Sonntag, 11. Dezember 2022

Skifahren ist das Über-das-Wasser-Gehen des kleinen Mannes

Photo by Jazmin Quaynor on Unsplash
Kaum zu glauben, dass es erst zwei Jahre her ist, dass Peter Klien, Moderator von Gute Nacht Österreich, mit diesem Satz auf die Absurdität der Ausnahmeregelungen für den Wintersport mitten im zweiten Lockdown aufmerksam machte. Gerade mal ein halbes Jahr fast ohne Corona-Maßnahmen, und die damalige Zeit kommt einem bereits sehr unwirklich vor - auch wenn die Infektionszahlen aktuell wieder steigen und ich dort, wo sich direkter Kontakt zu Fremden nicht vermeiden lässt, momentan wieder Maske trage. Jaja, ich bin halt ein unverbesserliches Schlafschaf! Und das Skifahren ist in Österreich so heilig, dass kein Virus und kein Klimawandel seine Bewohner davon abhalten kann - nur das liebe Geld, denn Skifahren ist durch die gestiegenen Preise mittlerweile ein Sport für finanziell Bessergestellte geworden. Aber wir haben ja Gott sei Dank noch den Tourismus, nicht wahr?

Im österreichischen Fernsehen sind Skirennen im Winter nach wie vor so allgegenwärtig wie die omnipräsente Werbung. Als Kind war man begeistert von der kunterbunten Welt der Fernsehwerbung - wobei es bei den meisten von uns ja bekanntlich nur die beiden Programme des ORF zu sehen gab. Als ich zum ersten Mal bei Freunden Satellitenfernsehen sah und entdeckte, dass es im deutschen Privatfernsehen weitaus mehr Werbung gab, die auf Kinder zugeschnitten war - nicht nur Süßigkeiten und Zahnpasta, sondern auch Spielzeug! -, war ich hin und weg. Das wollte ich auch! Und bin im Nachhinein doch froh, dass ich das nicht hatte.

Wie wir ja wissen, spielt Werbung ja mit Emotionen und folgt daher meist einem gewissen Schema - am häufigsten werden da positive Gefühle angesprochen, beispielsweise jetzt zur Weihnachtszeit. In letzter Zeit jedoch fällt auf, dass Firmen vor allem mit Skandalen Aufmerksamkeit erregen. Der Grund dafür liegt wohl daran, dass der Medienkonsument heutzutage sich wohl immer mehr an Extreme gewöhnt hat - es scheint, als sei dies das sicherste Mittel, um die Leute lange genug bei der Stange zu halten. Zusätzlich vermindern Plattformen wie Tik Tok, die hauptsächlich auf Kurzvideos aufgebaut sind, immer mehr die Aufmerksamkeitsspanne. Und da man allmählich das Gefühl hat, schon alles gesehen zu haben, versucht man natürlich auch in der Werbung, mit Extremen zu arbeiten. Und so sind wir vermehrt mit Schockwerbung konfrontiert, die im Gegensatz zur üblichen Werbung irritiert und auf diese Weise die Aufmerksamkeit erhöht.

Nun kennen wir Schockwerbung schon lange aus dem nicht-kommerziellen Kontext - etwa, um auf Missstände aufmerksam zu machen, wie beispielsweise die radikalen Bilder in den Videos von Greenpeace oder jener Werbespot für die Paralympics 2012, wo die Ursachen für die Behinderung der Athleten offen gezeigt wurden. Bisweilen sind auch kommerzielle Werbespots, die auf Schockwirkung zielen, zumindest noch logisch nachvollziehbar - etwa die Werbung des Energy-Drinks K-Fee: Eine friedliche Landschaft und dann eine schreiende Zombie-Gestalt, die plötzlich in die Szene hineinspringt, gefolgt von dem Satz "So wach warst du noch nie". Der Spot musste nach kurzer Zeit wieder aus dem Programm genommen worden, da Zuschauer sich beklagten - aber ich muss zugeben, auch wenn er nach mehrmaligem Anschauen immer noch wirkt, finde ich ihn doch irgendwie witzig. Ein weniger spektakuläres Beispiel ist der Werbespot für die Zahncreme Parodontax, der mit einem blutigen Zahnpastaklecks und einem ausgefallenen Zahn beginnt.

Ein gewisses Risiko ist bei Schockwirkung aber natürlich auch dabei - so manche Firmen haben auf diese Weise ihrem Image mehr geschadet als genützt. Im Jahr 2017 gab es in den USA vermehrt Demonstrationen, etwa gegen den vor einem Jahr vereidigten Präsidenten Donald Trump, gegen die Waffenlobby oder auch gegen rassistische polizeiliche Übergriffe. Zur damaligen Zeit drehte Pepsi einen Werbespot mit Kendall Jenner - darin beendet das Model den Kampf zwischen Polizisten und Demonstrationen mit einer Dose Pepsi-Cola. Bei den Konsumenten kam das jedoch gar nicht gut an - ein privilegiertes weißes It-Girl, das politische Konflikte mit aromatisiertem Zuckerwasser löst, war in dieser Situation denkbar unangebracht. Auch die deutsche Smoothie-Marke True Fruits geriet in den letzten Jahren immer wieder in die Kritik, weil sie ihre Produkte mit sexistischen und rassistischen Sprüchen bewarb.

Aber Provokation in der Werbung ist uns bereits länger bekannt - so verband das Modeunternehmen Benetton Ende des 20. Jahrhunderts mit seinen von Oliviero Toscani gestalteten Plakaten gewinnorientierte Werbung mit Gesellschaftskritik. Die Fotos zeigten ölverschmierte Vögel, eine Nonne, die einen Pfarrer küsste, kopulierende Pferde, einen Hintern mit dem Stempel HIV-positiv, bunte Kondome, die blutigen Uniformen gefallener Soldaten, Porträts zum Tode Verurteilter oder den schwer anorektischen, nackten Körper der Französin Isabelle Caro - und die Menschen liefen Sturm dagegen. Damit hatte die Werbekampagne ihr Ziel erreicht - sie brannte sich ins kollektive Gedächtnis ein. Allerdings blieb auch nicht jede Grenzüberschreitung folgenlos - so bewarb die Automarke Toyota ihr Modell Matrix mit Drohanrufen und angsteinflößenden E-Mails, was letztendlich zu einer Klage führte.

Inzwischen ist es schon normal geworden, dass alle paar Monate ein Aufreger herrscht - und entsprechend häufen sich die Provokationen auch in der Werbung. Erst kürzlich sorgte etwa die Unterwäschekette Intimissimi für einen Aufschrei, als Heidi Klum mit ihrer Tochter Leni in sexy Unterwäsche posierte. Tatsächlich wirken die Bilder, auf denen sich Mutter und Tochter gemeinsam in Spitzendessous und High Heels sexy vor der Kamera räkeln, ziemlich befremdlich. Im Frühjahr diesen Jahres sorgte die deutsche Supermarktkette Edeka mit einem unangenehm anachronistischen Werbevideo für Empörung - ein Vater kriegt weder de Haushalt noch die Versorgung der Tochter richtig hin, und am Ende bedankt sich diese bei ihrer Mutter dafür, dass sie nicht dieser unfähige Mann ist. Tatsächlich ist ein solcher Spot, wie ich finde, für beide Geschlechter beleidigend - aber der Clip sorgte für Aufmerksamkeit. Die stilistischen Fehlgriffe der Modekette Zara waren in einigen Fällen ebenfalls eine Provokation - 2007 musste man eine Handtasche aus dem Sortiment nehmen, die mit bunten Hakenkreuzen verziert war, 2014 sorgte ein T-Shirt mit der Aufschrift White is the New Black für Ärger, und im selben Jahr brachte Zara ein gestreiftes langärmliges Shirt für Kleinkinder auf den Markt, auf dessen Brust ein sechszackiger gelber Stern aufgenäht war. Laut des Unternehmens sollte dieser einen Sheriff-Stern darstellen - tatsächlich erinnerte das Shirt als Ganzes aber eher der Kleidung jüdischer KZ-Häftlinge.

Die meisten seltsamen Anwandlungen hat aber wohl die spanisch-französische Luxusmarke Balenciaga - und das gilt nicht nur für das meist hässliche Design, das manchmal eigenartige Kreationen hervorbringt, etwa Crocs mit hohen Absätzen oder eine 2.000 Euro teure Tasche, die wie die blauen Shopper von IKEA aussieht. Bekanntlich musst du heutzutage reich sein, um arm aussehen zu dürfen - und das scheint sich Balenciaga zum Programm gemacht zu haben: Im Frühsommer diesen Jahres verkaufte die Modekette Turnschuhe, die so zerfetzt und verdreckt waren, dass sie buchstäblich nur noch Müll waren, um 1.450 Euro - wobei sie nur auf den Fotos so dreckig waren. Doch nicht nur die Outfits, auch die Werbekampagnen sorgten immer wieder für Aufreger. So veranstaltete Balenciaga im März dieses Jahres, kurz nach Beginn des Einmarsches von Putins Truppen in die Ukraine, eine Runway-Show, in der, laut Aussage des Unternehmens, auf das Leid der ukrainischen Flüchtlinge aufmerksam gemacht werden sollte - Models stapften, in sündteure Luxusmode gewandet, mit ebenso teuren ledernen Müllsäcken in der Hand, unter einer Art Glassturz durch einen künstlichen Schneesturm, so dass sich die Frage stellt, ob dies wirklich auf Leid aufmerksam macht oder ob dieses eher ausgenutzt wird, um Werbung für seine Produkte zu machen. Letzten Oktober gab es eine ähnliche Runway-Show, in der die Models in einer düsteren, apokalyptischen Szene durch Schlamm wateten - einige von ihnen trugen Rucksäcke, die wie hässliche Teddybären im BDSM-Outfit aussahen; auch diese Szenerie ließ an Krieg und Flucht denken und an Kinder, denen nur noch ein Kuscheltier geblieben ist. Kontroversen gab es jedoch auch firmenintern - etwa in der hauseigenen Model-Agentur, in der Mädchen während eines Castings in ein dunkles, kaltes Treppenhaus gesperrt wurden, während die Veranstalter zum Mittagessen gingen, oder durch den Vorwurf, die Marke klaue Kunst von PoC.

Für den größten Skandal sorgte jedoch ihre jüngste Werbekampagne, die in Kooperation mit dem Fotografen Gabriele Galimberti entstand. Dieser hatte eine Fotoserie namens Toy Stories kreiert, die aus Bildern von Kindern aus aller Welt bestand, die von ihren Spielsachen umgeben sind. Balenciaga bediente sich dieser an sich schönen Idee und machte etwas unangenehm Skurriles daraus: Die Fotos der Marke zeigten ebenfalls Kinder, doch statt des Spielzeugs sind sie von Luxusgegenständen von Balenciaga umgeben, die weder den Bedürfnissen noch den Interessen eines Kindes gerecht werden würden - was vor allem durch die in mehreren Fotos zu findenden Schuhe deutlich wird, die alle Erwachsenengröße haben. Den eigentlichen Skandal löste jedoch der Umstand aus, dass auf jedem Foto diese BDSM-Teddybären zu sehen waren. Kurz darauf veröffentlichte Balenciaga in Kombination mit Adidas ein Foto einer der für sie typischen Hourglass-Taschen mit den charakteristischen drei Streifen, die auf einem Tisch liegt, der von einem Durcheinander an Papieren und Kunstbüchern bedeckt ist. Zu den Papieren gehören auch Gerichtsdokumente, die für einen weiteren Aufschrei sorgte. Und die Kombination aus diesen beiden Werbekampagnen rief alte Freunde von uns auf den Plan.

Diese behaupten nämlich, dass die Gerichtsdokumente Kopien des Prozesses Ashcroft v. Free Spech enthielten, laut dem der Verbot von Kinderpornographie ein Verstoß gegen die Meinungsfreiheit sei. Dazu passen der Bildband des belgischen Künstlers Michaël Borremans, dessen 2018 vorgestellte Bilderserie Fire from the Sun figurative Kleinkindergestalten darstellt, die an Putten erinnern, aber in einem Szenario, das an okkulte Rituale erinnert, sowie der von Matthew Barneys Ausstellung The Cremaster Cycle, die mich an Hieronymus Bosch, aber auch an Luis Buñuel und Salvador Dalí erinnert und die sich in verstörender Bildsprache mit biologischer und psychologischer Formwerdung von Körpern beschäftigt, nur allzu gut. Ich denke, einige von euch ahnen, worauf ich hinauswill - Ritualmordlegende, Satanic Panic, QAnon etc. pp. Nun, die Gerichtsdokumente konnten schnell recherchiert werden - es handelt sich um den Prozess United States vs. Williams, im Zuge dessen ein Gesetz erlassen wurde, welches dezidiert das Anbieten von Kinderpornographie als strafbar erklärt. Balenciaga behauptet, dass diese gerade auf diesem Foto zu sehen seien, sei nur Zufall - aber wie wir wissen, glauben gewisse Leute nicht an Zufälle. Die Initialzündung lieferte Fox-News-Kommentator Tucker Carlson, der gerne mal Verschwörungserzählungen und russische Propaganda nachplappert und der behauptete, Balenciaga würde offen für Kinderpornographie werben. Natürlich war das für QAnons und ähnlich Verstrahlte die Aufforderung, nach versteckten "Hinweisen" auf den Fotos zu suchen, die diese Behauptung stützen. Und was haben wir gelernt? Richtig - wenn man etwas finden will, dann findet man es auch. Und so entdeckte man unter den Luxusgegenständen ein aufgerolltes Absperrband, auf dem die Buchstaben B-A-A-L zu erkennen sind - Baal ist ein Dämon der frühchristlichen Mythologie, dem man Kinderopfer dargebracht haben soll. Aber da hörte das Spiel noch nicht auf - wenn man das Wort Balenciaga mit einem weiteren a versieht, kommt "Baalenciaga" heraus. Gibt man das Wort "Baal enci aga" dann in den Google-Übersetzer ein, soll angeblich der aus dem Lateinischen übersetzte Satz "Baal ist der König" herauskommen. Nun - wenn ich denselben Satz in Übersetzungsprogramm eingebe, erkennt dieses die Sprache Nord-Sotho, eine Bantu-Sprache im südlichen Botswana, aber es übersetzt nur das Wort "Baal" in "Flügel". Gebe ich nur "enci aga" ein, übersetzt das Programm aus dem Spanischen, und heraus kommt "einschalten". Irgendwas kann da also nicht stimmen - zumal die Marke von einem Mann namens Cristóbal Balenciaga gegründet worden war. Ist der jetzt auch Satanist gewesen? Auch entdeckte man unter den Luxusgegenständen mehrere weiße Hasenfiguren, die sofort an die Aufforderung "follow the white rabbit" denken lassen, laut Wahnwichteln eine Extraeinladung für Adrenochrome konsumierende Eliten.

Und so sind QAnon-Gläubige überzeugt davon, dass Balenciaga ein Modehaus des Deep State sei, und einmal mehr wird der irrationale Glaube an Kinderhändler-Ringe innerhalb der Elite gefestigt. Natürlich entschuldigte sich Balenciaga, wobei sie die Schuld gänzlich auf Galimberti abwälzten, um schwere Image-Schäden zu vermeiden. Die Karriere und das Lebenswerk des Fotografen, der inzwischen Morddrohungen bekommt, sind dadurch allerdings unwiederbringlich zerstört, und da Balenciaga seine Bekanntheit vor allem all jenen verdankt, die auf die Empörungswellen aufgesprungen sind, wird es wohl auch in Zukunft nicht auf Skandale verzichten. Allerdings haben sie sich mit der Löschung der Kampagne keinen Gefallen getan - für Verschwörungsgläubige ist das nämlich der ultimative Beweis, dass sie tatsächlich Werbung für Kinderpornographie sei, wodurch der Verschwörungsmythos erst recht explodierte - unter anderem durch Kanye West, der diese Erzählungen bereitwillig aufgriff.

Und so hat Balenciaga unabsichtlich einen Kampf provoziert, den es nicht gewinnen kann - einerseits sprechen sie aufstrebende junge Menschen von der Straße an, die sich ihr Zeug natürlich nicht leisten können, andererseits sagen sie dem von den Eliten zementierten Status Quo den Kampf an. Die Folgen ihrer Kampagne sind nicht mehr aufzuhalten: Prominente stellen Videos online, in denen sie ihre Balenciaga-Produkte verbrennen, und der offensichtlichste Kritikpunkt, nämlich Kinder in einen BDSM-Kontext zu setzen, um überflüssiges Gelumpe zu bewerben, wird stärker skandalisiert als eigentlich nötig. Auch das prominente Aushängeschild der Marke, Kim Kardashian, hat sich inzwischen zurückgezogen, und die Influencerin Cathy Hummels kassierte kürzlich einen Shitstorm, weil sie in Köln im Balenciaga-Outfit zu sehen war. Wie es also aussieht, ist es aktuell gar nicht mehr so cool, diese Marke zu tragen.

Wie ihr also seht, kann man es sich heutzutage extrem schnell mit der Öffentlichkeit verscherzen. Und deshalb ist provokante Werbung immer eine Gratwanderung - und wenn man seine Bekanntheit hauptsächlich darauf aufbaut, ist es im Prinzip nur eine Frage der Zeit, bis man sich mal die Finger verbrennt. Vor allem, wenn man auf Geschmacklosigkeiten setzt, wie Kinder für die eigene Agenda in einen unpassenden Kontext zu transferieren - und somit sehr starke Emotionen anspricht, die bei vielen oft ins Irrationale abdriftet. Wir haben vor ein paar Tagen gesehen, wie gefährlich Radikalisierung durch Verschwörungsmythen werden kann - und ich erinnere daran, dass aus ursprünglich spinnerten Ideen etwas werden kann, das eigentlich niemals wollte und wo man sich hinterher fragt, wie so etwas passieren hatte können, wie die jüngsten Ereignisse zeigen.

Wie dem auch sei, ich wünsche euch bis zum nächsten Mal eine schöne Zeit und passt gut auf euch auf! Bon voyage!

vousvoyez

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