvoyez


https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-10/nahost-glossar-israel-palaestinenser-geschichte

https://www.juedische-allgemeine.de/meinung/die-menschen-in-gaza/

https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/faktencheck-lanz-precht-110-ueber-israel-den-gazastreifen-und-orthodoxe-juden/


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