Dienstag, 26. Oktober 2021

Fridays for Future war mir lieber als Saturdays for Tin Foil Hats

©vousvoyez
Proteste gegen die Maßnahmen gab es ja eigentlich schon ziemlich schnell nach Beginn des ersten Lockdowns. Richtig groß wurden Bewegungen wie "Querdenken" allerdings um den Sommer 2020 - der Höhepunkt der Proteste waren sowohl der versuchte "Sturm" auf den Reichstag in Berlin Ende August dieses Jahres und die #allesdichtmachen-Aktion auf YouTube im April dieses Jahres. Aktuell scheint jedoch in der Querdenker-Bubble Katerstimmung angesagt - die Pandemie ist aktuell hauptsächlich ein Problem für Ungeimpfte; innerhalb der Bewegung herrscht Streit und man beschuldigt sich gegenseitig; viele derer, die sich von ihren unkritischen Anhängern großzügig mit finanziellen Schenkungen versorgen ließen, haben sich ins Ausland abgesetzt, während andere immer verzweifelter um noch mehr Geld betteln; und einigen scheint langsam zu dämmern, dass sie sich die längste Zeit haben verarschen lassen. Natürlich beweisen nur die wenigsten die Größe, dies auch zuzugeben: Meistens sind die anderen schuld, weil sie dumm sind und nicht "aufwachen" wollen, weil sie "es" nicht kapiert hätten und ihnen nicht zuhören wollen. Man könnte schon fast Mitleid mit ihnen haben, wenn das nicht größtenteils Menschen wären, die erwachsen genug sein sollten, um zu wissen, dass das eigene Handeln auch Konsequenzen hat - und dass es nicht zielführend ist, all diejenigen, die man eigentlich überzeugen will, gleich einmal für dumm zu erklären. Zu erkennen, dass man die ganze Zeit den falschen Leuten hinterhergelaufen ist und das auch zuzugeben, erfordert halt nun mal Charakter - aber wer dies schafft, das muss ich auch dazu sagen, verdient tatsächlich Hochachtung.

Ich denke, spätestens seit den Lockdowns sollte auch der/die/das Langsamste begriffen haben, dass mit Social Media die Grenzen zwischen der analogen und der digitalen Welt zunehmend weniger definiert sind. Im Prinzip sollte dies bereits seit Beginn des Arabischen Frühlings Ende 2010 erkennbar sein - aber vor allem die ältere Generation scheint die politische und gesellschaftliche Macht des Internets noch viel zu lange unterschätzt zu haben. Entsprechend ist die digitale Welt, wenn auch kein rechtsfreier, anonymer Raum, immer noch eine mit viel zu wenig und zudem häufig noch ziemlich willkürlichen Regeln. Dies fördert natürlich toxisches Verhalten - beispielsweise die Hasskultur. Und die Tendenz, nicht nur alles zu kritisieren (was ja durchaus wünschenswert ist), sondern auch der Meinung zu sein, der eigene Standpunkt sei der einzig richtige. Vor allem aber auch den Mechanismus, sich selbst zu erhöhen, indem man auf andere herabblickt. Natürlich ist nicht das Internet schuld, dass es solche Verhaltensweisen überhaupt gibt - Fernsehsendungen wie Frauentausch oder die Nachmittags-Talkshows aus den Neunzigern erfüllten schon zuvor diesen Zweck. Es ist die Art und Weise, wie unser Kapitalismus schon seit Jahrzehnten funktioniert - mein Auto ist größer als deines, meine Kleidung sieht besser aus als deine, mein Leben ist toller als deines. Im Prinzip gibt es das wohl schon, seit es Menschen gibt - häufig reicht schon das Aussehen, um sich selbst zu überhöhen und andere zu erniedrigen, denken wir nur an Rassismus. Warum aber tun wir das? Nun, die Antwort ist eigentlich ganz einfach - wir wollen unsere eigenen Fehler verschleiern, indem wir auf den anderen zeigen und sagen: "Ich bin vielleicht nicht perfekt, aber der da ist noch viel schlimmer!" Klar - das lernen wir ja schon im Kindergarten. Und diese Mechanismen greifen auch schon lange in sozialen Netzwerken - und machen mitunter einem Menschen das Leben zur Hölle. Andererseits gibt es dann aber auch wieder welche, die sich durchaus bewusst sind, dass man auch von negativer Aufmerksamkeit profitieren kann - und dies auch forcieren. Und es gibt den Drachenlord - den meistgehassten YouTuber im deutschsprachigen Raum. Der letzte Woche zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt wurde. Die Hoffnung, dass die Geschichte damit zu Ende ist, hat sich bisher allerdings nicht erfüllt - denn der Prozess soll noch einmal aufgerollt werden. Aber wer ist der Drachenlord eigentlich, und warum ist um ihn so ein Hype entstanden?

Rainer Winkler erstellte im Jahr 2011 seinen eigenen YouTube-Kanal und veröffentlichte dort eigens produzierte Videos in der Hoffnung, zu Geld und Ruhm zu gelangen - an sich nichts Besonderes, das haben viele schon vor ihm gemacht. Auch die Videos waren nicht so besonders - es ging hauptsächlich um Metal und Videospiele, bisweilen plauderte der "Drachenlord", wie er sich nennt, auch über sein Privatleben, den Tod seines Vaters und das problematische Verhältnis zum Rest der Familie sowie Mobbing in der Schule. Nach wie vor lebt er alleine in seinem Elternhaus, das mittlerweile ziemlich heruntergekommen ist, in einem kleinen Nest in Mittelfranken, nach dem Besuch einer Förderschule hat er kaum berufliche Perspektiven. Eigentlich die typische gescheiterte Existenz. Auch seine äußere Erscheinung wirkt nicht besonders ansprechend - er ist stark übergewichtig, wirkt meistens nicht sehr gepflegt und trägt am liebsten Metal-Shirts. In Kombination mit seinem breiten fränkischen Dialekt und der Tatsache, dass er offensichtlich psychisch und kognitiv beeinträchtigt ist und wohl auch keine konstruktive Unterstützung hat, ist er so natürlich die ideale Zielscheibe von Spott und Hohn. Und das erhielt er auch ziemlich bald - irgendwann riefen seine Videos Kritiker auf den Plan, die ihrer Ablehnung in den Kommentaren Ausdruck verliehen. Rainer Winkler a. k. a. der Drachenlord ließ sich nur allzu leicht von ihnen provozieren, und so versammelte er bald eine Gemeinschaft von "Hatern", oder "Haidern", wie sie sich mit fränkischem Akzent gerne nennen, auf seinem Kanal. Sie machten sich über sein Aussehen, seine Art zu sprechen, seine mangelnden intellektuellen Fähigkeiten lustig. Er zahlte mit gleicher Münze zurück, ließ immer wieder unüberlegte, bisweilen provokante Aussagen fallen - so beantwortete er etwas zu offenherzig Fragen über sein Intimleben, äußerte sich gerne sexistisch, rassistisch und antisemitisch, bezeichnete den Holocaust als "nice" und verglich im letzten Jahr seine Situation mit jener der Opfer des Amoklaufs in Wien. Die Kommentare unter seinen Videos wurden immer abfälliger, beidseitig sank das Niveau immer tiefer unter die Gürtellinie, und am Ende war nicht mehr auszumachen, wer hier eigentlich agiert und wer reagiert. Das Spiel ging einfach immer weiter - und dauert bis heute immer noch fort, mal mehr, mal weniger.

Im Jahr 2014 beging Rainer Winkler schließlich einen fatalen Fehler: Er gab seinen "Hatern" seine Wohnadresse bekannt, nachdem seine Schwester von einem anonymen Anrufer belästigt worden war, und forderte sie auf, zu ihm zu kommen. Auf diese Weise gelangte die Hasswelle gegen ihn von der digitalen in die analoge Welt: Bis heute fahren täglich Leute aus dem gesamten deutschsprachigen Raum in das Vierzig-Seelen-Dorf, um den Drachenlord zu drangsalieren. Für sie ist es eine Art Spiel, und tatsächlich bezeichnen sie ihre Methode, den Mann so lange zur Weißglut zu treiben, bis er sein Haus verlässt, als "Drachengame". Schon bald beeinträchtigte ihre ständige Anwesenheit jedoch nicht nur den Drachenlord selbst, sondern auch die anderen Leute in der Gegend massiv. Mehrmals täglich wird die Polizei gerufen, die Dorfbewohner kommen seit mittlerweile acht Jahren nicht mehr zur Ruhe, Sachbeschädigungen sind an der Tagesordnung. Im Jahr 2016 stand einer der "Hater" vor Gericht, nachdem er permanent unerwünschte Bestellungen an Winklers Adresse schickte und in seinem Namen Notrufe tätigte, so dass bisweilen ein Großaufgebot an Einsatzkräften ausrückte - auch andere "Anti-Fans" kassierten Anzeigen und Strafen. Es wurden permanent Verfügungen ausgesprochen, um die "Hater" von dem Dorf fernzuhalten, aber diese werden bis heute immer wieder umgangen. Im August 2018 organisierten sich Hunderte von "Hatern" trotz Versammlungsverbots zu einer regelrechten Hass-Demo vor seiner "Drachenschanze", wie sein Haus genannt wird - teilweise waren sie sogar aus dem Ausland angereist. Manche "Hater" haben inzwischen ganze Websites und Kanäle online gestellt, die sich nur damit beschäftigen, den Drachenlord zu demütigen. Für einige von ihnen scheint diese Art von Mobbing gegen eine einzelne Person zu ihrem Lebensinhalt geworden zu sein.

Im Jahr 2019 wurde Rainer Winkler zu sieben Monaten Haft auf Bewährung verurteilt, nachdem er einen seiner ungebetenen Besucher mit Pfefferspray attackiert hatte. Letzte Woche dann waren es zwei Jahre Haft ohne Bewährung - wegen Beleidigung, Körperverletzung und Verstoßes gegen die Bewährungsauflagen, nachdem er Polizisten beschimpft, mit einem Backstein nach einem seiner "Hater" geworfen und einen anderen mit einer Taschenlampe verletzt hatte. In ganz Deutschland und auch hier in Österreich berichten Medien über den Prozess - auf diese Weise wurde ich darauf aufmerksam und beschloss, mir den Sachverhalt einmal genauer anzusehen. Mir fiel auf, dass der Prozess offenbar großen Andrang fand - die "Hater" versammelten sich vor dem Gerichtsgebäude, ein paar von ihnen waren auch im Gerichtssaal zugegen, allerdings mit dem Verbot, dazwischenzurufen oder zu filmen. Rainer Winkler zeigte sich geständig, kündigte an, sein Haus zu verkaufen und wegzuziehen - außerdem wollte er seine Online-Aktivitäten deutlich reduzieren. Nun, zumindest Letzteres hielt er nicht einmal 24 Stunden durch - kaum kehrte er in seine "Drachenschanze" zurück, begann er schon wieder zu streamen, und auch seine Aussagen lassen Zweifel an seiner vor Gericht gezeigten Reue aufkommen. Nun soll der Fall wieder aufgerollt werden - was einerseits bedeutet, dass das "Drachengame" immer noch nicht zu Ende ist, andererseits, dass seine Haftstrafe im schlimmsten Fall noch verlängert werden könnte, denn der Staatsanwaltschaft sind zwei Jahre nicht lang genug.

Nun sind die Meinungen, was diese Geschichte angeht, natürlich ziemlich gespalten - die einen finden es empörend, dass hier wieder mal ein Mobbing-Opfer bestraft wird, während die Täter nicht zur Verantwortung gezogen werden; die anderen argumentieren, dass er ja schließlich selber schuld an der Misere sei und deswegen auch kein Mitleid verdient hätte. Nun, Rainer Winkler hat mehrere Straftaten begangen und war zudem noch vorbestraft - das Urteil musste hier also gesprochen werden. Trotzdem verdient er meiner Ansicht nach auch Mitgefühl - auch wenn seine vom Gericht bescheinigte psychische Erkrankung in Kombination mit Intelligenzminderung offenbar nicht ausreicht, um hier von verminderter Schuldfähigkeit ausgehen zu können. Generell finde ich allerdings, dass keine der beiden Parteien sich der Verantwortung entziehen kann. Und ich bin mir natürlich bewusst, dass ich mit meinem Artikel dem Thema eine Relevanz verschaffe, die es eigentlich nicht verdient hat - sofern man bei einem so reichweitenschwachen Blog überhaupt von Relevanz sprechen kann. Das Ding ist halt nur - das Phänomen "Drachenlord" beschäftigt nicht zum ersten Mal die Internet-Community. Und ich bin weder ein Fan noch ein Hater - bisher habe ich mich in dieser Sache wohlweislich zurückgehalten und sie so gut wie möglich ignoriert. Aber inzwischen ist das Thema schon so groß, dass man es einfach nicht mehr ignorieren kann, und deswegen möchte ich mich dazu äußern.

Eines muss klar sein: Rainer Winkler spielt, wie schon gesagt, in dieser Angelegenheit keineswegs eine passive Rolle: Er reagiert auf jede Kritik und ist dabei nicht zimperlich. Er hat seine Adresse aus freien Stücken preisgegeben und ist mehrmals durch sehr provokante Äußerungen aufgefallen. Sein Verhalten verrät keinerlei Unrechtsbewusstsein, und er scheint auch nicht zu begreifen oder begreifen zu wollen, dass er durchaus Hilfe nötig hätte, jedenfalls hat er alle Angebote in der Richtung bisher ausgeschlagen. Obwohl klar ist, dass er und seine Nachbarn keine Ruhe haben werden, solange er im Internet so präsent ist, und obwohl ihm das schon häufig nahegelegt wurde, macht er keine Anstalten, seine Videos und Streams zu reduzieren oder gar einzustellen - im Gegenteil, das erste, was er macht, sobald die Verhandlung vorbei ist, sind weitere Streams. Und sein Erscheinungsbild bei der Verhandlung - löchriges Bandshirt, Jogginghose, ausgetretene Turnschuhe und ungepflegte Frisur - habe ich auch nicht so richtig verstanden, immerhin bot er auf diese Weise ja noch mehr Angriffsfläche. Manchmal könnte man tatsächlich auf die Idee kommen, dass ihm diese Art der Aufmerksamkeit gefällt, wie bei einem Kind, das seine Eltern nur durch Fehlverhalten auf sich aufmerksam machen kann. Oder er kapiert es einfach wirklich nicht und hat auch niemanden, der ihm das begreiflich machen kann.

Aber ebenso wenig, wie Herr Winkler gezwungen wird, seine Videos zu machen und sich provokant zu äußern, werden auch seine "Hater" gezwungen, zu ihm zu fahren und ihn zu belästigen. Ich habe im Zuge meiner Recherche einige Twitter-Profile dieser "Hater" ausfindig gemacht, aber wirklich plausibel erklären konnte keiner, was er in diesem kleinen Nest vor dem Haus eines wildfremden Menschen überhaupt zu suchen hat. Viele begnügen sich damit, jede Kritik abzuschmettern mit dem Hinweis, dass man ja keine Ahnung von dem "Game" hätte und worum es überhaupt geht - wer sich also nicht zehn Jahre lang mit jedem Schnipsel aus dem Leben des Drachenlord beschäftigt hat, darf dazu gar keine Meinung haben. Interessant! Andere wiederum rechtfertigen ihre dortige Anwesenheit mit "Zivilcourage" - immerhin sind seine häufig feindseligen Aussagen ja trotz allem nicht wegzuerklären. Echt jetzt? Ich frage mich, ob diese Leute ihre "Argumente" tatsächlich selbst glauben: Wenn es wirklich nur darum geht, gegen Sexismus oder Holocaust-Verharmlosung vorzugehen, warum sucht man dann ausgerechnet eine labile Person auf, die ohnehin keiner ernst nimmt, anstatt sich mit jenen anzulegen, die bereits seit mehreren Jahren zündeln, ganz bewusst Menschen aufhetzen und die Grenzen des Sagbaren immer weiter verschieben? Oder ist man dafür möglicherweise zu feige und schießt sich deswegen lieber auf jemanden ein, der mit seinem Aussehen, seinem Verhalten und seinen Lebensumständen ohnehin schon ein leichtes Opfer ist? Es geht ganz augenscheinlich nicht um "Zivilcourage" - es geht einzig und allein darum, den Mann bis aufs Äußerste zu reizen. Oder was hat das Werfen von Feuerwerkskörpern oder das Auftauchen vor dem Haus mit Masken, die das Gesicht von Winklers verstorbenem Vater zeigen, mit Kritik an seinen Provokationen zu tun? Ganz ehrlich: Wer würde nicht irgendwann einmal ausrasten, wenn jahrelang Tag und Nacht irgendwelche Fremden um dein Grundstück herumtigern und ständig darauf aus sind, dich zu provozieren und dir irgendeine lustige Reaktion zu entlocken, über die sie sich dann auslassen können? Abgesehen davon sind ja auch so manche der "Hater" keineswegs solche, die sich im Kampf gegen Rechts besonders hervorgetan haben - viele kokettieren sogar selbst mit rechtsradikalem Gedankengut, wie etwa jener Typ, der zusammen mit seinen Freunden dem Drachenlord per Livestream einen üblen Streich gespielt hat, und ich habe auch so einige Tweets entdeckt, in der "Hater" ihren Phantasien, was sie mit der "geilen Richterin" alles anstellen würden, freien Lauf ließen.

Ich will damit nicht relativieren, dass der Typ allen Anschein nach absolut kein Unrechtsbewusstsein hat, jegliche Hilfe ausschlägt und keinerlei Interesse zeigt, diese Farce zu beenden. Und mir ist vollkommen bewusst, dass sich an der Situation wahrscheinlich nie etwas ändern wird, solange Herr Winkler nicht bereit ist, sich helfen zu lassen. Andererseits generiert er mit seinen "Hatern" nicht nur Aufmerksamkeit, sondern verdient auch Geld an ihnen - sei es, dass sie seine Videos schauen und ihm damit Reichweite verschaffen, sei es, dass andere ihm aus Mitleid ein paar Spenden zukommen lassen. Und ich frage mich ehrlich gesagt auch, was daran so geil ist, sich permanent von einem Menschen, den man als intellektuell unterlegen ansieht, durch Videos triggern zu lassen, die zu schauen einer niemand zwingt, um dann kilometerweit in sein Heimatdorf zu fahren und dort Terror zu machen. Irgendwie scheinen Drachenlord und "Hater" eine merkwürdige Symbiose zu leben - und die Situation ist auch denkbar verfahren. Denn die Frage ist natürlich, wie Herrn Winklers Leben nach YouTube weitergehen soll - er ist im gesamten deutschsprachigen Raum bekannt wie ein bunter Hund und auch nicht leicht zu übersehen, was natürlich bedeutet, dass sein zweifelhafter Ruf ihm überallhin folgen wird. Andererseits ist natürlich die Frage, was es abseits von den Videos überhaupt für Perspektiven gibt - denn abgesehen von der fehlenden Ausbildung ist natürlich die Frage, ob irgendein Arbeitgeber bereit ist, jemandem eine Chance zu geben, der so viel negative Aufmerksamkeit generiert hat. Gleichzeitig können wir bei seinen "Hatern" ja auch das beobachten, was wir schon von dem allseits beliebten Trash-TV kennen - sie schauen sich Drachenlord-Videos an und fühlen sich ihm überlegen, sowohl intellektuell als auch moralisch. Durch das Betrachten der Videos werten sie sich also selbst auf - und machen die Person, der sie zusehen, gleichzeitig durch ihre Abwertung zu einem Objekt. Auf diese Weise versuchen sie sich und anderen auch einzureden, dass das in Ordnung ist, was sie tun - immerhin reagieren sie ja nur auf seine Aussagen.

Die Drachenlord-Geschichte ist das beste Beispiel für das, was Nick Srincek bereits Anfang des letzten Jahrzehnts als "Plattformkapitalismus" bezeichnet hat: Die eigentliche Kontrolle übernimmt hier in Wirklichkeit weder der Drachenlord noch die Hater - sondern die Plattformen YouTube und Twitch selbst bestimmen die Spielregeln. Es gab ja vor zwanzig Jahren mal eine Geschichte, die ein klein wenig an diese hier erinnert: In der Gerichtsshow Richterin Barbara Salesch, die zu Anfang noch echte Fälle verhandelte, amüsierte die Hausfrau Regina Zindler mit ihrem skurrilen Nachbarschaftsstreit und dem sächsischen Dialekt den Fernsehmoderator Stefan Raab so sehr, dass er in seiner Sendung TV Total ein selbst komponiertes Lied vorstellte, in dem er die von Zindler ausgesprochenen Worte "Maschendrahtzaun" und "Knallerbsenstrauch" einbaute. Ich muss dazu sagen, ich habe zu jener Zeit, als das Lied bekannt war, mal irgendetwas bei Libro gesucht, während dieses Lied in Dauerschleife aus den Lautsprechern dröhnte, und das hat mich so irre gemacht, dass Maschen-Draht-Zaun in meiner Liste der meistgehassten Lieder ziemlich weit oben steht, aber das nur nebenbei. Jedenfalls zogen auch Zindler und ihr Nachbar damals massenhaft Schaulustige an, an vorderster Front dabei waren die Boulevard-Medien, die die Grundstücke buchstäblich Tag und Nacht belagerten. Der Unterschied war allerdings, dass in dem Dorf wieder Ruhe einkehrte, sobald die Fernsehteams abgezogen waren - eine solche Kontrollinstanz gibt es im digitalen Zeitalter jedoch nicht mehr. Und diese Dezentralisierung bewirkt, dass die Geschichte, die durch eine Ansammlung an Zufällen entstand, immer weitergeht - und ich ein bisschen die Befürchtung habe, dass das Ganze irgendwann einmal in einer Katastrophe endet, weil keiner wirklich gewillt ist, aufzuhören. Und weil eben die Akteure hier in Wirklichkeit nur Teil einer Dynamik sind, die in Wirklichkeit von den Internetplattformen vorgegeben werden: weil nämlich sie die Struktur festlegen, in der all dies seinen Lauf nimmt, und weil sie auch diejenigen sind, die von all dem am meisten profitieren.

Sowohl YouTube und Twitch als auch Facebook, Twitter und Telegram generieren ihren Profit hauptsächlich aus destruktiven Verhaltensmustern - Wolfgang M. Schmitt geht sogar so weit, das mit der Rüstungsindustrie zu vergleichen. Das klingt vielleicht weit hergeholt, aber erinnern wir uns doch nur daran, wie viel destruktive Energie diese Plattformen schon freigesetzt haben und wie häufig schon tatsächlich Leute zur Waffe gegriffen haben, nachdem sie auf einschlägigen Seiten radikalisiert wurden. Und auch das "Drachengame" funktioniert ähnlich: Die "Hater" rechtfertigen ihr Verhalten damit, dass Herrn Winklers Aussagen absolut inakzeptabel sind; dieser wiederum rechtfertigt diese damit, dass er seit Jahren so extrem belästigt wird. Erinnern wir uns doch nur daran, wie Aussagen durch die Zündelei der Rädelsführer von Querdenken & Co. immer radikaler wurden, und wie die Ermordung an einem jungen Studenten, der sich im Prinzip nur was dazuverdienen wollte, damit gerechtfertigt worden ist, dass er etwas gefordert hatte, was für die coolen Rebellen ein Ding der Unmöglichkeit ist, nämlich ein paar Minuten lang eine Maske zu tragen. Erinnern wir uns daran, dass ein paar Einschränkungen schon ausreichten, um Leute dazu zu bringen, auf die Straße zu gehen und die Hinrichtung von Politikern und Wissenschaftlern zu fordern. Wenn ich mir all diese Ereignisse betrachte, wird mir eines klar: Wir müssen dringend eine Lösung finden, wie wir in Zukunft mit dem Internet umgehen - und vor allem, wie wir mit Menschen ohne Medienkompetenz umgehen. Menschen, die sich auf einschlägigen Websites radikalisieren - und gescheiterte Existenzen wie den Drachenlord, die mit den Möglichkeiten des Internets nicht verantwortungsvoll umgehen können. Ich habe es schon einmal geschrieben, ich wiederhole es noch einmal, und dass die sudanesische Schriftstellerin Tsitsi Dangarembga dies ebenfalls zur Sprache brachte, zeigt mir, dass ich richtig liege: Es ist höchste Zeit für eine neue Aufklärung. Und diese muss auch unseren Umgang mit den digitalen Medien mit einschließen. Juste du courage!

vousvoyez
                     https://www.youtube.com/watch?v=JeIjvCSuO0U

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