Mittwoch, 2. Dezember 2020

Jeder Mensch hat das Recht auf seinen röhrenden Hirsch

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Das spätromantische Motiv des röhrenden Hirsches ist heutzutage ja bekanntlich der Inbegriff von Kitsch und Spießigkeit - besonders, wenn es in gediegenem Rahmen ans Kopfende des Bettes gehängt wird. Da gehört es wohl auch hin, denn immerhin wird hier ja das Balzritual eines Tieres dargestellt - passenderweise auch ein recht patriarchales. Passionierte Maler röhrender Hirsche wie Christian KrönerGuido von Maffei und Moritz Müller malten diese am liebsten in Seitenansicht und mit einer Hauchfahne vor dem Maul. Etwa ab den 1960ern kam der röhrende Hirsch allerdings allmählich aus der Mode - und nachdem er bereits seit Jahrzehnten vielfach kopiert in den hintersten Winkeln der Antiquitätengeschäfte versauert, nimmt heutzutage keiner mehr sein Recht auf ihn in Anspruch. Ein Jammer! Wobei der arme Hirsch vor dem Zweiten Weltkrieg schon nicht so häufig hinters Bett gehängt wurde wie etwa der Elfenreigen oder Josef Untersbergers Christus am Ölberg. So kann's gehen!

Und nachdem ich euch jetzt unbeabsichtigt zweimal mit den intellektuell Benachteiligten unserer Gesellschaft gequält habe, möchte ich jetzt wieder mal auf Vergnüglicheres zurückkommen und meine Recherchen über Disney-Filme fortsetzen. Wobei ich mich heute zweien widmen will, die mich durch meine eigene Kindheit begleitet haben und sich um zwei mittelalterlichen Sagengestalten drehen, deren Legenden die europäische Literatur mitgeprägt haben. Zufällig führte bei beiden auch Wolfgang Reithermann Regie.

Der erste Film, mit dem ich mich heute befassen will, ist The Sword In The Stone (dt. Die Hexe und der Zauberer) aus dem Jahr 1963. Seine literarische Vorlage stammt von dem britischen Autor T. H. White und heißt The Once And Future King (dt. Der König auf Camelot) - die Disney-Version behandelt allerdings nur den ersten der insgesamt fünf Bände dieses Klassikers der Fantasy-Literatur. Die Romanreihe umfasst die Lebensgeschichte des englischen Sagenkönigs Arthur (auch Artus) genannt von der Kindheit bis zum Tod - wobei der erste Band seine Jugendjahre bis zu seiner Berufung zum König umfasst. Im Film ist Arthur ein zwölfjähriger Junge, der vom Ritter Sir Hector zusammen mit dessen leiblichem Sohn Kay großgezogen und abwertend "Floh" genannt wird. Er ahnt nichts von seinem Schicksal - ganz im Gegensatz zum Zauberer Merlin, der Jahrhunderte voraus in die Zukunft sehen kann und deshalb die Bestimmung des Buben bereits kennt. Er wird sein Mentor, was sich vor allem darin äußert, dass er ihn in verschiedene Tiere verwandelt, um ihn über die Geheimnisse und Tücken des Lebens aufgeklärt. In einen Vogel verwandelt, landet Floh auf der Flucht vor einem Habicht schließlich im haus der bösen Hexe Mim, die ihre Zauberkunst für wesentlich stärker hält als die Merlins, ihm allerdings im anschließenden Zauberturnier unterliegt. Floh wird schließlich Knappe seines Ziehbruders Kay, der in London an einem Turnier um die Krone von England teilnimmt. Dort entdeckt er das Schwert in dem Stein, von dem am Beginn des Films die Rede ist und von dem die Legende besagt, dass derjenige, der imstande ist, es aus dem Stein zu ziehen, der rechtmäßige König von England ist. Nichtsahnend zieht Floh das Schwert heraus, nachdem er das von Kay vergessen hat, und findet sich plötzlich auf den Königsthron wieder. Nachdem er sich der Aufgabe anfangs nicht gewachsen fühlt, überzeugt ihn Merlin schließlich, sie anzunehmen.

Über die Hintergründe der Geschichte wird im Film keine Auskunft gegeben: Der Sage nach ist Arthur der Sohn des alten Königs Uther Pendragon ist, der im ständigen Krieg gegen die Schotten, Iren und Sachsen sein Leben verlor. Um das Leben seines Sohnes, des rechtmäßigen Erben, zu retten, wird Arthur von Merlin selbst in die Obhut des Ritters Hector gegeben, und Merlin war es auch, der das Schwert Excalibur, dessen Name im Film ebenfalls nicht genannt wird, geschmiedet und in den Stein getrieben hat, aus dem es nur der wahre König Englands wieder herausziehen kann. Dass all das im Film ausgelassen wird, spielt jedoch keine Rolle, da man der Geschichte auch so ganz gut folgen kann - das gab mir Jahre später im Englischunterricht sogar die Motivation, noch mehr über diesen Sagenkreis zu erfahren. Im Vergleich zu den meisten Disney-Filmen war Die Hexe und der Zauberer nicht ganz so erfolgreich, ich finde online auch nur wenig gute Kritiken, allerdings denke ich persönlich, dass er in puncto Charakterentwicklung und Lernmöglichkeiten den kommerziell erfolgreicheren Filmen in nichts nachsteht. Vor allem von der Hexe Mim sind in meiner Familie so tolle Sprüche überliefert wie "Ich hasse die Sonne!" und "Hab ich was gesagt von keinen lila Drachen?" Die Hexe und der Zauberer war übrigens auch der letzte Kinofilm, der noch zu Disneys Lebzeiten veröffentlicht wurde.

Wie schon erwähnt, behandelt der Film die Artuslegende, die ab dem 12. Jahrhundert fester Bestandteil der höfischen Literatur war. Sie ist übrigens auch eng mit dem Sagenkreis um den Zauberer Merlin, den Heiligen Gral und die Wilde Jagd verbunden. Der historische Kern der Artuslegende wird in der Zeit der Völkerwanderung um 500 n. Chr. verortet - ein historischer König Artus/Arthur ist allerdings nicht belegt. Heute wird vermutet, dass die Geschichte sich aus mündlichen Überlieferungen entwickelt hat, die von Briten, die vor den Angelsachsen aufs europäische Festland geflüchtet waren, in die französische Bretagne gebracht wurde. Von dort aus verbreitete sich die Legende über die Normannen über fast ganz Europa bis hinauf nach Skandinavien. Ich selbst habe mich im Studium ebenfalls mit Versatzstücken der Artuslegende befasst, die Eingang in die mittelalterliche Literatur des deutschsprachigen Raums fanden - etwa mit dem mittelhochdeutschen Versroman Parzival des Dichters Wolfram von Eschenbach. Dazu muss man vor allem wissen, dass vor dem 18. Jahrhundert noch kein Verständnis des "geistigen Eigentums" existierte - Dichter hatten nicht die Aufgabe, eigene Geschichten zu erfinden, sondern, bereits bekannte Geschichten neu zu interpretieren, wobei es zum guten Ton gehörte, sich möglichst großzügig anderer Quellen zu bedienen. So sehr, dass viele von ihnen die Quellen sogar erfanden, um selbst erfundene Zugaben mit reinzuschmuggeln. Auf diese Weise wurden Legenden nicht nur tradiert, sondern im Laufe der Zeit auch ausgeschmückt, bis sie schließlich mit der Ursprungsgeschichte wenig bis gar nichts mehr zu tun hatten. Das gibt es heute zwar auch noch, wird aber wesentlich transparenter gehandhabt, als es damals der Fall war - was natürlich auch daran liegt, dass wir, im Gegensatz zu damals, eine durch und durch alphabetisierte Gesellschaft sind. So verfuhr man auch mit der Artuslegende, die, in spätantiker Zeit angesiedelt, größtenteils nach mittelalterlichen Wertmaßstäben des Christentums und Feudaladels erzählt wurde und auch keltische und orientalische Elemente in sich aufnahm; mit der Legende um den Heiligen Gral fanden auch Versatzstücke der christlichen Liturgie und des Reliquienkultes darin Eingang, und auch die vom anglo-normannischen Dichter Wace erstmals eingeführte Tafelrunde wurde fester Bestandteil der Geschichte.

Die erste schriftlich überlieferte vollständige Artusgeschichte befindet sich in der Historia Regnum Britanniae (Geschichte der Könige Britanniens) von Geoffrey of Monmouth aus der Zeit um 1135. Die Legende verbreitete sich zwischen dem 12. und dem 14. Jahrhundert ausgehend von Frankreich, und spätestens in der Barockzeit schien sie zur Allgemeinbildung gesellschaftlich Bessergestellter zu gehören. Vor allem die spätmittelalterliche Hanse scheint eine Hochburg der Artus-Verehrung gewesen zu sein - im 15. Jahrhundert bauten Händler sogar einen Artushof in Danzig (heute Polen). Auch in Tirol sind noch zahlreiche mittelalterliche Wandmalereien mit Artus-Motiven erhalten, etwa in der Burg Runkelstein in der Nähe von Bozen, Südtirol. Andere Herrscher schmückten sich ebenfalls gerne mit den Mythen um König Arthur, um sich selbst populärer zu machen - so wurde von Richard Löwenherz behauptet, er sei im Besitz des Schwertes Excalibur gewesen.

Womit wir schon beim nächsten Film wären, über den ich heute sprechen will, und die Legende, auf die er sich bezieht. Es handelt sich um Robin Hood aus dem Jahr 1973, der über Jahre hinweg mein Lieblingsfilm war. Robin Hood ist bekanntermaßen ein englischer Volksheld, der zentraler Held vieler spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Balladenzyklen, dessen Geschichte natürlich auch schon oft verfilmt wurde - ich erinnere mich beispielsweise an den (aus heutiger Sicht ziemlich blöden) Film Robin Hood - König der Vagabunden von 1938 mit Erol Flynn in der Hauptrolle, der allerdings viele spätere Werke geprägt hat; an Kevin Reynolds' actionreiches Spektakel Robin Hood - König der Diebe von 1991 mit Kevin Costner in der Hauptrolle, den ich mir damals natürlich nicht anschauen durfte; und an Mel Brooks' alberne Parodie Robin Hood - Helden in Strumpfhosen, der unverkennbar an Reynolds' Film angelehnt ist. Außerdem möchte ich den Film Robin and the 7 Hoods (dt. Sieben gegen Chicago) nicht unerwähnt lassen, eine leider nicht sehr bekannte Gangster-Komödie aus dem Jahre 1964, in der die Robin-Hood-Geschichte durch Frank Sinatra, Dean Martin, Sammy Davis Jr. und Bing Crosby persifliert wird - in Erinnerung blieb mir vor allem jene Szene, in der ein Tanzlokal kurzerhand zu einer Kirche umfunktioniert wird und all die Schluckspechte auf einmal angesichts ihrer Alkoholsucht Abbitte leisten. Die erste Robin-Hood-Geschichte, die ich allerdings kannte, war eben jener Film von Disney.

Das Besondere an diesem Film ist, dass hier die Charaktere durch anthropomorphe Tiere dargestellt werden - Robin Hood und Maid Marian sind Füchse, Little John ist ein Bär, Bruder Tuck ein Dachs, Alan A'Dale ein Hahn, König Richard und Prinz John sind Löwen, der Sheriff von Nottingham ist ein Wolf und so weiter. Die Handlung ist im Wesentlichen gleich wie in den meisten anderen moderneren Nacherzählungen dieses Stoffes: Richard Löwenherz, König von England, befindet sich auf einem Kreuzzug im Heiligen Land, woraufhin sich sein Bruder John des Throns bemächtigt und die Bevölkerung unterjocht, um sich durch horrende Steuern selbst zu bereichern. Robin Hood und seine Gefolgsleute sind König Richard jedoch treu geblieben und lassen keine Gelegenheit aus, die Reichen zu berauben, um deren Vermögen an die Armen zu verteilen. Um diesen endlich zur Strecke zu bringen, provoziert Prinz John seinen Ehrgeiz, indem er ein Bogenturnier veranstaltet und als ersten Preis einen Kuss von Maid Marian in Aussicht stellt, für die Robin Hood immer schon eine Zuneigung hatte. So kommt Robin als Storch verkleidet zu dem Turnier und wird von Prinz John enttarnt, kann aber der Hinrichtung mit Hilfe seiner Freunde entkommen. In der Folge werden die Steuern so sehr erhöht, dass sich die arme Landbevölkerung kaum noch ernähren kann; wer die Steuer nicht entrichten kann, wird verhaftet. Erneut versucht Prinz John, seinen Widersacher zur Strecke zu bringen, indem er die Hinrichtung des ebenfalls inhaftierten Bruder Tuck plant, damit Robin Hood zu seiner Rettung eilt. Zusammen mit Little John befreit dieser ihn und die anderen Gefangenen und teilt die aus Prinz Johns Schlafkammer gestohlenen Geldsäcke unter ihnen, wobei er nur mit knapper Not den Schergen Prinz Johns entgeht. Am Ende kommt König Richard zurück, kommandiert seinen Bruder und dessen Anhänger zu Strafarbeiten im Steinbruch ab, und Robin Hood heiratet seine Maid Marian.

In dem Film werden einige Szenen aus älteren Werken - etwa aus dem Dschungelbuch und Aristocats - wiederverwertet, außerdem hat Little John sowohl im Englischen (Phil Harris) als auch im Deutschen (Edgar Ott) den gleichen Synchronsprecher wie Baloo der Bär. Ebenfalls erwähnenswert ist die akzentfreie Synchronstimme von Prinz John sowohl im englischen Original als auch in der deutschen Fassung, die von Peter Ustinov gesprochen wird, während Alan A'Dale im Englischen von dem Countrysänger Roger Miller, im Deutschen von dem Liedermacher Reinhard Mey gesprochen wird. Hervorzuheben ist vor allem der Humor, der von allen Altersklassen verstanden wird - trotzdem wird das Elend der Unterdrückten nicht ausgespart und auf kindgerechte Weise erklärt.

Wie auch bei König Arthur, so ist auch ein historischer Robin Hood nicht belegt - die Figur veränderte sich im Laufe der Zeit stark. Ursprünglich ein gefährlicher Wegelagerer einfacher Herkunft, der habgierige Geistliche und Adelige beraubt und sich dabei mittelalterlich-grausamer Praktiken bedient, entwickelte er sich im Laufe der Zeit zu einem enteigneten angelsächsischen Adeligen und in der Folge zu einem Vorkämpfer für soziale Gerechtigkeit - ein Motiv, das etwa im 16. und 17. Jahrhundert aufkam. Auch der Ort seines Wirkens variiert zwischen Sherwood Forest (Nottinghamshire) und Barnsdale Forest (South Yorkshire), ehe er auf Sherwood Forest festgelegt wurde. Der Name Robin Hood taucht erstmals in sechs verschiedenen Quellen aus dem 13. Jahrhundert auf - damals galt er in England allerdings als Synonym für "Gesetzesbrecher", weshalb man annimmt, dass die mündliche Überlieferung bereits damals schon über längere Zeit im Volk verbreitet war. In der schottischen Geschichtsschreibung finden sich auch Parallelen zwischen Robin Hood und dem schottischen Freiheitskämpfer William Wallace. Der erste, der die Geschichte von Robin Hood in die Zeit der Gefangenschaft des englischen Königs Richard Löwenherz durch Heinrich VI. 1192 - 1194 verlegte, war der schottische Renaissance-Schriftsteller, Theologe und Philosoph John Major, der auch das heute vorherrschende positive Bild des human agierenden Räuberhauptmanns prägte, dessen Gesetzesbrüche einzig dem Wohl der Bedürftigen dienten. Im Großen und Ganzen tauchen viele Eigenschaften, die den populären Robin Hood bis heute prägen, jedoch schon in den spätmittelalterlichen Balladen auf: Er lebt mit seinen Gefährten als Geächteter im Wald, widersetzt sich dem repressiven Jagdverbot in den königlichen Forsten, ist der Feind der als korrupt beschriebenen weltlichen und geistlichen Oberschicht, aus der seine bevorzugten Opfer stammen, ein ausgezeichneter Kämpfer und Bogenschütze, der als tollkühn, listig und lebensfroh, aber auch als fromm beschrieben. Einfache Leute behandelt er stets freundlich, auch wenn in den frühen Werken von der Verteilung der Beute an die arme Bevölkerung noch nicht die Rede ist.

Das Bild Robin Hoods als Sozialrevolutionär prägten vor allem die erstmals 1425 in Exeter bezeugten Robin-Hood-Spiele, die bis in die frühe Neuzeit Bestandteil des englischen Maifestes waren, in deren Rahmen vielerorts von als Robin Hood und seine Gefährten verkleidete Schauspieler Wohltätigkeitssammlungen durchführten. Zu diesen Spielen gehörte auch eine Art volkstümliches Tanztheater, bei dem etwa der Charakter der Maid Marian eingeführt wurde, wohl nach dem Vorbild der französischen Hirtenromanze Jeu de Robin et Marion von Adam de la Halle aus dem Jahre 1283. In der elisabethanischen Ära wird Robin Hood in den Dramen The Downfall and Death of Robert, Earl of Huntington (1601) von Anthony Munday und Henry Chettle zu dem im Titel genannten Grafen, während Marian mit Matilda, der Tochter des anglonormannischen Adligen Robert Fitzwalter, gleichgesetzt wird. Ende des 18. Jahrhunderts verfasste der Antiquar Joseph Ritson eine Anthologie der ihm bekannten Balladen, die vor allem Walter Scotts Roman Ivanhoe von 1819 nachhaltig beeinflusste, in dem Robin Hood zwar nur eine Nebenrolle einnimmt, mit dem aber ein Bild von ihm geschaffen wird, an dem sich viele spätere Autoren bis heute orientieren.

Wie ihr augenscheinlich mitbekommen habt, liegen mir diese beiden Filme sehr am Herzen - vor allem aber bieten sie viel Stoff zum Aufarbeiten, so dass ich tatsächlich wieder mal Mühe hatte, mich so kurz wie möglich zu fassen. Natürlich gibt es auch weiterhin noch Stoff für Fortsetzungen, ich werde auch sicherlich noch genügend andere literarische und filmische Quellen aus meiner Kindheit finden, denen ich mich zu gegebener Zeit widmen kann. Bis dahin bon voyage!

vousvoyez

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