Montag, 1. November 2021

Lieber Tuch vorm Mund als Zettel am Zeh

©vousvoyez
Kurz vor Ende des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 konnten sich die meisten Länder dazu durchringen, anzuerkennen, dass einer Eindämmung der Pandemie unter anderem nur mit dem verpflichtenden Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes beizukommen ist. Von da an sah man an öffentlichen Orten hauptsächlich verhüllte Gesichter - besonders die hellblauen OP-Masken, die allgegenwärtig waren, bis sie zu Beginn dieses Jahres von den effektiveren FFP2-Masken abgelöst wurden. Ich muss zugeben, für mich war die Vorstellung, mit so einem Fetzen vor dem Gesicht einkaufen gehen zu müssen, anfangs reichlich unangenehm - zumal es für einen Brillenträger mit eher kleinen Ohren noch zusätzliche Schwierigkeiten gibt. Aber man gewöhnt sich bekanntlich an alles.

Und das ist halt eine jener Gegebenheiten, die vor allem von "Querdenkern" sowie ihren Fans und Gläubigern eher selten zugelassen werden: Auch für Leute, die Covid-19 ernst nehmen und nicht alles, was ihnen nicht passt, für eine Verschwörung halten, sind die Maßnahmen unangenehm - wir würden auch lieber ohne Maske einkaufen gehen und uns in ein Café setzen, ohne ständig irgendwelche Nachweise vorzeigen zu müssen. Aber auch wir, die wir uns auf der "guten" Seite sehen, machen es uns auch oft viel zu einfach - diejenigen, die sich als Maßnahmen-Kritiker sehen, sind nicht alle dumm oder ungebildet oder gar beides. Wir sehen doch, dass sich unter ihren Rädelsführern auch einige studierte Köpfe befinden - Professor Bhakdi ist medizinischer Mikrobiologe, Dr. Schiffmann hatte bis vor kurzem eine durchaus angesehene Schwindelambulanz (welch Ironie), Dr, Füllmich (warum ist der Name so passend?) ist Rechtsanwalt, Gunnar Kaiser ist Lehrer, um nur ein paar von ihnen zu nennen. Und gerade der von mir sehr geschätzte YouTube-Kanal Ascendancer, der von einem ehemaligen Verschwörungsgläubigen geführt wird, zeigt, dass keiner von uns davor gefeit ist, auch mal das Falsche zu glauben und sich möglicherweise darin zu verrennen. Es ist in diesem Fall genauso, wie ich es in meinem vorletzten Artikel bei der "Querdenker"-Bubble selbst kritisiert habe - man kann Leute nicht überzeugen, indem man sie zuallererst einmal für dumm erklärt.

Auf der anderen Seite kann man natürlich, bei allem Verständnis für die Sorgen der anderen, auch nicht auf jede noch so seltsame Abstrusität Rücksicht nehmen. Man kann nicht die Maskenpflicht anprangern, nur weil ein paar Leute ein paar Fusseln da drin für Morgellons halten, und man kann Leuten, die sich impfen lassen wollen, nicht bitten, noch ein bisschen zu warten, weil irgendwelche anderen sich einbilden, dass diese Ungeimpfte "anstecken". Und das ist es, was die Angelegenheit so kompliziert macht. Denn eines dürfen wir nicht vergessen: Wir sind eine Gesellschaft, die bereits sehr lange Zeit verhältnismäßig viele Freiheiten genossen hat. Und egal für wie sinnig oder unsinnig wir die Maßnahmen auch halten - Ausgangsbeschränkungen, Kontaktbeschränkungen, Maskenpflicht, Versammlungsverbote, die 3G- und 2G-Regel, all das sind durchaus extreme und sehr einschneidende Handlungsschritte. Und egal auf welcher Seite man jetzt steht - das lässt doch niemanden unberührt, und das kann man auch kurz mal anerkennen, ohne zu bewerten. Und mit der aktuellen Tendenz, diejenigen aus dem gesellschaftlichen Leben auszuschließen, die nicht geimpft sind und auch keine Infektion überstanden haben, fühlen sich Impfskeptiker in ihrer Meinung bestätigt, an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden - ja, ich weiß, dass sie das sofort ändern können, aber lassen wir diesen Gedanken mal trotzdem für eine Sekunde zu. Die Tatsache, dass der Impfstoff so schnell verfügbar war, trägt da auch ein wenig dazu bei - denn klar, das ist weder ein "experimenteller" Impfstoff, noch gibt es bei Impfungen "Langzeitfolgen" in dem Sinne, dass ein Jahr später ganz plötzlich ein Impfschaden auftritt, aber man kann trotzdem erst mal anerkennen, dass das Tempo, in dem die Impfung getestet und zugelassen wurde, den einen oder anderen erst mal verunsichert. Einige von euch sind jetzt möglicherweise total überrascht, aber ich war keineswegs sofort total geil auf die Impfung, sobald ich wusste, dass diese verfügbar ist. Und was die Entwicklungen der letzten Zeit abseits der Pandemie betrifft - ich würde es ziemlich merkwürdig finden, würden Leute das nicht beunruhigend finden. Generell ist halt das Problem, dass wir keine Chance hatten, uns auf all das einzustellen - das wäre sowieso nicht gegangen, aber Flexibilität ist für tendenziell eher durchregulierte Gesellschaften wie die unsere halt eine große Herausforderung, der manche nicht gewachsen sind.

Aber gerade deswegen sollten manche von uns vielleicht auch mal aufhören, ständig so zu tun, als gäbe es nichts zwischen Schwarz und Weiß. Jeder, der mich kennt, weiß, wie sehr ich die ÖVP und die Politik von Kurz schon kritisiert habe - und das bereits lange vor der Pandemie. Deswegen finde ich es auch etwas befremdlich, dass ich selbst Leuten, die mich schon länger persönlich kennen, tatsächlich erklären musste, dass ich mich nicht deshalb an die Maßnahmen halte, weil der Herr Kurz mein Messias ist, sondern weil ich es für richtig befinde, mich an sie zu halten. Und das tue ich  nicht, weil ich nicht selbst denken kann und einfach nur den anderen alles nachmache, sondern weil ich mich über die Gefahren der Pandemie informiert habe, so gut es eben ging. Und falls es jemand noch nicht mitgekriegt habe: Ich kassiere für diesen Blog hier keinen Cent. Ich habe damit angefangen, weil ich gerne schreibe und weil ich nicht wollte, dass das, was ich zu sagen habe, in irgendeiner Schublade versauert. Und ich mache weiter, weil ich ein paar Leuten damit Freude bereite. So einfach kann es manchmal sein. Im übrigen bin ich auch tatsächlich nicht der Meinung, dass alles, was im Zuge der Pandemie passiert ist und noch passiert, gut und richtig ist. Ich finde es überhaupt nicht in Ordnung, dass es eigentlich nur darum zu gehen scheint, den Reichsten möglichst nicht weh zu tun. Ich finde es überhaupt nicht in Ordnung, dass man uns im letzten Jahr über Monate hinweg in einem frustrierenden Halb-Lockdown ohne eine Möglichkeit auf Freizeit- und kulturelle Aktivitäten gehalten hat. Ich finde es überhaupt nicht in Ordnung, dass man Selbstständigen, Leuten aus der Veranstaltungsbranche, der Kulturbranche sowie dem Einzelhandel mehr oder weniger ein Berufsverbot erteilt hat. Ich finde es überhaupt nicht in Ordnung, dass man Schüler und Studenten in dieser Zeit quasi isoliert und schikaniert hat. Ich finde es überhaupt nicht in Ordnung, dass aktuell gegen all die Leute, die durch die Pandemie unverschuldet ihren Job verloren haben, Stimmung gemacht wird, um ihnen so wenig Unterstützung wie möglich zukommen lassen zu müssen und dafür den Geiz von Unternehmen zu fördern, die ihren Mitarbeitern keinen vernünftigen Lohn bezahlen wollen. Und natürlich bewertet man Situationen tendenziell eher aus seinen eigenen Erfahrungen heraus - wer ein enges Familienmitglied durch Covid-19 verloren hat, wird darüber vermutlich anders denken als jemand, dessen pubertierendes Kind durch die Kontaktverbote depressiv geworden ist. Beides gehört zur Realität - und beides darf diskutiert werden. Und im übrigen kann man sich auch durchaus einmal irren - es kann passieren, dass man auch mal auf Falschmeldungen hereinfällt oder den falschen Leuten auf den Leim geht. Solche Sachen hat jeder schon erlebt, und wer immer nur das Richtige tut, entwickelt sich nie weiter.

Das Problem ist, dass solche Leute, die von einer "Plandemie" sprechen und Stimmung gegen die Impfung machen, Ungerechtigkeiten, die im Zuge dessen passiert sind, für ihre Zwecke ausnutzen. Sie suchen nach Schuldigen statt nach Lösungen, und verbessern nichts, sondern konstruieren nur neue Probleme; sie helfen niemandem, sondern versuchen, eine "Revolution" anzuzetteln, indem sie Leute aufhetzen. Und das, obwohl es doch ziemlich unwahrscheinlich ist, dass alle Länder dieser Welt, selbst die, die sich einen wirtschaftlichen Stillstand eigentlich gar nicht leisten können, sich selbst wegen eines harmlosen Schnupfens so viele Einschränkungen auferlegen. Als Teil einer Gesellschaft muss man halt manchmal damit zurechtkommen, dass nicht alles nur nach dem eigenen Kopf läuft - da hilft es auch nichts, sich in eine Phantasiewelt zu flüchten und alles zu leugnen, was einem nicht gefällt. Damit schadet man sich am Ende nur selbst. Vor allem aber hilft es nichts, auf die Bauchpinseleien jener hereinzufallen, die sich für "Rebellen" halten und sich selbst und ihre Anhänger auf ein Podest heben - du bist etwas Besonderes, du hast es erkannt, du bist kritisch, du gehörst zu einem illustren Kreis, du bist anders als alle anderen; alle anderen hinterfragen nicht, alle anderen sind Schlafschafe, alle anderen sind Mitläufer, alle anderen sind die Dummen. Und da muss ich euch leider enttäuschen: Auch alle anderen laufen nicht einfach blöd mit der Masse mit, selbst wenn sie Entscheidungen treffen, die möglicherweise mit denen der Mehrheit übereinstimmen. Ich persönlich habe auch nicht einfach so akzeptiert, dass wir eine Pandemie haben, ohne vorher Informationen einzuholen. Dieses ewige Hofieren, dass man selbst etwas Besonderes sei, während alle anderen nur unkritische Mitläufer sind, finde ich ehrlich gesagt sowohl frech als auch dumm - irgendwie erinnert es mich an das Gewäsch, auf das vor allem Pubertierende anspringen und das man heute manchmal auf Sharepics noch anfinden kann: Alle anderen sind so oberflächlich, alle anderen sind Mainstream, alle anderen machen sich keine Gedanken über Gott und die Welt. Und selbstverständlich ist man selbst nie alle anderen, man ist immer etwas Besonderes und bewegt sich abseits des Mainstreams. Und genauso unreif ist es, seine Entscheidungen nur davon abhängig zu machen, dass man ja nicht mit dem Strom schwimmt und dass die anderen einen für etwas Besonderes halten. Wer kennt nicht diesen typischen Eltern-Spruch: "Wenn die anderen aus dem Fenster springen, springst du dann auch?" Ein Satz, der ja an sich nicht verkehrt ist - aber wenn die anderen nicht aus dem Fenster springen, springst du dann trotzdem, aus lauter Angst, dass dich sonst jemand für dem Mainstream gefällig halten könnte? Oder wie der österreichische Physiker Florian Aigner es in einem Tweet zum Ausdruck brachte: "Die 68er-Generation hat die Idee durchgesetzt, dass man nicht alles, was Experten und Politiker sagen, ohne nachzudenken glauben soll. Jetzt müssen wir bloß noch die Idee durchsetzen, dass man nicht alles, was Experten und Politiker sagen, ohne nachzudenken für falsch erklären sollte."

Die Grenze des Verständnisses ist allerdings überschritten, wenn es darum geht, Andersdenkende zu beleidigen oder gar zu Gewalt aufzurufen, oder aber bei rassistischen oder antisemitischen Kommentaren sowie Volksverhetzung. Verletzung der Menschenwürde hat nichts mehr mit Meinungsfreiheit zu tun - und das muss zu jedem Zeitpunkt klar sein. Und ja, ich weiß und ich sage es noch einmal: Nicht alle, die sich der "Querdenker"-Bubble zugehörig sind, sind Nazis, aber es wird schon ganz schön viel von dieser Seite gebilligt, und vieles, was deren Rädelsführer so von sich geben, wird auch nicht hinterfragt, sondern ziemlich unreflektiert wiedergegeben. Das merkt man ja schon daran, dass sehr viele von ihnen sich mit den Opfern des Holocaust vergleichen, obwohl es dafür absolut keine Rechtfertigung gibt. Denn es ist ja doch ein eklatanter Unterschied, ob man sich freiwillig dafür entscheidet, sich nicht impfen zu lassen, und aufgrund dessen von gewissen Freizeitaktivitäten ausgeschlossen wird, oder ob man wegen seiner ethnischen Herkunft oder seiner Religion um sein Leben fürchten muss - ebenso, wie es ein Unterschied ist, ob man zweimal zum Arzt gehen soll oder in ein Konzentrationslager abtransportiert wurde. Ganz abgesehen davon, dass der Judenstern, der so gern von Anti-Maßnahmen-Demonstranten getragen wird, in diesem Fall eher die Funktion eines Faschingskostüms einnimmt als die eines Stigmas - denn diese Leute werden im Gegensatz zu marginalisierten Gruppen im Dritten Reich nicht dazu gezwungen, ihn zu tragen. Der Unterschied zum Faschingskostüm ist allerdings, dass man seine Verkleidung für echt hält und nebenbei auch noch ganz locker-flockig Millionen Menschen verhöhnt, die einem der grausamsten Massenmorde aller Zeiten zum Opfer gefallen sind. Das ist auch der Grund, warum hier jegliches Verständnis aufhören sollte. Jeder hat das Recht auf seine eigene Meinung und seine eigenen Entscheidungen, aber keiner hat das Recht auf Verdrehung der Fakten und auf die Gefährdung anderer.

Letzteres gilt übrigens auch für den Drachenlord - das Thema wird ja nach wie vor noch heiß diskutiert, nicht zuletzt aufgrund eines Artikels von Sascha Lobo, der letzte Woche im Spiegel veröffentlicht wurde. Ich selbst kann dazu nur sagen - ich habe auch schon Mobbing erlebt, und ich kann sehr gut verstehen, dass es ungerecht erscheint, dass hier das Opfer bestraft wird und nicht die Täter. Meine erste Reaktion war ebenfalls der Gedanke, dass Mobbern, wie es halt so häufig der Fall ist, mit so einem Urteil suggeriert wird, dass ihr Verhalten okay ist - dass sie sogar geschützt werden, wenn das Opfer sich wehrt. Allerdings kann man dem Opfer deswegen auch keine Narrenfreiheit gewähren und alles ungestraft dulden, weil es sich ja nur gewehrt hat. Ich finde die juristische Analyse des Rechtsanwalts Chan-jo Jun in diesem Kontext sehr aufschlussreich. Auch der Fall Gil Ofarim scheint sich nicht eben zu seinen Gunsten auszuwirken - jedenfalls hat sich unter den anwesenden Zeugen keiner gefunden, der seine Geschichte bestätigte. Was natürlich höchst bedauerlich ist, da der Musiker, wie schon gesagt, hier sich und seiner Religionsgemeinschaft keinen Gefallen getan hat. Dennoch möchte ich euch darum bitten, euch jetzt nicht wieder von euren Emotionen leiten zu lassen - der Fall ist noch nicht abgeschlossen, und wie sich gezeigt hat, ist Empörung nicht immer die beste Idee.

Eigentlich wollte ich mich ja einen Artikel schreiben zu einem Thema, das ein bisschen zu Halloween passt - leider kam mir die Idee aber ein bisschen spät, deswegen müsst ihr euch noch etwas gedulden. Und überdies sollte man ja hierzulande eh nicht Halloween feiern, da das ja eh nur ein blöder Ami-Quatsch ist, nicht wahr? Nun, das stimmt  natürlich nicht - Halloween ist ein irischer Volksbrauch, der schon seinerseits in die USA importiert worden war. Natürlich verstehen die meisten Kinder, die sich heutzutage in Gruselgewänder hüllen und um Süßigkeiten betteln, diese Tradition nicht - zumal sie ja in unseren Breiten früher nicht üblich war. Aber hey - Weihnachten feiern wir schon weitaus länger, und trotzdem ist es heute im Prinzip nur eine endlose Geschenke-Orgie, das nervige Abspielen immer gleicher Lieder und das Versprechen einer heilen Welt, die es ohnehin nicht gibt, und keiner schert sich mehr um die ursprüngliche Bedeutung, also was soll's? Ich mache den Zirkus zwar nicht mit, aber das soll doch jeder für sich selbst entscheiden - und wenn die Leute Spaß haben, warum soll ich dann mit erhobenem Zeigefinger dastehen und moralisieren? Also hoffe ich, dass ihr euch gestern gut amüsiert habt - oder eben nicht. Ich persönlich habe mich eher geärgert, dass das einzige, was ich früher an diesem Tag mochte, nämlich das Zeigen guter Horrorfilme im Fernsehen, so gut wie nicht stattgefunden hat. Aber wenigstens ist man heutzutage nicht mehr auf das traditionelle Fernsehen angewiesen. Und so hoffe ich, dass ihr einen guten Start in den neuen Monat habt, egal ob traditionell oder nicht, und wünsche euch alles Gute bis zum nächsten Mal. Bon voyage!

vousvoyez

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