Donnerstag, 20. August 2020

Ich gehe nicht auf die Vierzig zu - vor ein paar Monaten war ich noch neununddreißig.

Der Satz stammt diesmal von Mick Jagger - zumindest laut der Biographie von Philip Norman. Wobei ich Normans Rock-Biographien nur wärmstens empfehlen kann. Und Jaggers Musik natürlich auch. Es ist ja allgemein bekannt, dass die Beatles und die Rolling Stones, mit Sicherheit die beiden größten Bands der 1960er Jahre, große Konkurrenten gewesen sein sollen. Das stimmt allerdings nur zum Teil - während es unter den Fans eine Charakterfrage war, ob man auf die Beatles stand oder auf die Stones, waren die Mitglieder beider Bands gut befreundet. Und es ist nicht schwer, sich vorzustellen, wie königlich sich die jungen Engländer über die Kabbeleien ihrer jeweiligen Fans amüsiert haben müssen. Auch das Image der "braven" Beatles und der "wilden" Stones war zum größten Teil PR - kaum jemand, der sich nicht dafür interessiert, weiß, dass die Beatles einst mit schwarzer Lederkluft in Clubs des Hamburger Rotlichtviertels heißen Rock'n'Roll spielten, während die Rolling Stones als Blues-Formation in einem Jazzclub in der Londoner Oxford Street auftraten. Erst später steckte man die Beatles in Anzüge, um die Plattenfirmen nicht abzuschrecken, während man den Stones ein Rebellen-Outfit verpasste, damit sie sich von den Beatles unterschieden.

Nun - die Beatles gibt es seit nunmehr fünfzig Jahren nicht mehr, während die Rolling Stones bisher schon eine beachtliche Anzahl letzter Konzerte bestritten haben. Aber keiner, der diese aufregende Zeit erlebt hat, als beide Bands noch den Olymp der Rock- und Popmusik einnahmen, hat sie je wieder vergessen - vor allem aber war dies die Zeit, als das Fernsehen so nach und nach in den meisten Haushalten Einzug erhielt. Was natürlich auch die erste Blütezeit des Kinderfernsehens bedingte. Ich habe in meinem letzten Artikel über Disney-Filme ja schon erwähnt, dass ich Lust hätte, mich auch einmal mit den Nippon-Animation-Serien zu beschäftigen, die unsere Kindheit geprägt haben. Deshalb möchte ich das auch an dieser Stelle tun und habe mir dafür speziell ein paar Serien ausgesucht, mit denen ich aufgewachsen bin und die mir noch in Erinnerung geblieben sind.

Das japanische Zeichentrickfilm-Studio Nippon Animations, das seinen Sitz in Tama, einer Stadt innerhalb der Präfektur Tokio, hat, entstand aus dem Trickstudio Zuiyo Enterprises, das in den 1970er Jahren verschiedene Zeichentrick-Serien produzierte, ehe es 1975 in finanzielle Schwierigkeiten geriet und sich in zwei Teilfirmen aufteilte, wobei Nippon Animation die Produktion der Serien fortsetzte. Bekannt waren vor allem die Serien, die in Kooperation mit europäischen Fernsehsendern entstanden und die Kinderbuchklassiker adaptierten - Klassiker, die vielen Leuten heutzutage nicht in der literarischen Fassung, sondern in der Serien-Version in Erinnerung geblieben sind. Im Zuge der ersten drei Produktionen gründete Nippon Animation im Jahr 1975 das World Masterpiece Theater, das bis 1997 jährlich eine Serie auf der Grundlage eines internationalen literarischen Werkes herausbrachte.

Die erste dieser Serien wurde 1972 bis 1974 produziert und basiert auf der zwischen 1963 und 1993 veröffentlichten Kinderbuchreihe Vickie Viking des schwedischen Autors und Journalisten Runer Jonsson, die von Ewert Karlsson illustriert wurde im deutschsprachigen Raum unter dem Namen Wickie und die starken Männer bekannt ist. Jonsson erfand die Geschichte ursprünglich für seinen Sohn und ließ sich einerseits von den Isländersagas, andererseits von Fans G. Bengtssons damals populärem Entwicklungsroman Die Abenteuer des Röde Orm inspirieren. Das Besondere an diesen Geschichten ist, dass es sich hierbei nicht um ehrfürchtige Heldengeschichten handelt, sondern um eine Parodie - sozusagen eine Anti-Saga. Wickie wurde 1964 auch im deutschsprachigen Raum veröffentlicht und 1965 mit dem Deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnet. Der Erfolg des ersten Buches brachte von 1966 bis 1973 fünf weitere Bände der Wikinger-Geschichten hervor; im Jahr 1993 folgte dann ein weiteres, in dem Wickie bereits Häuptling von Flake ist.

Die Geschichte selbst handelt von Wickie, dem Sohn von Halvar, der der Häuptling des Wikingerdorfes Flake ist. Wickie ist ängstlich und nicht besonders stark, kann sich aber mit Schlauheit immer wieder aus brenzligen Situationen retten. Nachdem er seinem Vater von seiner geistigen Überlegenheit überzeugt hat, willigt dieser ein, ihn an den Beutefahrten der Wikinger teilnehmen zu lassen. Die folgenden Geschichten variieren immer wieder das Grundmotiv der starken, aber nicht besonders intelligenten Wikinger, die sich durch ihr Draufgängertum immer wieder in brenzlige Situationen manövrieren und nur von den Ideen des kleinen Wickie gerettet werden können. 

1965 wurde Wickie und die starken Männer vom Westdeutschen Rundfunk als Hörspiel herausgegeben, mit dem jungen Marius Müller-Westerhagen in der Rolle des Wickie. In den 1970er Jahren wurde dann im Auftrag des ZDF in Japan die bekannte Zeichentrickserie produziert, die unabhängig von der Buchvorlage ins kollektive Gedächtnis ganzer Generationen einging. Sowohl in der Handlung als auch in der Darstellung der Figuren war sie stark an die literarische Vorlage angelehnt. 2008 folgte ein Spielfilm unter der Regie von Michael "Bully" Herbig, der so erfolgreich war, dass 2011 eine Fortsetzung unter der Regie von Christian Ditter gedreht wurde - Wickie auf großer Fahrt war außerdem die erste deutsche 3D-Film-Produktion. 2014 wurde die Serie komplett neu in computeranimierter Fassung in Deutschland, Österreich und Frankreich produziert.

Die zweite Serie, die von Zuiyo Enterprise produziert wurde, ist Heidi aus dem Jahr 1974. Vorlage sind die beiden Romane Heidis Lehr- und Wanderjahre sowie Heidi kann brauchen, was es gelernt hat der Schweizer Schriftstellerin Johanna Spyri aus den Jahren 1880 und 1881. Es wird vermutet, dass Spyri sich von der Erzählung Adelaide - Mädchen vom Alpengebirge des deutschen Pädagogen und Schriftstellers Hermann Adam von Kamp  (dem Verfasser des Liedes Alles neu macht der Mai) inspirieren ließ. Die Romane schufen die Grundlage für ein noch heute weit verbreitetes romantisch-verklärtes Idealbild der Schweiz, das vor allem in Japan gepflegt wird. Außerdem erinnert vor allem das Motiv der Stadt-Land-Gegenüberstellung, wobei die Stadt das Negative und das Land das Positive verkörpert, an die vor allem in der Nachkriegszeit beliebten Heimatfilme. Der Erfolg der beiden Bücher ermöglichte Spyri vor allem einen recht komfortablen Lebensabend.

Die Geschichte handelt von dem Waisenmädchen Adelheid, genannt Heidi, das als Fünfjährige von seiner Tante in die Obhut seines Großvaters gebracht wird - dieser wird Alpöhi oder Almöhi genannt und lebt zurückgezogen in einer Berghütte oberhalb von Maienfeld im Schweizer Kanton Graubünden. Trotz seiner einsiedlerischen Lebensweise schließt er das kleine Mädchen schnell ins Herz; Heidi freundet sich mit dem Geißenpeter an, einem elfjährigen Ziegenhirten, und auch mit dessen blinder Großmutter, und führt ein freies, unbeschwertes Leben in den Bergen. Nachdem sich der Großvater jedoch weigert, sie zur Schule zu schicken, wird sie mit acht Jahren von ihrer Tante nach Frankfurt am Main gebracht, wo sie fortan bei der gut situierten Familie Sesemann als Gesellschafterin der gelähmten Tochter Klara lebt und Privatunterricht erhält. Sie freundet sich schnell mit Klara an, ist jedoch in der Stadt nicht glücklich, und besonders das strenge Hausmädchen Fräulein Rottenmeier, das sie für eine Wilde hält, macht ihr das Leben schwer. Einzig Klaras Großmutter, die manchmal zu Besuch ist, kann das eintönige Leben ein wenig aufhellen und ermutigt Heidi dazu, endlich lesen zu lernen. Doch als das Heimweh die Gesundheit des Mädchens anzugreifen beginnt, schickt Herr Sesemann sie auf Anraten des Arztes zurück in die Berge. Damit endet das erste Buch; im zweiten ist sie zu ihrem Großvater zurückgekehrt, der sein Haus im Dörfli instand setzt, damit er während der Wintermonate mit Heidi dort leben und sie die Schule besuchen kann. Trotz der Bedenken schafft es Heidi, ihren Großvater und auch die Sesemanns zu überzeugen, Klara den Sommer ebenfalls bei ihr in den Bergen verbringen zu können. Die gesunde Umgebung tut auch bei dem gelähmten Mädchen ihre Wirkung, und in Folge lernt sie das Gehen.

Heidi wurde zu einem Klassiker der Weltliteratur und war auch in den USA sehr erfolgreich; Parallelen zur Heidi-Geschichte sind unter anderem auch in Frances Hodgson Burnetts Roman The Secret Garden von 1909, der ebenfalls zum Klassiker avancierte, zu finden. Im Jahr 1920 wurde die Geschichte erstmals verfilmt - es folgten mehrere Filme, die teilweise sehr lose auf dem Grundmotiv basierten. 1974 folgte die japanische Fernsehserie, für die intensive Recherche-Arbeiten in Angriff genommen wurden. Mittels Reisen an Originalschauplätzen wurde nach hoher Authentizität und bestmöglichem Realismus gestrebt, und man bemühte sich, die Alpen so naturgetreu wie möglich nachzuempfinden. In der Serie wurden allen Haupt- und Nebenhandlungen des Romans aufgenommen, auch wenn Heidis Tierliebe und die Rolle der Natur stärker im Fokus stehen und der Geißenpeter ein wenig sympathischer dargestellt wird. Außerdem entfallen die religiös aufgeladenen Motive von Schuld, Sühne und Vergebung, da diese einem shintoistisch bzw. buddhistisch geprägten Publikum unverständlich gewesen wären. In der Serie wird die Sehnsucht der Japaner nach der unberührten Natur zum Ausdruck gebracht, gepaart mit der Unschuld des Mädchens Heidi, das nach dem Motiv des sich damals gerade etablierenden Kawaii gezeichnet wurde, einer der japanischen Kultur typischen Niedlichkeitsästhetik, die auch in Maskottchen wie Pikachu oder Hello Kitty ihren Ausdruck findet und innerhalb der westlichen Welt manchmal befremdlich wirkt, auch wenn es hier immer mehr Einzug erhält.

Die Serie erzielt in Japan bis heute noch beachtliche Einschaltquoten, der Jodler aus der japanischen Titelmelodien ist nach wie vor noch in Karaoke-Bars zu hören. In Europa war Heidi von der Kritik an japanischen Film- und Fernsehproduktionen ausgenommen, die vor allem in Frankreich und Italien aufkam. Die Serie war der Auftakt für den langjährigen Erfolg der World-Masterpiece-Theater-Produktionen und begründete die Beliebtheit japanischer Animes in Europa, wobei im Gegensatz zu anderen Serien hier noch großen Wert auf einen international verständlichen Zeichenstil gelegt wurde.  Im Jahr 2015 kam eine computeranimierte Fassung ins Fernsehen, die sich jedoch stark an dem Stil der Zeichentrickserie orientierte.

Die dritte Serie, über die ich an dieser Stelle berichten möchte, ist wie der Film Bambi, über den ich hier schon geschrieben habe, die Adaption von Kindergeschichten, die von einem prägenden Autor der deutschsprachigen literarischen Moderne verfasst wurden. Ich spreche hier von der Serie Die Biene Maja von 1975, die auf den beiden Romanen Die Biene Maja und ihre Abenteuer (1912) und Himmelsvolk (1915) des deutschen Schriftstellers Waldemar Bonsels basieren. Wobei mich wundert, dass in der aktuellen Debatte noch niemand den offenen Antisemitismus dieses Autors thematisiert hat, der in der Anfangszeit von Nazi-Deutschland die Juden für die vermeintliche Vernichtung der deutschen Kultur verantwortlich machte, aber das ist wohl eine andere Geschichte. In den 1920er Jahren der am meisten gelesene Autor, verarbeitete er in den Biene-Maja-Geschichten seine Kindheitserlebnisse in freier Natur in Ahrensburg sowie seine Naturbeobachtungen als Erwachsener. Es waren die einzigen Kinderbücher, die er schrieb, und bei weitem seine erfolgreichsten.

Die Geschichte erzählt, wie die Biene Maja von ihrer Erzieherin Kassandra auf ihren ersten Ausflug vorbereitet wird, von dem sie jedoch nicht, wie vorgesehen, in den Bienenstock zurückkehrt - stattdessen entdeckt sie die Natur und begegnet dabei vielen anderen Insekten, Würmern und Käfern. Sowohl von Kassandra als auch von den anderen Tieren erfährt sie immer wieder von den Menschen und wünscht sich, diese Lebewesen einmal zu sehen - ein Blumenelf kann ihr diesen Wunsch erfüllen, und nicht nur das, sie begegnet gleich zwei sich liebenden Menschen in einer Gartenlaube. Dann jedoch wird sie von den Hornissen gefangen genommen und erfährt von Kriegsvorbereitungen gegen ihr Volk. Sie kann ausbrechen und den Bienenstock warnen, so dass die Bienen sich auf den Angriff der Hornissen vorbereiten und ihn abwehren können. Aufgrund dessen wird Maja verziehen, dass sie ausgerissen ist, und Kassandra ernennt sie zu ihrer Beraterin. Das zweite Buch Himmelsvolk wiederum handelt von dem Blumenelfen, der Maja das Liebespaar gezeigt hat - er ist so vertieft in den Anblick der Liebenden, dass er vergessen hat, rechtzeitig ins Elfenreich zurückzukehren. Möglich soll ihm das nur sein, wenn er eine größere Liebe als diese zu Gesicht bekommt. Nachdem er ein Jahr auf einer Waldwiese verbracht und Freud und Leid des irdischen Lebens kennengelernt hat, erzählt ihm eine alte Linde die Geschichte von Jesus Christus, der sein Leben gegeben hat für eine Liebe, die größer ist als alle vergänglichen Werte - somit erkennt der Blumenelf eine noch größere Liebe als die des Liebespaares und kann ins Elfenreich zurückkehren. Der spirituelle Aspekt von Himmelsvolk fehlt in der Serie natürlich ganz, außerdem bekommen namenlose Figuren Namen, etwa der Grashüpfer Flip und der Regenwurm Max, und es tauchen auch neue Figuren auf, wie die Drohne Willi oder die Zwergmaus Alexander.

Nachdem Waldemar Bonsels nach Ende des Zweiten Weltkriegs in den englischen und britischen Besatzungszonen mit einem Publikationsverbot belegt wurde, und nach seinem Tod im Jahre 1949 geriet der Autor weitgehend in Vergessenheit, ehe die Serie in den 1970er Jahren ins Fernsehen kam. 1975 wurde sie in Japan ausgestrahlt, 1976 folgten Deutschland und Österreich; sie entwickelte sich zu der bisher erfolgreichsten Zeichentrickserie des ZDF. Das von Karel Gott gesungene Titellied erreichte Anfang 1977 Platz eins der NDR-Schlagerparade. Neben Wickie, Heidi und Pinocchio gehörte Die Biene Maja zu den ersten breitenwirksamen japanischen Zeichentrickserien in Deutschland und Österreich und führten dazu, dass ORF, ZDF und auch andere deutsche Sender auch noch andere Serien in Japan produzierten oder von dort einkauften, was von journalistischer Seite allerdings auch zu Kritik führte. Auch diese Serie wurde 2013 in computeranimierter Fassung neu veröffentlicht - wobei der Titelsong von Helene Fischer neu gesungen wurde.

Ich glaube, ich habe an anderer Stelle schon einmal angedeutet, dass ich über die 3-D-Fassungen nicht allzu glücklich bin. Aber es war wohl die Begeisterung für die neue Technik, die dazu veranlasste, aus dem alten Stoff noch einmal Kapital zu schlagen. Was jedoch mich und meine Generation betrifft (und die davor) - wir werden wohl immer die alten Fassungen mit unserer Kindheit in Verbindung bringen. Wobei ich gestehen muss, dass ich die Heidi-Serie immer etwas langweilig fand - bis auf die Folgen mit Fräulein Rottenmeier, über die ich immer lachen musste - so geht es mir übrigens bis heute mit affektierten, gouvernantenhaften Damen. Ich fand auch das Fräulein Andacht in der alten Filmversion von Pünktchen und Anton immer äußerst witzig.

Dies waren drei ausgewählte Nippon-Animation-Serien, die mir, obwohl ich Jahre nach ihrer Erstausstrahlung geboren wurde, aus der Kindheit noch in Erinnerung geblieben sind. Wahrscheinlich kommt noch ein zweiter Teil - wir werden sehen. Aber eines ist gewiss: Ich komme wieder - keine Frage!

vousvoyez

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