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Nun, diese Tage sind schon lange vorbei, Blau musste inzwischen Grün weichen, aber so viel besser ist unser Leben deswegen nicht geworden - eher das Gegenteil, auch wenn die Regierung daran zur Abwechslung mal nicht schuld ist. Ein sehr schwieriges Jahr geht gerade zu Ende, und wir alle haben nur den einen Wunsch, nämlich, dass das nächste uns Erleichterung verschafft - auch wenn die Meinungen darüber, wie das erreicht werden soll, mitunter weit auseinandergehen. Viele sperren sich noch dagegen, sich impfen zu lassen, aber ich bin echt neugierig, wie lange das dauert - vor allem bei jenen, die sich nur deshalb als die großen Rebellen aufspielen, weil das momentan bequemer ist, als sich der Realität zu stellen. Aber darüber möchte ich gar nicht sprechen - ich möchte mich einer Phrase widmen, mit der ich mich an dieser Stelle schon auseinandergesetzt habe, der aber im Jahr 2020 eine besondere Bedeutung zukam. Ich möchte wieder über Cancel Culture sprechen.
Nun habe ich ja bekanntlich (und oben verlinkt) schon einen anderen Artikel verfasst, in dem ich mich damit auseinandergesetzt habe. Und nein, ich nehme kein einziges Wort davon zurück. Allerdings ändert das nichts daran, dass "cancel culture" sich im Laufe von 2020 zu einem weiteren Unwort entwickelt hat, das sofort zur Anwendung kommt, sobald von unliebsamer Seite Kritik geübt wird - und zwar ist es besonders beliebt bei Rechtsgestrickten oder auch bei Personen des öffentlichen Lebens, die in ihren Aussagen durchaus als fragwürdig bezeichnet werden können, etwa dem Entertainer Dieter Nuhr oder auch Julian Reichelt, seines Zeichens Chefredakteur der BILD-Zeitung. Gemeint ist damit in diesem Zusammenhang, dass die linksgrünversifften Gutmenschen die Meinungsfreiheit abschaffen und ihr eine politisch korrekte "Meinungsdiktatur" entgegensetzen wollen, in der man überhaupt nichts mehr sagen darf. Schluchz! Und nein, meine Lieben, das ist nicht dasselbe wie das Bestreben, diskriminierende Fehltritte der Vergangenheit totschweigen zu wollen. Denn der Unterschied ist: Wer sich heute diskriminierend äußert, tut dies zumindest größtenteils in vollem Bewusstsein dessen - und wer sich grundsätzlich weigert, Kritik anzunehmen, der sollte sich überlegen, ob er überhaupt dazu geeignet ist, Person des öffentlichen Lebens zu sein. Denn egal was du tust, es wird immer irgendjemanden geben, dem es nicht passt - noch mehr, wenn viele Leute dich kennen.
Nun scheint es ja heutzutage in jenen Kreisen, die sich am lautesten und ausdauerndsten über cancel culture aufregen, en vogue zu sein, Witze zu reißen, die nur so strotzen vor Menschenverachtung, um dann hinterher zu erklären, das sei "schwarzer Humor". Bei so manchem Zeitgenossen, der ansonsten durchaus als intelligent und eloquent zu bezeichnen ist, scheint das so weit zu gehen, dass dessen geistiges Niveau unter den Meeresspiegel sinkt, sobald er bzw. sie versucht, witzig zu sein. Das liegt wohl vor allem daran, dass diese Leute sich einbilden, dass jeder, der nicht dasselbe witzig findet wie sie selbst, deswegen automatisch spießig oder gar prüde ist - im Gegensatz dazu kann man sich selbst dann besonders modern, aufgeschlossen, edgy, innovativ, vielleicht sogar avantgardistisch vorkommen. Lustigerweise sind das häufig dann auch diejenigen, für die es zwar voll okay ist, sich über Klischees, die sie selbst nicht betreffen, lustig zu machen, weil das ja "schwarzer Humor" ist, die allerdings sofort zu heulen anfangen, sobald diese sie selbst betreffen. Denn der privilegierte, ignorante, heterosexuelle Weiße soll selbstverständlich immer differenziert betrachtet werden, während eine Frau sich gefälligst nicht so anstellen soll, wenn man sie zum hundertsten Mal auf ihren Körper reduziert, und ein Schwarzer gefälligst zu lachen hat, wenn er den tausendsten bescheuerten Witz über sein angeblich übergroßes "bestes Stück" zu hören bekommt.
Und wenn dann der eine oder andere Betroffene - oder auch jene, die Diskriminierung einfach nicht gut finden - Kritik übt, dann wird sehr schnell einmal von cancel culture gesprochen. Und häufig auch dramatisiert: So gab es diesen Sommer eine Riesendebatte um cancel culture, nachdem die Kabarettistin, Poetry-Slammerin und inzwischen auch Autorin Lisa Eckhart vom Harbour Front Literaturfestival in Hamburg ausgeladen wurde, nachdem der "Schwarze Block" angeblich mit Gewalt gedroht habe, sollte sie dort tatsächlich auftreten (nach einem gewaltigen Aufschrei wurde die Ausladung allerdings wieder zurückgezogen). Ich muss zugeben, anfangs habe ich das auch geglaubt - und egal ob mir ein Künstler bzw. eine Künstlerin gefällt oder nicht, das geht für mich überhaupt nicht klar. Selbstverständlich ist Kritik erlaubt und auch wünschenswert, aber dann bitte auf sachlicher Ebene. Im übrigen finde ich es auch nicht in Ordnung, dass man Frau Eckhart so schnell ausgeladen hat. Ich gebe offen zu, ich mag ihre "Kunst" überhaupt nicht - sie ist für mich das beste Beispiel jener, die außer Provokation, wenn auch gewandet in vermeintlicher Eloquenz, nichts zu bieten haben und dazu tendieren, jeden geistigen Müll als "schwarzen Humor" zu bezeichnen. Nicht alles, was provokativ ist, ist deswegen automatisch gut. Allerdings finde ich auch - wenn man jemanden einlädt, dann sollte man auch dazu stehen, und wenn man sich nicht über eine Person informieren kann, bevor man sie einlädt, dann muss man die Konsequenzen eben tragen. Aber auch das hat nichts mit cancel culture zu tun - wer eine Veranstaltung ausrichtet, entscheidet selbst, wen er ein- oder auslädt. Das kann man gut finden oder auch nicht - es ist eben so. Und Frau Eckhart scheint das auch nicht geschadet zu haben - ganz im Gegenteil, denn durch diese false-flag-Aktion konnte sie sehr viele Leute auf ihre Seite ziehen, die unter normalen Umständen gar nichts mit ihr anfangen könnten, weil sie als "Opfer einer eingeschränkten Kunstfreiheit" gehandelt wird.
Aber Frau Eckhart macht ja nur Satire, sagst du, und hält anderen Leuten damit den Spiegel vor! Nun - das hat allerdings auch nur dann einen Wert, wenn man sich selbst im Spiegel erkennt. Solche Argumente kommen aber hauptsächlich von jenen, die glauben, es gehe um die anderen und nicht um sie selbst. Häufig vergleicht man das auch mit Helmut Qualtingers Monolog Der Herr Karl, nach dessen Uraufführung im ORF die Telefone heiß liefen durch jene, die sich ertappt fühlten. Aber genau das ist eben der Unterschied zu Frau Eckhart - der Herr Karl präsentiert sich als der durchschnittliche Kleinbürger, der sein Fähnchen immer nach dem günstigsten Wind dreht und stets mit jenen mitläuft, die gerade den Ton angeben, ohne diese Haltung je in Frage zu stellen. Das war zu einer Zeit, als der Österreicher sich gerne als unschuldiges Opfer des nationalsozialistischen Deutschland sah - der Monolog des Herrn Karl gehörte zu den ersten künstlerischen Werken, die aufzeigten, wie verlogen diese Haltung in Wirklichkeit war (und bis heute ist). Insofern haben wir unseren geliebten Nachbarn so einiges voraus - heutzutage hört auch so mancher Deutscher gar nicht gern, dass seine Vorfahren in Wirklichkeit keine armen Opfer gewesen sein sollen. Das Geniale am Herrn Karl ist vor allem jener Mechanismus, den ich auch schon bei Otto, der Film angesprochen habe - der Herr Karl präsentiert sich nicht als brüllender, gewalttätiger Nazi, sondern als sympathischer, charmanter, etwas naiv wirkender Allerweltsmensch, sozusagen als der nette Nachbar, den man vor einer Urlaubsreise darum bitten würde, die Blumen zu gießen und den Wellensittich zu füttern (siehe dazu auch Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen von Hannah Arendt). Diese Kombination war es letztendlich auch, die hierzulande für eine gewaltige Welle der Empörung gesorgt hat - der Vergleich mit den getroffenen Hunden liegt hier natürlich nahe.
Was Frau Eckhart betrifft, so bedient diese sich auf betont künstlich-theatralische Weise der billigsten Klischees - wobei hier der schlechten Gegenwart eine vermeintlich bessere Vergangenheit gegenüber gestellt und sich so ans Publikum angebiedert wird. Wer sich im Spiegel erkennt bzw. erkennen will, lacht über die eigenen Fehler - vorgeführt werden ihm aber lediglich die Fehler der anderen, und über die zu lachen ist ja bekanntlich nicht schwer. Schon als Kind wurde mir beigebracht, dass eine humorvolle Person sich selbst immer mit einbezieht und dass ein guter Satiriker den Spiegel auch nutzt, um selbst hineinzuschauen - und das sehe ich bei einer Frau Eckhart nun einmal nicht. Im Gegenteil - sie beruft sich auf eine "Kunstfigur", von welcher sowohl sie selbst als auch der Zuschauer immer ganz bequem weit entfernt sind. So kann sie sich auch selbst relativ einfach jeglicher Debatte entziehen - bis sie eben gezwungen ist, doch mal Stellung zu beziehen, etwa dann, wenn die AfD sie vor ihren Karren spannen will. Und diejenigen, die sich für besonders progressiv halten, offenbaren in Wirklichkeit genau das Gegenteil - nämlich Borniertheit und Kleingeistigkeit. Aber vielleicht irre ich mich auch - nichts liegt mir ferner als Unfehlbarkeit, und wer eine andere Meinung hat, darf sie selbstverständlich auch haben. Um ehrlich zu sein, hoffe ich auch ein bisschen, dass ich mich irre. Aber nur ein ganz kleines bisschen!
Selbstverständlich wird die so bezeichnete cancel culture nun auch häufig dazu verwendet, das Ende der Demokratie heraufzubeschwören - denn immerhin wird hier eine ihrer heiligen Kühe, nämlich die Kunstfreiheit, angegriffen. Dabei übersieht man jedoch eines: Gerade die Diskussion über einen Künstler und dessen Werk sowie die Entscheidung, ob man dieses konsumieren will oder soll, ist alles andere als undemokratisch. Reichweite ist kein Naturgesetz, das einem automatisch zugestanden werden muss - vielmehr hängt es immer von den Entscheidungen des Einzelnen ab. Ich hätte mit Sicherheit eine viel größere Reichweite, würde ich mich nicht standhaft weigern, diesen Blog hier zu monetarisieren - aber das ist eine bewusste Entscheidung, die ich ändern kann oder auch nicht. Ich kann mich nicht beschweren, dass diese Zeilen von eher wenigen Leuten gelesen werden, wenn ich nichts tue, um dies zu ändern. Aber wisst ihr was - es hat auch Vorteile, nicht populär zu sein. Denn im Gegensatz zu anderen muss ich mich nur sehr selten mit dem Bodensatz der Online-Community auseinandersetzen. Und darüber bin ich, ehrlich gesagt, nicht wirklich beleidigt - zumal der Anteil meiner Leser sich im letzten Jahr deutlich erhöht hat. Im Gegenzug entscheide ich allerdings auch selbst darüber, was ich konsumiere und was nicht, was ich gut finde und was nicht, kurz - ich nehme meine Stellung als mündiger Bürger wahr, indem ich die Inhalte, die ich konsumiere, ebenso hinterfrage und mir gleichzeitig auch dessen bewusst bin, dass ich als Einzelperson sehr wohl einen Einfluss auf deren Reichweite habe, und sei er auch noch so klein. Gleichzeitig kann ich auch nicht davon ausgehen, dass mein persönlicher Geschmack für andere immer auch Relevanz hat - was für mich eher unwichtig ist, kann für andere durchaus wichtig, vielleicht sogar verletzend sein und umgekehrt. Und ein Witz ist ja auch im jeweiligen Kontext zu betrachten - so kann ich über die Frauenwitze meines Bruders durchaus lachen, weil ich ihn kenne und weiß, dass er nicht der Ansicht ist, dass Frauen außerhalb der Küche nichts verloren haben, und dies auch schon durch Taten bewiesen hat.
Nun muss ich zugeben, dass ich kein großer Freund von Boykottaufrufen bin - wie ich in meinem oben verlinkten Artikel auch anklingen ließ. Der Grund ist, dass diejenigen, die diese Waffe nutzen, sich häufig nicht bewusst sind, wie mächtig sie eigentlich ist - und dass sie sich leicht gegen die Falschen richten lässt. Dies lässt sich auch bezüglich der Art von cancel culture beobachten, über die ich damals gesprochen habe - sobald jemand sich auch nur einen Fehltritt erlaubt, wird häufig gar nicht mehr auf den Kontext geschaut, sondern sofort ein vollständiger Boykott gefordert. Aber nicht jede Kritik an einem Künstler bzw. dessen Werk ist gleich ein Boykottaufruf - und überdies haben auch nicht unbedingt ausschließlich "Linke" und "Gutmenschen" bezüglich dessen besonders oft Aufmerksamkeit erlangt. Systematische Hetzjagden gab es allerdings sehr häufig gerade von rechtsextremer Seite - und da reichten oftmals Kleinigkeiten zur Eskalation, die sich nicht in Aufrufen, gewisse Inhalte nicht mehr zu konsumieren, erschöpften, sondern häufig in Gewaltphantasien, sexueller Belästigung oder sogar Morddrohungen gipfelten.
Nun sind Scheindebatten, die durch den Begriff cancel culture angerichtet wurden, alles andere als hilfreich - im Gegenteil, sie spielen nur denjenigen in die Hände, die sich dadurch in ihrem Weltbild einer "linken Meinungsdiktatur" bestätigt fühlen. Auf diese Weise können diese nämlich von ihrem eigenen Bestreben ablenken, jede kritische Stimme durch falsche, überzogene Vorwürfe systematisch aus der Öffentlichkeit zu mobben. Was ich mir für die Zukunft wünsche, ist, dass wir wieder lernen, unser Gegenüber nach den Inhalten zu bewerten, die es transportiert, anstatt uns auf Oberflächlichkeiten zu beschränken - und vor allem, dass wir wieder anfangen, einigermaßen gesittet zu kommunizieren und nicht alles auf radikalisierte Narrative zu reduzieren. Kunst lebt von offenem Diskurs und nicht von kritikloser Anbetung - ansonsten hätte es diesbezüglich nie eine Entwicklung gegeben. Ich kann nicht sagen, ob wir uns in diesem Jahr noch einmal lesen, aber eines ist klar - ich komme wieder, keine Frage!
vousvoyez
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