
Dafür liefert sie uns aber einen sehr guten Einblick in vergangene Zeiten und untergegangene Kulturen. Und ab und an gibt sie uns auch das eine oder andere Rätsel auf - und von so einem Rätsel möchte ich heute gern einmal sprechen . Es ist eines, das immer wieder mal in aller Munde ist und an dem sich schon seit einiger Zeit sehr viele die Zähne ausgebissen haben - nämlich das Buch, das niemand lesen kann. Genauer genommen ist es ein sogenannter Codex, also mehrere Seiten zusammengehefteten Pergaments - bekannt sind weder Autor noch Titel. Es handelt sich um das sogenannte Voynich-Manuskript, benannt nach dem Büchersammler und Antiquar Wilfrid Michael Voynich, der es 1912 vermutlich in einem Jesuitenkolleg in der Nähe von Rom erwarb. Es enthält Illustrationen, aus denen man Zusammenhänge aus Bereichen wie Kräuterkunde, Astronomie, Anatomie und Kosmologie vermutet, sowie einen Text, den bisher noch keiner eindeutig entschlüsseln konnte, obgleich die größten Kryptologen - unter ihnen auch diejenigen, die den Enigma-Code der Nazis knacken konnten - sich schon daran versucht hatten. Es gibt auch kein anderes Manuskript, das vergleichbare Zeichen und/oder Zeichnungen aufweist. Im Internet findet man natürlich laufend Meldungen von Personen, die behaupten, das Manuskript entschlüsselt zu haben - meist natürlich Privatpersonen, die ähnlich wie die altbekannten Schwurbelkönige und Innen von sich behaupten, klüger und kompetenter zu sein als jeder Experte. Keiner der vielen Ansätze, die bisher vorgelegt wurden, konnte jedoch einer fachlichen Analyse standhalten.
Bei einer Analyse im Jahr 1962 kam man aufgrund von Material und Schreib- bzw. Zeichenstil zu dem Schluss, dass das Manuskript etwa um 1500 entstanden sein muss; andere legten den Zeitraum aufgrund von Hinweisen in den Zeichnungen auf ca. 1420 bis 1520 fest. 2009 wurde an Instituten in Chicago und Arizona anhand einzelner Proben eine Radiokarbonanalyse vorgenommen, die ergab, dass das Pergament mit ziemlicher Sicherheit etwa zwischen 1404 und 1438 hergestellt wurde - außerdem stellte man fest, dass die Tinte nicht wesentlich später aufgetragen wurde. Somit ist das Voynich-Manuskript mit hoher Wahrscheinlichkeit im Spätmittelalter entstanden. Anhand von Hinweisen in den Zeichnungen wird außerdem darauf geschlossen, dass es wohl aus Oberitalien stammt.
Aufgrund eines Eintrags auf der ersten Seite des Manuskripts geht man davon aus, dass einst der böhmische Mediziner, Pharmazeut und Chemiker Jakub Horčický z Tepence im Besitz dieser Schrift war oder sie zumindest analysiert habe; laut eines in dem Manuskript gefundenen Briefes gehörte es damals aber Rudolf II. von Habsburg, der es einem unbekannten Händler abgekauft habe. Der nächste bekannte Besitzer war der böhmische Gelehrte und Alchemist Georg Baresch, der den Text dem jesuitischen Universalgelehrten Athanasius Kircher zur Analyse vorlegte, welcher in dem Ruf stand, die Hieroglyphenschrift der alten Ägypter entschlüsselt zu haben (was sich jedoch später als Irrtum herausstellte). Von Baresch ging es in den Besitz des Mediziners und Naturwissenschaftlers Johannes Marcus Marci über, der ebenfalls Kircher um Hilfe bei der Entschlüsselung gebeten haben soll. Es wird vermutet, dass es nach Kirchers Tod zusammen mit dessen Nachlass an das Collegium Romanum, die heutige Päpstliche Universität Gregoriana, ging. Nach der Annexion des Kirchenstaates durch die Truppen Viktor Emanuels II. ging es als Teil von Kirchers Nachlass in Besitz des damaligen Ordensgenerals Pierre Jean Beckx über, damit es nicht konfisziert werden konnte, ehe es in die Bücherbestände des Nobile Collegio Mondragone in der Villa Mondragone bei Frascati überging, wo Voynich es wahrscheinlich erwarb. Nach seinem Tod 1930 erbten es seine Frau und seine Sekretärin, nach dem Tod der Frau stiftete die Sekretärin es 1969 schließlich der Yale-Universität, wo es bis heute Bestandteil der Beinecke Rare Book & Manuscript Library ist.
Voynich selbst nahm als Entstehungszeit des Manuskripts ein weitaus früheres Datum an, versuchte sich jedoch selbst nicht an der Entschlüsselung des Textes, sondern schickte etliche Kopien an verschiedene Experten. William Romaine Newbold, Dozent für Philosophie an der University of Pennssylvania in Philadelphia, entwickelte die Hypothese, dass der eigentliche Inhalt des Textes in mikroskopisch kleinen Unregelmäßigkeiten der Zeichen verborgen sei, doch seine Veröffentlichung erster gedruckter Reproduktionen stellte diese bereits in Frage. Nach dessen Tod im Jahre 1931 bewies der Kryptoanalytiker und Professor für englische Sprache an der University of Chicago John Matthews Manly jedoch, dass die von Newbold beschriebene Mikroschrift gar nicht existierte und die vermeintlichen Kürzel nur Unregelmäßigkeiten waren, wie sie beim Auftragen und Abblättern der Tinte entstehen. Der Botaniker Hugh O'Neill versuchte, die abgebildeten Pflanzen auf ein paar fotokopierten Seiten des Manuskripts zu identifizieren, was bei mittelalterlichen Abbildungen meist schwierig, bei diesem hier jedoch so gut wie unmöglich war. Er glaubte allerdings, zwei Pflanzen zu erkennen, die in der Alten Welt vor Columbus gar nicht heimisch waren, was bedeuten musste, dass das Manuskript nicht vor 1493 verfasst worden sein konnte.
Der erste ausgewiesene Kryptologe, der sich mit dem Voynich-Manuskript befasste, war William Friedman, Gründer des Signals Intelligence Service, einem Vorläufer der NSA, unter dessen Leitung während des Zweiten Weltkriegs der japanische PURPLE-Code geknackt wurde. Zusammen mit je einer Arbeitsgruppe versuchte er, das Manuskript erst mittels Lochkarten und dann mit Hilfe des RCA-301-Computers zu entschlüsseln - beide Versuche konnten jedoch nicht zu Ende geführt werden. In den 1970er Jahren veröffentlichte Robert S. Brumbaugh, Professor für Philosophie des Mittelalters an der Yale University, eine Reihe von Artikeln, die sich auf die These stützten, dass das Manuskript mittels eines Zifferncodes verschlüsselt sei - diese konnte sich jedoch nicht halten, da sie zu einer sehr subjektiven Dekodierung führte. Der Sprachwissenchaftler Prescott Currier, der sich seit 1935 mit Kryptologie befasste, war der erste, der feststellte, dass das Manuskript von mehr als nur einem Schreiber geschrieben worden sein musste - inzwischen werden sogar vier vermutet. Die Mathematikerin und Kryptoanalytikerin Mary D'Imperio, die zeitweise in der Beratung der NSA tätig war, organisierte das erste wissenschaftliche Symposium zu diesem Thema und veröffentlichte die Ergebnisse unter dem Titel The Voynich Manuscript: An Elegant Enigma, die heute noch als beste Überblicks-Arbeit geschätzt wird. In den 1990er Jahren kam die These auf, dass es sich bei dem Text um einen cleveren Scherz gehandelt haben musste und er in Wirklichkeit gar keinen Sinn habe. In den frühen 2000ern glaubten zwei amerikanische Botaniker außerdem, dass das Manuskript Pflanzen mittelamerikanischer Herkunft darstelle und möglicherweise in einer mittelamerikanischen Sprache verfasst worden sein könnte, die wahrscheinlich heute nicht mehr gesprochen wird. Greg Kondrak, Professor für Computerlinguistik an der University of Alberta, wandte erstmals künstliche Intelligenz zur Entschlüsselung des Voynich-Manuskripts an - dem Ergebnis zufolge sei es in Anagrammen mit fehlenden Vokalen auf Hebräisch verfasst worden, eine These, von der Experten für mittelalterliche Manuskripte jedoch nicht überzeugt waren.
2019 behauptete Gerard Cheshire, Research Assistant an der Universität Bristol, das Voynich-Manuskript sei in proto-romanischer Sprache geschrieben worden, einer linguistisch konstruierten Zwischenstufe aus Vulgärlatein und den Vorläufern der heutigen romanischen Sprachen, und ein Handbuch zum spätmittelalterlichen höfischen Leben sei, das zwischen 1445 und 1448 von einer dominikanischen Nonne auf der Insel Castello Aragonese bei Ischia verfasst wurde. Der spätmittelalterliche Ursprung macht es jedoch nicht sehr wahrscheinlich, dass er in einer Sprachvariante konstruiert worden war, die in der Spätantike üblich und weitgehend in der Neuzeit analysiert worden war. Zudem genügten Cheshires etymologische Methoden keinen wissenschaftlichen Ansprüchen, da er beliebig moderne ost- und westromanische Sprachen sowie klassisches Latein heranzog. Im Juni 2020 publizierte der deutsche Philologe und Ägyptologe Rainer Hannig die Interpretation, dass es sich bei der zugrunde liegenden Sprache im Voynich-Manuskript um spätmittelalterliches Hebräisch handeln könnte - einer der ersten Übersetzungsversuche liefert eine Krankengeschichte.
Wie ihr also anhand dieser unvollständigen Beispiele sehen könnt, gibt es sehr viele verschiedene Ansätze zur Analyse des geheimnisvollen Schriftstücks aus dem Mittelalter. Eine Hypothese, die ich außerdem gehört habe, ist, dass niemand anderer als Michel de Nostredame, der uns heute unter dem Namen Nostradamus bekannt ist, der Verfasser des Manuskripts gewesen sein könnte. Gerechtfertigt wird sie damit, dass Nostradamus etwa zu der Zeit lebte und wirkte, in der das Manuskript verfasst worden sein soll, und dass er bekanntlich nicht nur als Apotheker und Mediziner, sondern auch als Astrologe arbeitete - immerhin gibt es bis heute Leute, die seine nebulösen prophetischen Gedichte für verschlüsselte Prophezeiungen halten, die sich tatsächlich bewahrheitet haben sollen. Ich erinnere mich, dass auch in meiner Schulzeit das Gerücht umging, er habe die beiden Weltkriege und den Kalten Krieg "vorausgesagt", bis ich feststellen musste, dass seine vermeintlichen Weissagungen aus einem kryptischen Text bestehen, den man mit sehr viel Phantasie so hinbiegen kann, dass daraus eine "Vorhersage" entsteht - dies funktioniert allerdings nur rückwirkend. Nostradamus erstellte unter anderem das Horoskop für Rudolf II. und hätte mit seinen "Vorhersagen" wohl heute noch sehr viel Geld verdient. Außerdem versuchte er sich auch als Kryptologe, wollte unter anderem die schon erwähnten Hieroglyphen entziffern, und zeigte auch Interesse an Anatomie, Geburt, Pflanzenheilkunde und Astronomie.
Die These, das Manuskript sei nur ein genialer Scherz, ist nicht völlig abwegig, allerdings auch nicht sehr wahrscheinlich - erstens weist es doch einen beträchtlichen Arbeitsaufwand auf, der bestimmt mehrere Jahre in Anspruch nahm (zumal handschriftlich), zweitens waren sowohl das qualitativ hochwertige Pergament als auch die mehrfarbige Tinte zur damaligen Zeit doch relativ kostspielig. Es ist einfach schwer zu glauben, dass man so viel Zeit, Geld und Energie in einen bloßen Scherz investiert haben soll. Und natürlich, wo es ungelöste Rätsel gibt, sind auch diejenigen, die offenbar zu viel Phantasie haben, nicht weit - so gibt es beispielsweise Thesen, dass das Manuskript von Zeitreisenden verfasst worden sei, die in einer noch nicht existenten Sprache geschrieben und noch nicht existente Dinge gezeichnet hätten. Da stellt sich jedoch die Frage, warum diese ausgerechnet mit mittelalterlicher Tinte auf einem mittelalterlichen Pergament geschrieben und Zeichnungen angefertigt haben sollen, deren Stil unverkennbar dem Spätmittelalter zuzuordnen ist. Und wie immer, wenn es um Rätsel geht, die nicht so einfach gelöst werden können, sind die Außerirdischen nicht weit - und so kursiert auch die These, das Manuskript könnte von Aliens verfasst worden sein, die die Gepflogenheiten der Erde studierten und sich in ihrer Sprache Notizen machten, die sie dann vergaßen. Hier stellt sich jedoch ebenfalls die Frage, warum eine außerirdische Spezies ihre Aufzeichnungen auf höchst irdischem Papier mit irdischer Tinte verfasst haben soll, mit Zeichnungen in einem ebenso irdischen und zudem noch mittelalterlichen Stil. Zudem frage ich mich, warum man der Menschheit immer so wenig zutraut, dass man praktisch alles, was man nicht bis ins kleinste Detail analysieren kann - denken wir an die Pyramiden, die laut einiger Leute auch von Aliens hergestellt worden sein sollen - irgendwelchen Außerirdischen zuschreiben muss.
Was mich betrifft - ich denke nicht, dass ich befugt bin, mich zu irgendwelchen Spekulationen hinreißen zu lassen. Ich muss aber zugeben, dass ich solch ungelöste Rätsel immer recht reizvoll finde. Und auch mich juckt die Neugier, irgendwann einmal zu erfahren, was wirklich hinter diesem geheimnisvollen Manuskript steckt - auch wenn ich mir, wie schon gesagt, sicher bin, dass es nichts mit irgendwelchen Zeitreisenden oder Außerirdischen zu tun hat. Die letzten Forschungsergebnisse klingen vielversprechend, aber auch sie garantieren noch keine baldige Lösung des Rätsels. Und mitunter ist es für mich auch recht beruhigend, dass es immer noch so viel auf dieser Welt gibt, was man entdecken und analysieren kann. Ich verlinke euch unten noch eine PDF-Datei, die das gesamte Voynich-Manuskript zur Ansicht enthält - vielleicht habt ihr ja selbst ein bisschen Lust, Kryptologe zu spielen. Und wer weiß - möglicherweise stelle ich auch die Weichen für die endgültige Auflösung eines uralten Rätsels (auch wenn ich das für höchst unrealistisch halte). Bon voyage!
vousvoyez
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