![]() |
(c) vousvoyez |
Manche halten wohl meine Faszination für urbane Legenden für verrückt - zumal ich ja nicht wirklich daran glaube. Aber ich finde es immer wieder interessant, wie viele davon im Umlauf sind - und wie viele immer noch geglaubt werden, obwohl sie eindeutig widerlegt sind. Und was für Geschichten aus ganz simplen Sachverhalten entstehen können Vor allem aber habe ich bei meiner letzten Recherche ein paar sehr vielversprechende Quellen gefunden. Und nachdem ich kürzlich erst wieder von einer urbanen Legende gehört habe, möchte ich euch diese heute erzählen.
Diese Legende ist jüngeren Datums und hängt mit einem sehr tragischen und auch grausamen Fall zusammen, der sich im Jahr 2004 in einer japanischen Grundschule abgespielt hat. Damals, genauer gesagt am 1. Juni, wurde ein zwölfjähriges Mädchen in einer Schule in Sasebo, einer Stadt, die zur Präfektur Nagasaki gehört, von einer Mitschülerin umgebracht. Die Elfjährige attackierte ihr Opfer mit einem Teppichmesser, schlitzte ihm die Kehle und die Arme auf. Nicht lange nach der Tat kursierte das Foto der Tatverdächtigen im Internet; es zeigt ein völlig normal wirkendes asiatisches Mädchen vor einem Schulgebäude in einem lilafarbenen Pullover der University of Nevada, weshalb sie bald unter dem Namen "Nevada-tan" im Internet bekannt wurde - wobei "tan" eine Variation der japanischen Verniedlichungsform "chan" ist -, da nach japanischem Recht die Namen minderjähriger Täter nicht veröffentlicht werden dürfen. Das Mädchen tauchte schon bald als typischer Manga-Cartoon auf - ein Kind in einem blutbefleckten Nevada-Pullover mit einem Messer in der Hand -, aber auch auf Cosplay-Veranstaltungen und Comic Cons, es gab sogar eine Band, die sich nach ihr benannte (die heute allerdings Panik heißt), und so wurde sie zu einer Art Internet-Berühmtheit, vor allem eben aufgrund ihres für eine Mörderin ungewöhnlich jungen Alters. Nach der Tat wurde die Schülerin in einem Jugendheim in Nagasaki untergebracht, von wo aus sie im September 2004 in eine Strafanstalt für jugendliche Mädchen in der Präfektur Tochigi überstellt wurde, der einzigen in ganz Japan, in der es möglich ist, Insassinnen in Isolationshaft zu nehmen. Dort blieb sie bis zu ihrer Entlassung im Jahr 2013. Was aber war geschehen, dass eine Elfjährige ein anderes Kind mit einem Teppichmesser umbrachte? Hier kommt nämlich die urbane Legende der sogenannten Red Rooms ins Spiel.
Dieses Mädchen soll nämlich häufig im Internet gewesen sein und dort auch eine eigene Website betrieben haben. In der Kommentarfunktion dieser Website soll ihr Opfer sie denn auch beleidigt haben, weshalb es an jenem 1. Juni zum Streit zwischen den beiden Mädchen mit letztendlich tödlichem Ausgang gekommen sein soll. Nun - Streitigkeiten und Zickenkriege sind unter frühpubertären Mädchen bekanntlich nichts Ungewöhnliches. Trotzdem würden wohl nur sehr, sehr wenige auf die Idee kommen, deswegen gleich einen Mord zu begehen - zumal ich nicht denke, dass dies ein Mord im Affekt gewesen sein kann, denn wie viele elfjährige Schulmädchen laufen regelmäßig mit einem Teppichmesser durch die Gegend? Aber wie so häufig, wenn ein junger Mensch die Hemmschwelle überschreitet und ein anderes Leben beendet, so ist natürlich nie das soziale Umfeld dafür verantwortlich, sondern selbstverständlich ausschließlich der Medienkonsum. *sarcasm* Und so soll es auch in diesem Fall gewesen sein - denn jene Elfjährige, die als Nevada-tan bekannt wurde, soll sich regelmäßig in sogenannten Red Rooms aufgehalten haben. Nun, was sind Red Rooms? Als "Red Rooms" bezeichnet man Internetseiten mit interaktiven Live-Streams, die übertragen sollen, wie echte Menschen gefoltert und misshandelt, manchmal sogar getötet werden - man kann dabei zuschauen oder sich sogar über Live-Chats aktiv einbringen, indem man beispielsweise vorschlägt, was mit dem Opfer als nächstes passieren soll. Heute findet man solche Seiten nur noch in den Untiefen des legendären Darknet, aber damals sollen sie in Asien auch über normale Suchmaschinen wie Google auffindbar gewesen sein. Vor etwa einem Jahr gab es auch Gerüchte, dass der eine oder andere Red Room über normale Browser zu finden sein soll.
Ich weiß nicht, wie gut ihr euch daran erinnern könnt, aber es ist noch nicht allzu lange her - höchstens vier, fünf Jahre -, da waren das Deep Web und das Darknet in aller Munde. Vor allem das Darknet bietet immer wieder Stoff für düstere Legenden - denn durch die Anonymität soll hier praktisch alles möglich sein, von illegalem Datenaustausch über Waffen- und Drogenhandel bis hin zu Kinderpornographie. Hier erhält man Zugang über alle anonymen Netzwerke und kann diese aufsuchen, ohne selbst identifiziert zu werden - dies funktioniert aber nur mittels spezieller Browser. Bei all den Gruselgeschichten wird allerdings gerne übersehen, dass das Darknet sehr wohl auch seine nützlichen bzw. nicht-grausamen Seiten hat - denn in Ländern wie China, Nordkorea, Syrien oder dem Irak ist es essenziell für eine unabhängige Berichterstattung und überwachungsfreie Kommunikation und in diesem Rahmen besonders für Journalisten sehr nützlich. Darüber hinaus wird es gerne von Whistleblowern sowie Menschenrechtsorganisationen genutzt, ebenso von Privatpersonen, die nicht wollen, dass ihre Nutzerprofile zu Werbezwecken missbraucht werden. Es ist also ein bisschen banaler, als gerne getan wird - aber auch wenn das Surfen im Darknet grundsätzlich nicht illegal ist, erleichtert es durch die Anonymität doch illegale Handlungen. Entsprechend ist es naheliegend, dass Red Rooms, wenn überhaupt, nur im Darknet existieren können. Und doch gab es offenbar auch solche Live-Streams, die im Surface Web, also dem allgemein zugänglichen Web, zu finden waren - etwa einen mit dem Namen A.L.I.C.IA., auf dem allerdings nicht wirklich was zu sehen war, oder einen, auf dem angeblich ein ISIS-Mitglied gefangen gehalten und gefoltert wurde, aber auch auf diesem war eigentlich nichts Ungewöhnliches zu sehen. Es liegt also nahe, dass zumindest diese beiden Red Rooms gar nicht echt gewesen sind.
Wenn man das Internet durchforstet, findet man selbstverständlich zahlreiche Zeugenaussagen, die darauf schwören, dass es diese Red Rooms wirklich gibt - auch wenn sie selbst im Darknet noch schwer zu finden seien. Beweise gibt es dafür allerdings keine. Nun, ich hab mir mal erklären lassen, wie diese Tor-Browser, über die man ins Darknet gelangt, überhaupt funktionieren - und diese nutzen die sogenannte Onion-Routing-Methode, die die Anonymität überhaupt erst gewährleistet. Diese beeinträchtigt die Geschwindigkeit dieser Browser allerdings erheblich, was gleichzeitig natürlich auch das Streaming erschwert - dafür müsste man auf Flash Video zurückgreifen, was wiederum der Anonymität abträglich wäre. Und wer einen echten Mord live miterleben will, ist mit Sicherheit nicht so scharf drauf, seine Identität preiszugeben - jedenfalls wage ich das mal zu behaupten. Was allerdings nicht bedeutet, dass es diese Websites nicht wirklich gibt; man kann sie offenbar tatsächlich finden, allerdings wird man dort höchstwahrscheinlich nicht das sehen, was man zu sehen erwartet. Es handelt sich nämlich ziemlich sicher um Abzocker-Seiten, die deine Neugierde und Sensationsgeilheit (oder was auch immer dich dazu treibt, zuzusehen, wie andere Menschen gequält oder gar getötet werden) ausnutzen, um dir eine Menge Geld abzuknöpfen. Ich würde also an eurer Stelle auf alle Fälle die Finger davon lassen.
In diesem Zusammenhang gibt es übrigens noch die Legende eines Ortes im Internet, der noch viel darker als das Darknet sein soll - nämlich Marianas Web, benannt nach dem Marianengraben, der tiefsten Stelle im Ozean, das lediglich über einen verschlüsselten Code erreichbar sei. Diesen könne jedoch nur ein Quantencomputer entschlüsseln, die bekanntlich noch nicht für den kommerziellen Erwerb freigegeben sind - das heißt also, no chance for you, baby! Und das ist natürlich jammerschade, denn Marianas Web soll angeblich die größten Geheimnisse der Menschheit enthalten - also etwa geheime Papiere des Vatikan, Informationen über Außerirdische und Reptiloide sowie die versunkene Stadt Atlantis oder auch Antworten auf die großen Fragen der Menschheit (woher kommen wir, wer sind wir, wohin gehen wir nachher essen). Sprich - die Lösungen auf all die Fragen, die die Menschen in all den Jahrtausenden nicht beantworten konnten, sollen jetzt auf einmal an irgendeinem Ort im Internet, der praktisch für niemanden erreichbar ist, ebenso verfügbar sein wie die Auflösung auf der Rückseite eines Rätselheftes. Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber in meinem Kopf läutet da ziemlich laut die Bullshit-Glocke.
Wie ihr seht, ist die Bandbreite der Internet-Märchen ganz wirklich wahren Geschichten aus dem Internet nach wie vor unerschöpflich. Deshalb werden wir alle in Zukunft noch sehr viel davon haben. Und zumindest solange der Lockdown anhält, werdet ihr sicher noch sehr viel von mir haben. Wenn ich mir meinen Blog so durchsehe, so stelle ich fest, dass dieses selten beschissene Jahr zumindest etwas Positives hat - in all der Zeit, in der ich schon blogge, war ich noch nie so produktiv wie 2020. Ich habe in diesem Jahr tatsächlich mehr geschrieben als in all den drei vorangegangenen Jahren zusammengenommen. Und kann es irgendwie immer noch nicht so richtig glauben. Trotzdem hoffe ich - wie alle anderen auch - auf einen positiveren Verlauf des nächsten Jahres. Deswegen: Bon voyage!
vousvoyez